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Der Platz Polens
ОглавлениеAb Mitte der 1950er-Jahre lief die internationale Entwicklung Richtung Entspannung: Der Westen arrangierte sich mit der Sowjetunion. Und Jalta tatsächlich in der praktischen Politik infrage zu stellen – daran dachten Großbritannien oder die USA weder vorher noch in den Jahrzehnten danach. Das polnische Londoner Exil mit seinem „non possumus“, mit seinem Glauben an die Rückkehr nach Wilna und Lemberg, spielte – gerade, weil Jalta hier so lebendig blieb – keine Rolle mehr in all den Krisen und Umbrüchen, an denen die Geschichte Volkspolens so reich war.
Dies galt nicht für das ganze Exil. Um die Monatszeitschrift Kultura in Paris bildete sich in den 1950er-Jahren eine Alternative heraus. Während man in London der Realität die Anerkennung verweigerte, versuchten die Pariser Intellektuellen auf der Grundlage der neuen Landkarte Europas weiterzudenken. Der entscheidenden Schritte gab es zwei: erstens die Anerkennung Jaltas, das heißt der neuen polnischen Ostgrenze, zweitens die Frage, wie man den Staatssozialismus im Land aushöhlen und modifizieren könne, sodass sich mit der Zeit die Perspektive einer Entwicklung Richtung Westen, der „Rückkehr nach Europa“, ergebe. In diesem föderativen Europa, das sich in den späten 1950er-Jahren vor den Augen der Kultura zu entwickeln begann, werde es dann – auf der Grundlage der 1945 gezogenen Grenzlinien – auch genügend Raum für eine völlige Neuordnung der Beziehungen sowohl zu den östlichen Nachbarn als auch zu Deutschland geben. Jalta war also hier durchaus ein Erinnerungsort – einer, dessen böser Geist es zunächst einmal gedanklich zu überwinden galt, damit den künftigen Generationen eine Chance eröffnet wird, die Buchstaben der Beschlüsse zu erfüllen, die ja durchaus eine parlamentarische Demokratie mit freien Wahlen an der Weichsel vorhergesehen hatten.
Es mag durchaus sein, dass der Pariser Sitz der Redaktion eine gewisse, bislang nie näher beleuchtete Rolle spielte: Charles de Gaulle war bekanntlich ein vehementer Gegner der Entscheidungen der Großen Drei. Im September 1967 kam er zu einem fast einwöchigen Staatsbesuch in die Volksrepublik Polen. Im einzigen Gipfelgespräch mit dem polnischen KP-Chef Władysław Gomułka entwickelte er einmal mehr seinen Grundgedanken von einer über den Realitäten des Kalten Krieges stehenden Einheit Europas und der zerstörerischen Wirkungskraft der Entscheidungen der Großen Drei in Jalta: „Wir lebten in Jalta. Wir sind uns nicht sicher, ob sich die Russen und Amerikaner jemals darauf einigen würden, das Schicksal Deutschlands zwischen ihnen zu regeln. Sicherer ist es, dies unter uns Europäern zu regeln […]. Potsdam und Jalta waren schlechte Aktionen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, eine europäische Situation zu lösen.“
Der polnische Parteichef blieb seinem Gast auch hinter verschlossenen Türen eine Antwort schuldig: Die Sowjets als außereuropäische Macht zu bezeichnen, geschweige denn ihre Entscheidungen zu kritisieren, durfte und wollte er nicht. Jalta blieb offiziell Geburtsort eines glücklichen, staatssozialistischen Polen. Inoffiziell, im privaten Bereich, lebte die Erinnerung an die Konferenz offenbar als Synonym für den Verrat des Westens wie für die Aussichtlosigkeit der eigenen geopolitischen Lage zwischen Sowjetunion, ČSSR und DDR weiter. Der britische Gentleman verstand 15 Jahre später mehr: „‚Jalta‘ (polnische Aussprache ‚Jauta‘) ist die erste Tatsache des Lebens im heutigen Polen. In Jalta beginnt die Geschichte der Solidarność. ‚Jalta‘ bedeutet für die Polen, dass, nachdem ihre Armee sich als erste Hitler zur Wehr gesetzt hatte, nachdem Großbritannien zur Verteidigung von Polens Unabhängigkeit in den Krieg gezogen war und nachdem polnische Soldaten zur Verteidigung Britanniens mutig gekämpft hatten, nachdem rund sechs Millionen ihrer Landsleute (jeder fünfte Bürger der Republik Polen vor dem Krieg) im Krieg umgekommen waren – dass ihr Land nach alldem von seinen westlichen Verbündeten, Großbritannien und Amerika, der berüchtigten zeitlichen Fürsorge von ‚Uncle Joe‘ Stalin ausgeliefert wurde. Man kann argumentieren, dass Churchill und Roosevelt keine andere Wahl hatten, da die Rote Armee, seit sich die Großen Drei im Februar 1945 in Jalta auf der Krim trafen, bereits das Gebiet der ehemaligen Polnischen Republik besetzte, während Stalin im Schlusskommuniqué dieser Sitzung feierlich versprach, ‚so bald wie möglich freie und ungehinderte Wahlen auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts und der geheimen Abstimmung abzuhalten‘. Aber eine solche Befreiung war für jeden ein zweideutiger Segen. Um aber zu verstehen, warum in Polen im August 1980 die erste Arbeiterrevolution gegen einen ‚Arbeiterstaat‘ ausbrach, müssen Sie verstehen, warum die Aussicht auf eine sowjetische ‚Befreiung‘ für die große Mehrheit der Polen 1945 so besonders entsetzlich war.“3
Es ist heute so gut wie unmöglich, nachzuweisen, dass der Eindruck des jungen Engländers richtig beziehungsweise das Verhalten seiner polnischen Gesprächspartner für mehr als ein paar ältere Intellektuelle repräsentativ war. Ganz aus der Luft gegriffen kann es nicht gewesen sein, denn welche bessere Chiffre hätten politisch denkende Polen benutzen sollen, wenn sie 1980/81 über die Chancen der Solidarność nachdachten?