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4 Anmerkungen zur Kontextualisierung von Komplexer Behinderung Tobias Bernasconi und Ursula Böing
ОглавлениеIn den vielen unterschiedlichen Begriffen, die für die Beschreibung und Benennung von Menschen mit Behinderung genutzt werden, spiegeln sich die Vorstellungen und Deutungen eines gesellschaftlich-kulturellen Gedächtnisses und eines in diesem Kontext geführten Diskurses wider. Die Feststellung einer Behinderung ist insofern immer an die Beobachtungsmöglichkeit einer Gesellschaft und den mit diesen Beobachtungen verbundenen Subjektivierungsprozessen geknüpft (Fritzsche 2018; Weisser 2005, S. 22). Kulturhistorisch betrachtet war und ist Behinderung dabei eingelagert in einen gesellschaftlichen Diskurs um Fähigkeiten und Erwartungen (Buchner et al. 2015; Merl 2019; Weisser 2005) und somit eine »Erfahrung […], die sich aus Konflikten zwischen Fähigkeiten und Erwartungen ergibt« (Weisser 2005, S. 16). Als »behindert« werden dann Personen bezeichnet, die den Erwartungen der Beobachtenden nicht entsprechen und deren Fähigkeiten aus dieser Beobachtungsperspektive heraus als »Nicht-Können« (Merl 2019) markiert werden.
Auch Bezeichnungen für Personen, die unter der Bedingung veränderter neuronaler und anderer körperlicher Strukturen und – sich möglicherweise kumulierender – unterschiedlicher Funktionsbeeinträchtigungen leben, werden aus dieser Beobachterperspektive heraus getroffen. Behinderung kann hier durch die Hinzuziehung weitere Adjektive zu einer »schweren« bzw. »schwersten« bzw. »mehrfachen« Behinderung oder wahlweise – in einer Kombination dieser Adjektive – zu einer »Schwerstmehrfachbehinderung« werden. In anderen, jüngeren Kontextualisierungen wird – wie in dieser Veröffentlichung – z. B. von »Komplexer Behinderung« (Fornefeld 2008a), von »hohem oder komplexem Unterstützungsbedarf« (Dieckmann et al. 2016) oder von »intensiver Behinderungserfahrung« (Schuppener 2011) gesprochen.
Der Begriff »Menschen mit Komplexer Behinderung« wurde von Fornefeld (2008b) mit der Intention in den Diskurs eingeführt, die Exklusionstendenzen und die »systembedingten Kontextfaktoren« (Fornefeld 2008b, S. 51) hervorzuheben, unter denen der so bezeichnete Personenkreis lebe. »Komplex« sei dabei nicht als Adjektiv zur Beschreibung von »Behinderung« zu verstehen, sondern diene als »Attribut der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung« (Fornefeld 2008b, S. 51).
Schuppener (2011) setzt unter Rückgriff auf das soziale Modell von Behinderung den Begriff der »intensiven Behinderungserfahrungen« (Schuppener 2011, S. 300) und beschreibt dies als »hohe[s] Risiko des Erlebens von Stigmatisierung und Exklusion« (Schuppener 2011, S. 300), denen der so bezeichnete Personenkreis ausgesetzt sei. Intensive Behinderungserfahrungen implizierten ein ständiges Risiko des »Nicht-verstanden-werdens« (Schuppener 2011, S. 301) und seien als »Lebensbewältigungskompetenz« (Schuppener 2011, S. 301) anzusehen.
Mit dem Begriff des hohen oder komplexen Unterstützungsbedarfes (Dieckmann et al. 2016; Weber 2016) wird der beobachtende Blick auf die Unterstützungsbedürftigkeit von Personen aufgrund unterschiedlicher Beeinträchtigungen im Kontext ihrer Lebenslage gerichtet. Unterstützung umfasse dabei »nicht nur die direkte Begleitung und Beratung einer Person im Alltag, sondern auch die Organisation der gesamten Lebensführung zusammen mit dem sozialen Netzwerk der Person« (Dieckmann et al. 2016, S. 62). Mit diesem Begriff soll insofern betont werden, dass der so bezeichnete Personenkreis nur mit ganzheitlicher Perspektive in der Verwobenheit individueller Bedürfnisse und Bedarfe und der damit einhergehenden prekären Lebenslage betrachtet werden kann. In dieser Perspektive zeigt sich auch, dass Teilhabe kein abstrakt-allgemeiner Zustand ist, sondern gleichsam als Kontinuum gesehen werden kann, dessen Pole Abhängigkeit auf der einen und weitgehende Möglichkeiten zur Selbstbestimmung auf der anderen Seite darstellen. Dabei gilt: Je abhängiger eine Person ist, desto wichtiger ist der Kontext bzw. sind positive unterstützende Kontextbedingungen zur Ermöglichung von Teilhabe. Gleichsam verweist dies auf die Verantwortung der unterstützenden Fachkräfte, von denen Sensibilität und Reflexivität einzufordern sind (Bernasconi 2022).
