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Der Nationalsozialismus auf der Anklagebank
ОглавлениеNürnberg war die Stadt, von der aus zunächst die Bewegung ihre erfolgreiche Eroberung der Macht und dann das „Dritte Reich“ seine Revanche an der Geschichte koordiniert hatte. Im Deutschland der Niederlage wird es zugleich zu einem Ort der Justiz, an dem das erste internationale Militärtribunal einen juristischen Präzedenzfall schafft, und zu einem Ort, an dem die erste historische Einordnung des Nationalsozialismus vorgenommen wird, ein Erinnerungsort, an dem den Europäern das kontinentale Ausmaß einer NS-Politik bewusst wird, deren Erfahrungsrahmen allerdings national beschränkt blieb. Das Internationale Militärtribunal, das vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 tagt, unternimmt es, eine Epoche abzuschließen und zugleich neue Horizonte zu eröffnen.
Der Prozess, der sechs Monate nach Kriegsende beginnt, ist zuvörderst der Prozess der Verbrechen, die die Nationalsozialisten in ganz Europa begangen haben. Es geht darum, sowohl den Staat als auch die Partei abzuurteilen, dazu die politische, militärische, wirtschaftliche und kulturelle Elite. Sie alle werden als kriminell betrachtet. Die Anklage muss deshalb Beweise vorlegen, die die ganze Bandbreite der verbrecherischen Taten belegen, die Verschwörung gegen den Frieden durch Vorbereitung eines Angriffskriegs ebenso wie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Anklage legt 2900 Dokumente vor, die Verteidigung ihrerseits 1230, 122 Zeugen werden angehört. Das Tribunal wird so zum Ort, an dem den Opfern, die aus allen Nationen Europas kommen, die Anerkennung des ihnen Widerfahrenen zuteilwird. Der Prozess macht allen nachhaltig bewusst, dass die häufig in Form von Besatzung, Verfolgung und politisch wie rassisch und wirtschaftlich motivierter Deportation auf nationaler Ebene durchlebten Leiden Folge der „Neuordnung“ waren, die das „Dritte Reich“ in kontinentalem Maßstab durchzuführen trachtete. Zwar stützt sich der US-amerikanische Ankläger gern auf Dokumente, trotzdem sind es vor allem die in vielen Sprachen vorgetragenen Aussagen und das noch nie angewandte Verfahren, Bilder zu zeigen, die den Umfang des Systems der Konzentrationslager ebenso verdeutlichen wie die Spezifizität der Vernichtung der Juden Europas und der räuberischen Logik des „Dritten Reichs“. Die 16.000 Seiten umfassenden Sitzungsprotokolle mit ihrer Gegenüberstellung von Anklage und Verteidigung sind die ersten Archivmaterialen für eine Geschichte des Nationalsozialismus. Der Prozess und das Urteil von Nürnberg – zwölf Angeklagte werden zum Tod verurteilt und hingerichtet, drei werden zu lebenslanger Haft und vier zu unterschiedlich langen Haftstrafen verurteilt, drei werden freigesprochen und vier Organisationen werden als kriminell eingestuft – symbolisieren die historische Wende durch den Sieg des Rechts. Berühmte Autoren begleiten den Prozess journalistisch (Ernest Hemingway, John Steinbeck, John Dos Passos, Ilja Ehrenburg, Louis Aragon, Elsa Triolet, Joseph Kessel, Willy Brandt und viele andere), der zum „Ort der Begegnung und des Aushandelns von Recht und Geschichte, von Politik und Moral“ (Priemel und Stiller) wird.
Der Erinnerungsort Nürnberg gründet nicht nur auf vergangenem Leid, er verweist auch auf die Notwendigkeit, als juristische Antwort einen für alle Sieger verbindlichen rechtlichen Rahmen und Rechtsnormen zu schaffen, mit deren Hilfe ein Regime, eine Ideologie und historisch einmalige Verbrechen abgeurteilt werden können. Seit der sogenannten Erklärung von Saint-James, die aus der gleichnamigen Konferenz hervorging, die 1941/42 in London stattfand, ist die Aburteilung der nationalsozialistischen Führung eines der Kriegsziele der Alliierten. Das Londoner Abkommen von 1945 spricht von der „Verfolgung und Bestrafung der größten Kriegsverbrecher der europäischen Achsenmächte“ und sieht die Einrichtung eines internationalen Militärgerichtshofs vor. Dieser wird auf Initiative der amerikanischen Delegation nach angelsächsischem Recht gebildet. Dank des ordnungsgemäßen Verlaufs ist dieser Prozess, der trotz juristischer Schwachpunkte als gerecht und ausgewogen gelten kann, seither als bleibendes institutionelles Erbe zu betrachten.
Nürnberg bedeutet zwar nicht wirklich die Geburtsstunde einer internationalen Strafjustiz als Idee, doch schaffen seine Grundsätze einen Präzedenzfall, der den Weg für die Kodifizierung des internationalen Strafrechts frei macht, die sich 1948 im Abkommen über die Verhütung und Verfolgung des Völkermords und später in der Bildung von internationalen Strafgerichten für die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien (1993) und in Ruanda (1994) niederschlägt sowie in der Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs (2002). Das juristische Erbe von Nürnberg ist mithin beträchtlich. Der Prozess stellt sich deshalb als Vorgang dar, der Alternativen zur Straflosigkeit und zu bisherigen Arten der Strafverfolgung aufgezeigt hat. Er ist „nicht nur ein juristisches Ereignis, sondern ein in Konzeption und Durchführung moralisches und historisches Unterfangen, mit dem künftig alle zu rechnen haben, die mit dem Umgang mit Krieg und Frieden zu tun haben“. Er befördert eine universelle Philosophie des internationalen Strafrechts, „die über die engen einzelstaatlichen Interessen hinausgeht und die Werte der Menschenrechte und der Würde des Menschen umfasst“ (Guénaël Mettraux).
Nürnberg ist aufgrund der breiten Prozessberichterstattung außerdem eines der ersten weltweiten Medienereignisse. Von Anfang an wird alles getan, um für eine maximale Aufmerksamkeit für die Sitzungen zu sorgen: 240 Plätze sind für die Presse reserviert, Journalisten aus etwa 20 Nationen, entsandt von den großen Nachrichtenagenturen der Zeit (RCA, Mackey. Press Wireless, Tass), finden die modernsten Nachrichtenübertragungstechniken vor. Der Prozess wird zum Lernort vor allem für Deutsche, deren „Umorientierung“ auf der Tagesordnung steht, aber auch für die öffentliche Meinung Europas und der Welt. Die Besucher des „Memoriums“, der Gedenkstätte für das internationale Militärtribunal und die zwölf weiteren Prozesse nach US-amerikanischem Recht, die ihm im Justizpalast folgten, können deshalb ebenso gut als Erben einer nationalen Erinnerung wie als Europäer kommen.