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5.2 Bedürftigkeit, Bedarfe, Bedürfnisse

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Bedürftigkeit, Verletzbarkeit und Angewiesenheit auf Andere gelten als konstitutive Merkmale des Menschen (zusammenfassend Zirfas 2011). Die Auseinandersetzung mit der besonderen Bedürftigkeit bestimmter Personen oder Personengruppen sollte daher nicht ohne eine anthropologische Standortbestimmung auskommen. Was bedeutet es, bedürftig zu sein? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.

Sei es das Bedürfnis nach einer eigenen Wohnung, das Verlangen nach einem neuen technischen Gerät oder der Wunsch nach einer Liebesbeziehung: Bedürftig zu sein bedeutet immer, etwas zu bedürfen oder präziser: etwas zu bedürfen, über das eine Person zum Zeitpunkt ihrer Bedürftigkeit nicht verfügt oder verfügen kann. Bedürftigkeit setzt also einen Mangelzustand bzw. ein Befriedigungsdefizit voraus (Möller 1988, S. 61 f.). Die Überwindung der eigenen Bedürftigkeit lässt sich somit als kontinuierliches menschliches Bestreben verstehen, das eigene Befinden bzw. die eigene Lage zu verbessern. Der Wunsch nach einer eigenen Wohnung resultiert möglicherweise aus einem Mangel an einem Dach über dem Kopf oder einem Defizit an Privatheit, ein neues Smartphone kann einen individuell wahrgenommenen Mangel an digitaler Teilhabe beseitigen, das Verlangen nach einer Liebesbeziehung setzt ein (subjektiv so empfundenes) Defizit an liebevoller Zuwendung voraus.

Damit wird zugleich deutlich, dass Bedürftigkeit immer eine subjektive Dimension vermittelt – bedürftig ist immer ein leibhaftiges Subjekt (Schnell 2008, S. 154 f.). Diese subjektive Dimension manifestiert sich in den individuellen Bedürfnissen eines Menschen. Der ursprüngliche Auslöser, also der subjektive Mangel, der ein Bedürfnis veranlasst, lässt sich allerdings von außen betrachtet nicht immer unmittelbar nachempfinden und hängt immer von individuellen Lebenslagen und Erfahrungen ab. Folglich kann auch das Verhalten eines Menschen, mit dem er seine Lage zu verbessern versucht, für Irritationen sorgen. Während das Stillen des Hungers angemessen und unmittelbar nachvollziehbar erscheint, ist der Wunsch nach einem neuen Smartphone möglicherweise nicht für jeden Menschen nachvollziehbar – zumal, wenn es dieser Person vermeintlich nicht an entsprechender Technologie mangelt.

Das Beispiel verdeutlicht auch: Die Entwicklung und die Verwirklichung von Bedürfnissen vollziehen sich nicht im luftleeren Raum. Der Mensch wächst in Verbundenheit mit anderen auf, entsprechend sind auch seine Bedürfnisse und die Realisierung ebenjener verwoben mit der Sozialwelt. Was eine Person für sich als erstrebenswert begreift, hängt von ihren lebensweltlichen Erfahrungen und Begegnungen ab (vgl. Klauß 2013). Dabei spielen kulturelle und soziale Normen und Wertungen eine bedeutende Rolle, denn nicht jedes Bedürfnis wird in gleichem Maße als verhältnismäßig betrachtet. Ob die oder der Einzelne mit der Unterstützung bei der Verwirklichung ihrer oder seiner Bedürfnisse durch andere rechnen kann, hängt also davon ab, ob diese Bedürfnisse im Angesicht der verfügbaren Kapazitäten einer Gemeinschaft als unterstützenswert anerkannt werden (Schnell 2017, S. 76).