Neben den genannten Begriffen und den damit verbundenen Konnotationen existieren in Theorie und Praxis durchaus noch weitere Setzungen. Im Folgenden soll es jedoch weniger darum gehen, den Personenkreis definitorisch ein- oder abzugrenzen, indem vorhandene Begrifflichkeiten auf ihren terminologischen Gehalt hin überprüft oder gegeneinander abgewogen werden. Vielmehr ist intendiert, die diskursive Funktion dieser Begriffssetzungen in den Blick zu nehmen, um sich den zugrundeliegenden »Wahrnehmungs- und Wissenspraxen im Feld der Behinderung« (Weisser 2005, S. 8) anzunähern. Bezogen auf den Prozess der Benennung erscheinen die in verschiedenen Kontexten hervorgebrachten und genutzten Begriffe an sich weder »richtig« noch »falsch«, vielmehr entfalten sie ihre spezielle Konnotation erst im Zusammenhang mit den ihnen zugrundeliegenden Praktiken, sodass entscheidender der kritisch-analytische Blick auf eben diese Kontexte weiterhilft (Behrisch 2016, S. 3).
Die existierenden Begriffe sind folglich weniger als Beschreibung einer bestimmten Person oder eines Personenkreises zu sehen, sondern sie offenbaren vor allem Zuschreibungen aus der Beobachterperspektive. In Zuschreibungsprozessen können bestimmte Merkmale einer Person vom Beobachtenden als irritierend, fremd, möglicherweise bedrohlich oder ängstigend wahrgenommen werden (Weisser 2005, S. 37 ff.). Dies sind in der Regel keine abstrakten Merkmale, wie z. B. »Intelligenz« oder »Autonomie« bzw. die unterstellte Abwesenheit selbiger, sondern sehr konkrete, auf eine einzelne Person bezogene, beobachtbare »körperlich manifeste Abweichungen« (Weisser 2005, S. 36 f.), die sich im performativen, handlungspraktischen Vollzug, z. B. durch Bewegungen und Positionierungen im Raum, kommunikative Abläufe oder lautliche Äußerungen, darstellen und die die Erwartungen der Beobachtenden irritieren und »Abwehrstrategien« (Weisser 2005, S. 37 ff.) erzeugen. Beobachtenden Personen erscheint im handlungspraktischen Vollzug etwas konkret Beobachtbares als z. B. »schwerstbehindert« und wird in der Folge jemandem zugeschrieben. Performativ beobachtbare Unterschiede zwischen den Erwartungen der Beobachtenden werden so zu verallgemeinerten Merkmalen einer Person und in der Folge durch die Bündelung von Beobachtungen und Erfahrungen zur Definition eines Personenkreises. In sozialen Interaktionsprozessen werden diese Merkmale in der Folge unter einen Begriff subsummiert. Dieser Prozess der Kategorisierung führt zu einer Verdinglichung der so bezeichneten Personen (Weisser 2005, S. 36). Praxeologisch betrachtet handelt es sich bei diesen Kategorisierungsprozessen um Prozesse des »doing [profound, Anm. d. V.] disability« (Köbsell 2016, S. 89), um kulturelle Differenzkonstruktionen zur Markierung einer sozialen Zugehörigkeit, die als konjunktives, atheoretisches Wissen in gesellschaftliche Strukturen und Prozesse eingelagert sind. Kulturelle Differenzkonstruktionen verweisen dabei keinesfalls auf soziale Tatbestände oder naturgegebene Realitäten, sondern auf »soziale Praktiken der Herstellung von Situationen, von Identitäten und von Institutionen« (Tervooren & Pfaff 2018, S. 36) und auf die handlungspraktischen Bedingungen der Zuschreibung von Behinderung.
Im Falle einer zugewiesenen »Schwerstbehinderung« imaginiert sich in diesen Kategorisierungsprozessen seit jeher das Bild von »Mängel-, Minder- oder Minusvarianten des Menschen« (Dederich 2011 S. 163), welches einhergeht mit einer »gesellschaftlich konstruierten Entrechtung« (Degener 2009, S. 272) der so bezeichneten Personen. Differenzkonstruktionen und Kategorisierungsprozesse sind demnach immer im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse und ihrer Bedeutung für die Zuweisung von Teilhabemöglichkeiten zu hinterfragen (Tervooren & Pfaff 2018). Die Geschichte der Zuweisung einer besonderen »Schwere« einer Behinderung lässt sich in diesem Zusammenhang insbesondere auch als Geschichte gesellschaftlicher Ausgrenzungsprozesse aus fast allen relevanten gesellschaftlichen Feldern nachzeichnen.
