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Der Ausdruck einer bipolaren Welt
ОглавлениеDie Rezeptionsgeschichte begann bereits während des Gipfels auf der Krim. Bekanntlich versuchte Joseph Goebbels nach Stalingrad, den Krieg im Osten zu einem Abwehrkampf des Abendlandes gegen den Bolschewismus umzuformen. Zwei Jahre später kehrte dieses ursprünglich eher für die Mobilisierung des besetzten Auslands bestimmte Konzept als Botschaft an die „Volksgemeinschaft“ der Deutschen „heim ins Reich“. Der Völkische Beobachter wie das etwas subtiler argumentierende Reich versuchten nun, ihre Landsleute zum Durchhalten im Endkampf zu ermuntern, indem sie den Gegnern Verbrechensabsichten unterstellten, die eine Kopie ihrer eigenen Planungen und Taten darstellten: In Jalta sei beschlossen worden, sechs Millionen deutsche „Sklaven nach Sibirien“ zu schicken. Gewarnt wurde – wieder einmal – vor einer Wiederholung des Novembers 1918, als „das deutsche Volk“ sich durch ein scheinbar günstiges Angebot der Amerikaner („Wilson-Betrug“) zur Kapitulation bewegen ließ: „Präsident Roosevelt vertritt die Auffassung, dass der gleiche Versuch, der es im November 1918 erreichte, das deutsche Volk von seiner Führung zu trennen und damit seinen Gegnern auszuliefern, auch heute ermöglichen wird, den Sieg der Alliierten, der auf militärischem Weg allein nicht erreichbar ist, durch Täuschung billig zu erkaufen.“
Die NS-Propaganda baute das Leitmotiv eines vom „Dritten Reich“ vor Stalin verteidigten Europa aus und erfand dabei den „Eisernen Vorhang“ gut ein Jahr vor Churchills Rede in Fulton: „An den Dardanellen ging der Eiserne Vorhang nieder, hinter dem Roosevelt und Churchill während der Dreierkonferenz der eigenen Öffentlichkeit entschwunden waren“ (so Das Reich eine Woche nach der Konferenz). Die Deutschen sollten glauben, sie hätten – wenn sie stramm genug bleiben – noch immer die Chance, das Unheil der Bolschewisierung des Abendlandes abzuwenden. „‚Jalta‘“ – urteilt zusammenfassend Jost Dülffer – „wurde so in der Endphase des Deutschen Reiches als Ausdruck einer bipolaren Welt dargestellt. Hier die für Freiheitsrechte eintretenden Nationalsozialisten, dort die Unterdrücker der Gegnerkoalition.“
Nun mögen diese Sätze schlicht verblüffen (nur die Sowjetunion als „Verteidiger der Demokratie“ konnte dieser Sprachregelung das Wasser reichen). Den Gegensatz zwischen einem freien Europa und der bolschewistischen Gefahr finden wir hingegen wortgetreu im polnischen Exil in London zu genau derselben Zeit wieder. Aus der Sicht der Exilregierung fand nämlich in Jalta genau jene Teilung Europas statt, vor der die Nazis als Bedrohung warnten. Nur dass die Polen sich Anfang Februar 1945 ziemlich komplett auf der falschen, das heißt östlichen Seite des Eisernen Vorhangs wiederfanden, der nicht „an den Dardanellen“, sondern an ihrer – noch immer unbekannten – künftigen Westgrenze niederzugehen schien. Die Exilregierung kannte ab 1939 kein anderes Ziel als die restitutio ad integrum, das heißt die Wiederherstellung Polens innerhalb der Grenzen vom 31. August 1939; einen Gebietszuwachs im Norden und Westen, der die angeblichen 1000 Jahre deutschen „Dranges nach Osten“ rückgängig und das neue Polen vor einer Neuauflage des 1. Septembers 1939 sicher machen sollte, strebte sie ebenfalls an. Jetzt stellte sich heraus, dass die Nachkriegsrepublik Richtung Westen verschoben werden, das heißt etwa die Hälfte ihres Vorkriegsterritoriums im Osten an die Sowjetunion verlieren und erst dafür im Norden und Westen mit bislang deutschen Provinzen entschädigt werden sollte. Mehr noch, in Jalta beschlossen die Großen Drei die Bildung einer neuen polnischen Regierung, deren Kern die ab Sommer 1944 unter dem Schutz der Roten Armee installierte kommunistische Verwaltung bilden würde. Dies war zu viel, das Exil protestierte lautstark gegen die entstehende bipolare Welt: Die Entscheidungen der Großen Drei „übertragen fast die Hälfte Polens an Russland und schaffen eine Lage, in welcher der Rest Polens zwangsläufig zu einem Vasallenstaat Russlands wird“; von den „nebulos“ angedeuteten Gewinnen im Westen und Norden sollte man sich nicht allzu viel versprechen. Der Ministerpräsident im Exil, Tomasz Arciszewski, bezeichnete Jalta als „neue Teilung Polens“, das nun zu einem sowjetischen Protektorat werde, die offizielle Note seines Kabinetts erklärte die Beschlüsse der Alliierten für rechtlich unverbindlich und legte gegen sie einen „entschiedenen Protest“ ein.
Mit dieser Haltung schloss sich die Exilregierung aus der internationalen Politik selbst aus. Die amtliche Nichtanerkennung von Jalta wurde vor allem dadurch geschwächt, dass ein Teil der polnischen Politiker im Exil und vor allem im Untergrund ursprünglich, das heißt 1945, bereit war, den Versuch einer Zusammenarbeit mit den Kommunisten innerhalb der neuen Landesgrenzen aufzunehmen. Nachdem dieses Experiment 1947 völlig gescheitert und Polen weitgehend stalinisiert worden war, mochte man in dem „Nein“ des Londoner Exils immerhin eine weise Grundsatzentscheidung gesehen haben.