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5. Annette von Droste-Hülshoff: Der Knabe im Moor (1841/42)
ОглавлениеDie Interaktionen menschlicher und nichtmenschlicher Wesen erkundet Annette von Droste-Hülshoff systematisch in ihren Naturgedichten (vgl. Detering 2020; Kramer 2021a). Darin stellt sie Pflanzen und Tiere nicht isoliert, sondern in ihren jeweiligen Umwelten dar, zu denen Wasser, Wind, Sonne, Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen und auch die Geister gehören. In Drostes wohl berühmtestem Gedicht, Der Knabe im Moor, nehmen die Pflanzen des Moors auf unheimliche Weise menschliche Züge an.
O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Haiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritt ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt,
O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!
(Droste-Hülshoff 1985, S. 67f., v. 1–8)
Wenn „die Ranke häkelt am Strauche“, „[w]enn aus der Spalte es zischt und singt“, wenn (in der dritten Strophe) das „Gestumpf “ am Ufer hervor „starret“ und die Föhre „[u] nheimlich nicket“, dann sind das Moor und seine Vegetation menschenähnlich beseelt, bevor noch die Geräusche am „Hage“ und im „Geröhre“ als Äußerungen individueller und mit einem Narrativ verknüpfter Gespenster identifiziert werden. Die Grenzen zwischen menschenähnlich handelnden – singenden, starrenden, nickenden – Pflanzen und menschlichen Figuren verschwimmen auf unheimliche Weise. Die Geister haben teil an den Wechselbeziehungen in Drostes Poetik der Natur und sind mit den übrigen Wesen der Natur verwoben. Anstatt aber der Wildnis der Heide einen heimeligen Kulturraum entgegenzusetzen, macht Droste im Rückgriff auf Figuren des Volksglaubens die wilden, unheimlichen und unbeherrschbaren Kräfte sichtbar, die das Menschliche wie das Nichtmenschliche durchziehen.