Um bei diesem sozial-ethischen Problem zu gerechten Entscheidungen zu gelangen, werden Bedürfnisse seit jeher systematisiert und objektiviert. Am bekanntesten ist wohl der Ansatz des US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow, der im Jahr 1943 erstmalig seine hierarchische Ordnung der Bedürfnisse vorlegte, wonach die Befriedigung »niederer« Bedürfnisse (z. B. Hunger und Durst) erst das Streben nach anderen, »höheren« Bedürfnissen (z. B. kreative Betätigung) ermöglicht (Maslow 1943). Veranschaulicht (und weltweit bekannt) als »Bedürfnispyramide« dienen seine Annahmen auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen von Menschen mit Komplexer Behinderung häufig als Referenzrahmen (u. a. Seifert 1997; Dworschak 2004; Richter & Thäle 2018).

Auch im Kontext wohlfahrtsstaatlicher Steuerungsprozesse werden zur Gewährung von Unterstützungsleistungen allgemeingültige Kriterien herangezogen, die den Vergleich und die Einschätzung individueller Bedürftigkeiten ermöglichen sollen. Bekannte Beispiele sind das neue Begutachtungsinstrument der sozialen Pflegeversicherung oder die Bedarfserhebungsinstrumente der Eingliederungshilfe, die ihrerseits direkt Bezug auf die ICF nehmen; denn neben vielen anderen Anwendungsgebieten dient die ICF auch als Instrument zur Beurteilung von Bedürftigkeiten (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2005, S. 11). Die Instrumente der Eingliederungshilfe und der Pflegeversicherung haben also zum Ziel, individuelle Bedürftigkeiten zu konkretisieren und in objektive Bedarfe zu überführen, in denen sich »Art und Menge der für die Bedürfnisbefriedigung notwendigen Mittel[]« (Meran 1987, S. 26) materialisieren. Im Gegensatz zu den (subjektiven) Bedürfnissen kommen in den Bedarfen also die erforderlichen (äußeren) Rahmenbedingungen zum Ausdruck. Mittels konkreter Kriterien und Kennziffern (z. B. Umfang von Assistenzleistungen) ermöglicht die Identifizierung von Bedarfen zudem die Steuerung, Planung und Überprüfung der Unterstützungsleistungen (Beck 2016, S. 41). Ohne diese Versachlichung subjektiver Bedürfnisse wäre es nicht möglich, einen Menschen gezielt (»bedarfsgerecht«) zu unterstützen und dabei gleichzeitig vor willkürlichen und unprofessionellen Unterstützungspraktiken zu schützen. Einem Bedarf liegt jedoch immer ein subjektives Bedürfnis zugrunde (Beck 2016). Ohne ein Verständnis über die subjektiven Bedürfnisse eines Menschen bleiben Bedarfe folglich inhaltsleer und bloße Worthülsen und Formeln im Unterstützungsprozess.

Es sollte somit deutlich geworden sein, dass Bedürftigkeit diesem Verständnis nach eine subjektive Dimension – die Bedürfnisse – und eine objektive Dimension – die Bedarfe – vermittelt. Nicht selten werden beide Begriffe (Bedürfnis und Bedarf) synonym oder in einem Atemzug verwendet oder gar verwechselt (Staub-Bernasconi 2019, S. 289). Es ist jedoch, so die Schlussfolgerung, für die Unterstützung von Menschen mit Komplexer Behinderung maßgeblich, beide Aspekte der Bedürftigkeit (die subjektiv-individuelle und die objektiv-vergleichbare Dimension) differenziert zu erfassen bzw. abzuleiten und in der Assistenz entsprechend zu berücksichtigen. Sowohl das pädagogische als auch das pflegerische Handeln setzt an einer solcherart konstituierten Bedürftigkeit des einzelnen Menschen oder einer Gruppe von Menschen an. Das heißt: Professioneller Handlungsbedarf entsteht immer dann, wenn sich eine Person bei der Verwirklichung ihrer (als verhältnismäßig anerkannten) Bedürfnisse nicht mehr selbst (be-)helfen kann und aufgrund dessen die Unterstützung durch Andere bedarf.

Wohnwunschermittlung bei Menschen mit Komplexer Behinderung

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