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2 Gesundheit und Krankheits­interpretationen

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Der Versuch einer adäquaten Interpretation von Krankheitsphänomenen ist im Laufe der Geschichte immer wieder vorgenommen worden.6 Er entspricht dem Bedürfnis des Menschen nach einem tieferen Verständnis von Krankheiten. Geht man in der biblisch-abendländischen Geschichte zurück – nur diese wird hier betrachtet –, dann zeigt sich, dass auf Fragen nach einer adäquaten Interpretation von Krankheiten unterschiedliche Antworten gegeben wurden.7

In Frühkulturen (bis hin zum Neuen Testament) war man der Auffassung, dass böse Geister und Dämonen den Menschen überfallen, besetzen und erkranken lassen. Im Alten Testament ging man davon aus, dass Gott die Krankheiten schickt, er sie als Heilender aber auch wieder nehmen kann. Neben einer Schuld-Strafe-Äquivalenz wurde ihr Sinn auch in Erziehungs-, Prüfungs- oder Läuterungsabsichten Gottes gesehen. Krankheiten bekamen ausdrücklich religiöse Bedeutung.8

Im Neuen Testament wird Krankheit ebenfalls vor dem Hintergrund der Beziehung des Menschen zu Gott gesehen. Wenn gesagt wird, dass der Engel des Herrn Herodes Agrippa schlägt, der dann, von Würmern zerfressen, stirbt (Apg 12,23), dass diejenigen, die den Herrn auf die Probe stellen, durch Schlangenbisse umkommen (1 Kor 10,9), dass Paulus ein Stachel ins Fleisch getrieben wird – ein Bote Satans, der ihn mit Fäusten schlagen soll –, damit er sich nicht überhebt (2 Kor 12,7), dann zielt das Interesse der Darstellungen auf die existenziellen Erfahrungen, welche mit Krankheiten verbunden sind. Rein natürliche Krankheitsursachen werden nicht angeführt, es fehlt eine objektivierend-wissenschaftliche Betrachtung. Ferner spielt die Annahme einer Besessenheit durch Dämonen eine bedeutsame Rolle. Umgekehrt wird Heilung auf göttliches Handeln und den Glauben des Menschen zurückgeführt.

Nicht selten wird Krankheit als Folge der Sünde angesehen (Joh 5,14; 1 Kor 11,30 ff.), doch ist es dem Menschen verwehrt, eigenmächtig den Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit herzustellen (Joh 9,1–3). Krankheiten werden damit einer eindeutigen menschlichen Interpretation entzogen. Dem Betroffenen soll nicht zusätzlich die Last einer Schuld aufgebürdet werden. Hingegen dürfen sich die Gesunden nicht in der falschen Gewissheit wiegen, der Umkehr nicht zu bedürfen. Der Zusammenhang Sünde – Krankheit kann gegeben sein, eine eindeutige Aussage darüber ist aber dem Menschen verwehrt. Wichtiger als die Frage nach der Ursache ist die nach der finalen Bedeutung. Diese kann darin bestehen, dass die Herrlichkeit Gottes anhand von Heilungen offenbar wird (Joh 9,3), oder aber sie liegt – wie im Fall des Paulus – im „pädagogischen“ Bereich: Er soll sich wegen der an ihn ergangenen Offenbarungen nicht überheben (vgl. 2 Kor 12,7).

Im außerbiblischen Bereich will Hippokrates eine bestimmte, aus dem Gleichgewicht geratene Säftekonstellation (Humoralpathologie) für Krankheitsentstehungen verantwortlich machen,9 und der griechisch-römische Arzt Galen sucht auf der Basis seiner ersten Entdeckungen zum Blutkreislauf – Grundlage für die wissenschaftliche Medizin der Neuzeit10 – die Bewegungen des Blutes therapeutisch zu nutzen. Im Mittelalter werden Krankheiten wiederum in religiösem Kontext gesehen und zwar im „Dienst“ am religiösen Heil des Menschen.11 Als Ursachen kommen Besessenheit durch den Teufel oder Hexerei in Betracht und Krankheiten werden als Strafe Gottes angesehen.12