Seit der Phase der Aufklärung und der damit beginnenden Bestimmung des Menschen als bildungsbedürftiges, weil autonomes und vernunftbegabtes Wesen erfolgt auch eine Differenzierung in »bildungsfähige« und »bildungsunfähige« Personen. Für den Personenkreis, dem »Bildungsunfähigkeit« zugeschrieben wird, kommt es in der Folge zu einem sich manifestierenden und selbst legitimierenden Ausschluss aus den in dieser Zeit entstehenden Institutionen. Unter den Bedingungen sozioökonomisch verschärfter Erfordernisse zu Beginn der Industrialisierung wird in der Folge entlang einer beobachteten »verminderten« Leistungsfähigkeit eine Unterscheidung zwischen »vollwertigen«, »teilnutzbaren« und »unwertigen Krüppeln«9 (Schmuhl 2007, S. 28) vorgenommen, die zum Kriterium für die Verteilung staatlicher Fürsorgeleistungen wird. Die Exklusion von Menschen, denen eine besondere »Schwere« von Beeinträchtigung attestiert wird, setzt sich in der Folge über nahezu alle gesellschaftlichen Felder fort (Bernasconi & Böing 2015, 2016).
Entsprechend kann das Phänomen (schwere) Behinderung nicht universal, sondern immer nur kontextuell mit Blick auf situative und gesellschaftliche Bedingungen betrachtet werden. Hier zeigen Analysen, dass (schwere) Behinderung sich vornehmlich über soziale Praxen der Ausgrenzung (Dannenbeck & Dorrance 2016) und über die Aberkennung anthropologisch relevanter Merkmale konstituiert (Feuser 2009). Dieses »Wissen« über (schwere) Behinderung ist als implizites Wissen in gesellschaftlichen Feldern eingelagert und wird durch soziale Praktiken reifiziert.
In Anerkennung dieser Zusammenhänge ist im Kontext der (wissenschaftlichen) Betrachtung ein Wechsel von beobachteten, als defizitär erkannten Merkmalen der Person hin zur sozialen Konstruktion von Behinderung und zur Ermöglichung von Teilhabe zu verzeichnen. Damit steht weniger die Identifizierung »körperlich manifester Abweichungen« einer Person und die Konstruktion eines individuell defizitären Anderen im Fokus der Beobachtenden, sondern es wird – unter Hinzuziehung von Umweltfaktoren – eine prekäre Lebenslage von Personen beschrieben, verbunden mit einer Perspektivänderung auf die besonderen Lebensbewältigungsstrategien und Ressourcen, um Forderungen nach Teilhabe zu untermauern. Diese Perspektive findet sich im sozialen Modell von Behinderung und hat ebenfalls Eingang in die ICF(-CY) gefunden. Die hier angestrebte Abkehr von einem medizinischen Modell von Behinderung hin zu einem bio-psycho-sozialen wird insbesondere dadurch deutlich, dass Behinderung nicht länger als Zustand oder Eigenschaft einer Person beschrieben wird, sondern als Zustand aufgrund fehlender Teilhabemöglichkeiten von Menschen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern. Behinderung wird damit nicht länger als personale, sondern v. a. als eine kontextuelle Eigenschaft verstanden (Hollenweger 2019). Die getroffene Unterscheidung von Schädigung und Behinderung markiert damit, dass »Behinderung ein Ausdruck gesellschaftlicher Praktiken ist, die vornehmlich durch Einschränkung der Teilhabe und Ausschließung gekennzeichnet sind […]« (Weisser 2018, S. 98). Als Folge dieses Perspektivwechsels sind die oben genannten Attribuierungen »Komplexe Behinderung«, »Intensive Behinderungserfahrung« oder »hoher und komplexer Unterstützungsbedarf« zu verstehen. Durch sie soll die individuelle Lebenslage unter Einbezug der prekären sozial-gesellschaftlichen Position in den Blick genommen und so der gesellschaftliche Diskurs über das, was unter (schwerer) Behinderung zu verstehen ist, irritiert und verändert werden.
