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5.3 Menschen mit Komplexer Behinderung: gewöhnliche Bedürfnisse, außergewöhnliche Bedarfe

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Im Folgenden wird der Fokus auf Menschen mit Komplexer Behinderung gelegt und der Frage nachgegangen, inwiefern dieser Personenkreis als besonders bedürftig gelten kann. In diesem Zusammenhang lohnt sich zunächst einmal ein Blick auf die Personenkreisbezeichnungen und -umschreibungen: Bei Menschen mit (Komplexer) Behinderung handelt es sich um Personen mit (hohem) Unterstützungsbedarf (früher auch »Hilfebedarf«), die häufig zugleich als pflegebedürftig gelten. Im englischen Sprachraum ist die Bezeichnung »people with special needs« gebräuchlich, die gelegentlich auch eins-zu-eins übersetzt als »Menschen mit besonderen Bedürfnissen« im deutschen Sprachgebrauch zu finden ist (so z. B. in Gfellner 2019). Gemäß der sozialrechtlichen Begriffsbestimmung des Personenkreises der Menschen mit Behinderungen (§ 2 Abs. 1 SGB IX) ist die wesentliche Einschränkung »der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft« das entscheidende Kriterium, um Unterstützungsleistungen zu erhalten oder nicht. Von Fachkräften in der Eingliederungshilfe wird folglich laut § 97 Abs. 1 SGB IX erwartet, dass sie über »Kenntnisse von […] Teilhabebedarfen und Teilhabebarrieren« von Menschen mit Behinderungen verfügen.

Was macht aber Menschen mit Komplexer Behinderung zu einer besonderen Gruppe innerhalb des Personenkreises der Menschen mit Behinderung? Die Urheberin der Personenkreisbezeichnung, Barbara Fornefeld, mahnt dazu an, erst dann von Menschen mit Komplexer Behinderung zu sprechen, »wenn die gängigen Erwartungen an Selbstbestimmung, Inklusion und Teilhabe an Grenzen stoßen« (Fornefeld 2008a, S. 77). Gemäß Fornefelds (2008b, S. 116) Ausführungen kommunizieren Menschen mit Komplexer Behinderung häufig nicht oder kaum verbalsprachlich, sondern nutzen alternative, leibliche Verhaltensweisen, um sich auszudrücken, die von den Mitmenschen jedoch häufig nicht umfassend verstanden oder auch als herausfordernd wahrgenommen werden. Ihre Bedürfnisäußerungen sind dadurch für ihre Mitmenschen häufig nur schwer nachzuvollziehen. Diese kommunikativen Besonderheiten bei Menschen mit Komplexer Behinderung erschweren nicht nur deren bedürfnisorientierte Unterstützung, sondern beeinträchtigen die Kommunikation und Interaktion mit ihnen insgesamt. Daraus ergibt sich ein spezifischer und für den Personenkreis charakteristischer Bedarf an professioneller Expertise, nämlich die Anforderung an die professionellen Unterstützenden, die Bedürfnisse dieser Menschen überhaupt erst zu »entschlüsseln«.

Mit Blick auf die bisherigen Ausführungen in diesem Beitrag ließe sich also ergänzen, dass auch ihre besondere Bedürftigkeit als ein konstitutives Merkmal dieses Personenkreises verstanden werden kann. Darauf macht auch Sophia Falkenstörfer aufmerksam, die in ihrer Untersuchung »Zur Relevanz der Fürsorge in Geschichte und Gegenwart« (2020, S. 294) den Personenkreis, den sie in das Zentrum ihrer Untersuchung stellt – bei ihr »Menschen mit komplexen Behinderungen« genannt –, durch die besondere Fürsorgebedürftigkeit charakterisiert. In ihren Ausführungen wird deutlich, dass es besonders die spezifischen Bedarfe dieses Personenkreises sind, die durch »diverse und komplexe behinderungsbedingte Einschränkungen« (Falkenstörfer 2020, S. 294) begründet sind und in der Folge zu ihrer besonderen Bedürftigkeit und Angewiesenheit führen.

