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Anke Kramer Nachhaltige Blütenlese Aspekte einer Literaturdidaktik der Pflanzen (Tieck, Droste-Hülshoff, Olfers) 1. Einleitung
ОглавлениеEine Didaktik, die sich kulturelle Nachhaltigkeit zum Ziel setzt, muss ihr Interesse auf die Pflanzen richten. Pflanzen sind mit Nachhaltigkeit schon begriffshistorisch eng verknüpft, denn der Begriff der Nachhaltigkeit wurde durch Hans Carl von Carlowitz’ forstwissenschaftliche Schrift Sylvicultura oeconomica (1713) entscheidend geprägt (vgl. u.a. Schlechtriemen 2019, 29–34). Pflanzen sind die Basis des Lebens auf der Erde; ohne Pflanzen gäbe es keine Tiere und keine Menschen. Das aktuelle Massensterben der Pflanzen erfährt allerdings deutlich weniger öffentliche Aufmerksamkeit als das der Tiere. Zu einem großen Teil liegt dies sicherlich an einem Phänomen, das „Plant blindness“, Pflanzenblindheit, genannt wird (Wandersee & Schussler 1999): das weitverbreitete Unvermögen von Menschen, Pflanzen angemessen wahrzunehmen und wertzuschätzen. Ziel einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) muss eine verstärkte Wahrnehmung und Wertschätzung von Pflanzen sein, die auch deren kulturelle Dimension sichtbar macht und dadurch Grundlagen und Motivationen für nachhaltiges Handeln schafft.
Die Literaturdidaktik kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten; auf welche Weise dies geschehen kann, zeigen die folgenden Überlegungen auf. Literarische Entwürfe von Pflanzen beleuchten deren ästhetische Dimensionen, machen ihren Anteil am Handeln sichtbar, reflektieren das Verhältnis zwischen Pflanzen, Menschen und den übrigen Wesen der Natur, machen auf das Wissen aufmerksam, das Pflanzen übertragen, und rücken die ethischen Fragen ins Bewusstsein, die mit ihnen verknüpft sind. Ein Literaturunterricht, der an kultureller Nachhaltigkeit orientiert ist, kann, so argumentiere ich, diesen Anregungen, Verknüpfungen und Problemen gezielt nachgehen und Schülerinnen und Schüler dadurch anregen, Pflanzen in ihren materiellen und semiotischen Zusammenhängen mit den übrigen, menschlichen und nichtmenschlichen, Wesen der Natur wahrzunehmen. Zugleich kann er Strategien bereitstellen, um komplexe literarische Texte zu erfassen und unter einer aktuell relevanten Perspektive neu zu lesen. Grundlagen dafür sind die Begriffe und Methoden der kulturwissenschaftlichen Pflanzenforschung (Plant Studies) und der themenorientierten Literaturdidaktik.
Dieser Beitrag stellt drei literarische Entwürfe von Pflanzen aus dem langen 19. Jahrhundert vor, die sich für die Lektüre mit Schülerinnen und Schülern eignen, und befragt sie aus der Perspektive der aktuellen kulturwissenschaftlichen Pflanzenforschung auf ihr Potenzial für eine Didaktik kultureller Nachhaltigkeit hin: Ludwig Tiecks Erzählung Die Elfen, die 1811 für den Phantasus entstand; Sibylle von Olfers’ Bilderbuch Etwas von den Wurzelkindern (1906); Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht Der Knabe im Moor (1841/42). Aus der Vielzahl möglicher Aspekte, unter denen die Pflanzen in der deutschsprachigen Literatur im Kontext einer Literaturdidaktik der Pflanzen gewinnbringend zu betrachten wären, greife ich dabei die der anthropomorphen Darstellung von Pflanzen heraus. Anthropomorphe Pflanzendarstellungen können im Sinne des neueren Ecocriticism ‚gegen den Strich‘ als dem Anthropozentrismus entgegenwirkende Textverfahren gelesen werden (z.B. Iovino & Opperman 2012, 82; Moore 2008, 11). Solche Lesarten lenken die Aufmerksamkeit auf Ähnlichkeiten zwischen Pflanzen und Menschen, auf agentielle Potenziale von Pflanzen, ihren zentralen Stellenwert im Ökosystem als Lebensgrundlage der Tiere und Menschen sowie ihre ästhetischen Besonderheiten.