Pädagogisch betrachtet verbindet sich mit diesen Begriffen eine Anerkennung der so markierten Personen als Subjekte, die als Exkludierte einer besonderen Verletzbarkeit ausgesetzt sind (zu Prozessen der Anerkennung vgl. Fritzsche 2018, S. 67). Vulnerabilität – so wird deutlich – ist kein Merkmal einer Person, sondern eine Folge gesellschaftlicher Entrechtung. Die sich in diesen Begriffen zeigenden Kontextualisierungen verweisen auf pädagogische und politische Handlungsmöglichkeiten und eröffnen Teilhabechancen in unterschiedlichen pädagogischen Handlungsfeldern (z. B. Bildung, Wohnen, Arbeit etc.).
Differenztheoretisch bzw. praxeologisch betrachtet gilt dennoch zu konstatieren, dass auch die genannten Begriffssetzungen vorgängig eingeführte Differenzen setzen und auf konkrete Personen projizieren. Aus einer pädagogisch durchaus legitimen und menschenrechtlich begründbaren Perspektive heraus, werden Differenzkategorien eingeführt, die auf ihrer Kehrseite – als objektivistische Merkmale und situativ überdauernd – in die verschiedenen Handlungsfelder hineingetragen und so auch zu einer Reifizierung der durch sie beschriebenen Phänomene führen können (Wagener 2018). Ob, wann und inwiefern diese Differenzkonstruktionen für die von diesen Zuschreibungen betroffenen Personen und weitere handelnde Akteur*innen im Feld relevant werden, stellt aktuell noch ein Forschungsdesiderat dar. Entsprechend erscheint es zukünftig sinnvoll, die in den Begriffen angebotenen Deutungen durch praxeologisch-rekonstruktive Forschungen empirisch zu überprüfen, ggf. zu untermauern und auszudifferenzieren.
Gewinnbringend erscheint ein »practice turn« (Schatzki et al. 2001, zit. nach Reckwitz 2003, S. 282), eine Gegenbewegung gegen die begriffliche Verobjektivierung und Verdinglichung des sozialen Phänomens (schwere) Behinderung hin zu einer Rekonstruktion von Prozessen eines »doing profound disability« in Handlungsfelder der Eingliederungshilfe durch empirische Untersuchungen. Es geht um die Frage, welche Praktiken in konkreten Handlungsvollzügen beobachtbar sind, wie sich darüber »Komplexe Behinderung« konstruiert und wie sich dies in sozialen Strukturen (der Benachteiligung oder der Ermöglichung) manifestiert. Der Schwerpunkt dieser Untersuchungen wäre auf die implizite Logik der Praxis, auf die routinisierten, nicht bewussten aber materiell verankerten Sinnsetzungen aller relevanten Akteur*innen im Feld zu legen, weil Praktiken weniger auf bewussten, zweckrationalen Akteur*innen-Intentionen, sondern vielmehr auf der Einsozialisierung in kontextgebundene Gepflogenheiten beruhen. Dabei hat eine phänomenologisch angeleitete Theoriebildung für die Rekonstruktion der praxistheoretischen Perspektive hohes Potenzial. Hier kann rekonstruiert werden, wie begriffliche Setzungen »im leiblichen und multimodalen Ausdruck inkarniert und intrinsisch in die Handlungsvollzüge [der Akteur*innen] in der materiellen und medial vermittelten Welt verwoben sind« (Deppermann et al 2016, S. 14).
Es geht demnach um die forschende Hinwendung zu Praktiken körperlicher Performanz in Interaktionen und sozialen Situationen, in denen sich »Komplexe Behinderung«, »intensive Behinderungserfahrung« oder auch ein »hoher Unterstützungsbedarf« materialisieren. Die Perspektive verschiebt sich insofern weg vom »Objekt« der Bezeichnung hin zum wie der Herstellung dieser Kategorie. Bezogen auf Anerkennungsprozesse impliziert dies, einen partizipatorischen Forschungszugang zu wählen und nach Möglichkeiten zu suchen, wie die durch Differenzsetzungen markierten Personen sich zu diesen machtvollen Zuschreibungen und Subjektivierungsprozessen verhalten und welche Selbstpositionierung sie in sozialen Situationen unter der prekären Bedingung eines entrechteten Status hervorbringen.
Durch diesen praxeologischen Zugang wird es möglich, Festschreibungen zu erkennen und Charakteristika von Handlungspraxen herauszuarbeiten, durch die Komplexe Behinderung erst entsteht. Letztendlich geht es darum, nicht mehr definieren zu müssen, was eine »Komplexe Behinderung« ist oder immer neue Benennungen und Beschreibungen für ein beobachtetes Phänomen zu finden, sondern zu analysieren, wie »Komplexe Behinderung« entsteht und Prozesse der Benennung in ihrer historischen Entwicklung und in ihrer Funktion einer gesellschaftlichen Markierung von Differenzen zu beobachten und kritisch zu reflektieren.