Anknüpfend an diese Überlegungen soll hier vorerst festgehalten werden, dass sich die besondere Bedürftigkeit des Personenkreises besonders auf der Ebene der Bedarfe feststellen lässt: Menschen mit Komplexen Behinderungen haben besondere Bedarfe und stellen damit besondere Anforderungen an ihre (professionellen wie informellen) Unterstützer*innen. Ob und inwiefern Menschen mit Komplexer Behinderung auch besondere Bedürfnisse vorweisen, dies war eine der Ausgangsfragestellungen des dreijährigen Forschungsprojektes Teil ¬ sein & Teil ¬ haben®. Mittels fünfzehn Einzelfallstudien wurde der Versuch unternommen, einen heterogenen Personenkreis in ein qualitativ angelegtes Forschungsvorhaben mit einzubeziehen und trotz der zuvor geschilderten Erschwernisse eine möglichst umfassende Analyse der bestehenden Bedürfnisse zu gestalten. Im Ergebnis konnten eine Vielzahl von Bedürfnissen benannt werden, die sich in ihrer Vielfalt und Individualität nicht von denen anderer Menschen unterscheiden. Für das Projektteam war dabei wesentlich, keine Priorisierung der Bedürfnisse vorzunehmen, denn auch wenn sich spezifische Bedürfnisse individuell und situativ bedeutsamer zeigten als andere, so konnten Regel- oder Gesetzmäßigkeiten, die eine verallgemeinernde Priorisierung der Bedürfnisse beim Personenkreis zulassen würden, kaum festgestellt werden.

So konnte das Forschungsprojekt einerseits bestätigen, was aufgrund ihrer spezifischen psycho-physischen Verfasstheit (etwa zusätzliche körperliche Beeinträchtigungen, Multimorbidität oder besondere psychische Belastungen) nicht verwundern muss: nämlich dass gesundheitliche Bedürfnisse (nach Nahrung, Schmerzfreiheit usw.) tatsächlich einen besonderen Stellenwert im Leben von Menschen mit Komplexer Behinderung einnehmen. Andererseits eröffnete das explorative Vorgehen die Möglichkeit, sich von den Studienteilnehmer*innen und ihrer Lebenswelt »überraschen« zu lassen. Auf diese Weise wurden Bedürfnisse sichtbar, die bislang im Diskurs um diesen Personenkreis gar keine Berücksichtigung finden. Beispielhaft sei hier etwa das Bedürfnis nach Konsum und Eigentum zu nennen (siehe unterer Kasten). Ein Studienteilnehmer verlieh (auch nonverbal) erkennbar seinem Wunsch Ausdruck, sich eine DVD vom eigenen Geld kaufen zu können. Eine andere Teilnehmerin genoss es sichtlich, ihren Schmuck zu präsentieren.

Das Projekt Teil ¬ sein & Teil ¬ haben® konnte also deutlich machen, dass sich die Bedürfnisse von Menschen mit Komplexer Behinderung nicht grundlegend von denen anderer Menschen unterscheiden. So banal die Aussage auch klingen mag, handelt es sich dabei doch um eine benennenswerte Erkenntnis, da u. a. in den Befragungen der professionellen Unterstützer*innen häufig eine primäre Perspektive auf die existenzsichernden Bedürfnisse gelegt und weitere individuelle Bedürfnisse zwar nicht immer unerkannt, jedoch häufig im alltäglichen professionellen Handeln unberücksichtigt bleiben (müssen). Dies lässt sich sicherlich aus einem spezifischen Verständnis des professionellen Auftrags begründen, aber auch aus der Tatsache, dass eine Annäherung an die individuellen Bedürfnisse von Menschen mit Komplexer Behinderung teilweise sehr herausfordernd ist. Das (forschungs-)methodische Vorgehen im Forschungsprojekt Teil ¬ sein & Teil ¬ haben® kann hierzu einen Beitrag leisten, weshalb im folgenden Kapitel ein kurzer Ein- bzw. Überblick ermöglicht werden soll.

Wohnwunschermittlung bei Menschen mit Komplexer Behinderung

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