Der Mensch wird im Mittelalter – besonders bei Hildegard von Bingen – als in Einheit mit dem Kosmos stehend betrachtet. Da Krankheiten im Kontext des menschlichen Gottesverhältnisses gesehen werden, kann sich eine gestörte Harmonie zwischen Mensch und Gott in Krankheiten ausdrücken. Gesundheit ist daher nicht ohne innere Umkehr und Wiederherstellung dieser Harmonie zu erreichen. Die Bewegung von der Gesundheit zur Krankheit und von der Krankheit zur Gesundheit wird als Abbild des menschlichen Weges vom Paradies zum Erdendasein und von diesem zurück in die Ewigkeit gesehen. Christus ist als Christus medicus letztlich der Arzt des Menschen.13

Mit Beginn der Neuzeit, dem Entstehen eines neuen Weltbildes und dem Aufkommen der experimentellen Naturwissenschaft ändert sich das Bild vom Menschen. Er fällt, religiös gesehen, aus der Einheit mit dem Kosmos heraus. Auf der Basis fortschreitender naturwissenschaftlicher Erkenntnis – vornehmlich als Folge des mechanistischen Weltbildes Isaac Newtons – wird auch in der Medizin das zunächst von René Descartes vorgestellte und von Julien-Offray de Lamettrie weitergeführte Maschinenmodell vom Menschen im 18. Jahrhundert zum Paradigma von Krankheit und Gesundheit. Strukturelle Veränderungen im menschlichen Körper, die man an Leichen feststellen konnte, werden rückwirkend auf lebende Menschen extrapoliert und für Krankheitsentstehungen verantwortlich gemacht (Strukturpathologie).14 Materielle Deformationen gelten als Krankheitsursachen.

Als Gegenbewegung zu dieser statischen Sicht vom Menschen tritt bereits im 17. Jahrhundert eine vitalistische Strömung auf, die dem Menschen ein inneres Lebensprinzip, eine Art „Seele“ zubilligt.15 Jedoch stehen das 18. und 19. Jahrhundert weiterhin unter dem Eindruck einer mechanistischen Vorstellung vom Menschen. Die Entdeckung von Bakterien und anderen Mikroorganismen ermöglicht neue Interpretationen von Krankheiten.16 Schließlich werden im 20. Jahrhundert funktionelle Gründe (Funktionspathologie) für die Entstehung von Erkrankungen verantwortlich gemacht. Man geht davon aus, dass die Funktionen von Organen oder von bestimmten Regulationsmechanismen gestört sind und dadurch Krankheiten entstehen. Als Ursache solcher Funktionsstörungen werden unterschiedliche Parameter genannt: virale und bakterielle Infektionen, genetische Dispositionen, Schädigungen durch radioaktive Strahlen und schließlich auch seelische Ursachen.

Es war Sigmund Freud, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts derartige seelische Faktoren als Ursache für bestimmte Erkrankungen verantwortlich machte. Innerseelische und zwischenmenschliche Konflikte, die zu Verdrängungen in dem von Freud postulierten Unbewussten führen, drücken sich seiner These nach in Krankheitsphänomenen aus. Mit dieser Annahme wurden – wissenschaftlich gesehen – erstmals seit Beginn der Neuzeit immaterielle Gründe für Krankheitsentstehungen angeführt. Während Freud sich vornehmlich mit neurotischen Erkrankungen befasste, begann sich die aus seinen Erkenntnissen hervorgehende psychosomatische Medizin auch mit organischen Erkrankungen zu beschäftigen. Sie maß den von Freud angesprochenen Konflikten auch Bedeutung für die Entstehung von körperlich-organischen Erkrankungen zu.

Die psychosomatische Medizin, die bis heute über keine einheitlichen Konzepte verfügt, macht seelische Konflikte zusammen mit biologischen und soziologischen Komponenten für Krankheitsentstehungen verantwortlich. Es werden bio-psycho-soziale Konzepte favorisiert. Mit dieser Konzeption bemüht sich die psychosomatische Medizin, die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise des „Menschen als Maschine“ zu übersteigen und diesen in seiner leib-seelischen Einheit im Kontext seiner Umgebung ernst zu nehmen. Sie strebt damit nach einer ganzheitlichen Sicht des Menschen. Ob diese Ganzheitlichkeit erreicht wird, ist im Laufe der folgenden Ausführungen zu klären.

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