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CLAUDIA WEBER

Der Hitler-Stalin-Pakt – ein Tabu

Mit diesem am 23. August 1939 zwischen den beiden großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts geschlossenen Abkommen einigten sich Adolf Hitler und Josef Stalin auf eine Aufteilung des Kontinents in zwei Einflussbereiche. Dieses kurzzeitige Bündnis – Hitler brach den Pakt am 22. Juni 1941 mit der Operation Barbarossa – bedeutet eine zentrale Zäsur im europäischen Erinnern: Im Westen wird der Opfer des Nationalsozialismus gedacht, im Osten der des Stalinismus. Es erscheint fast unmöglich, diese beiden Erinnerungen, die sich während des Kalten Krieges herauskristallisiert haben, in Einklang zu bringen.


Moskau, 23. August 1939: Josef Stalin und Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop.

Am 23. August 1939 unterzeichneten Stalins Volkskommissar für Äußere Angelegenheiten, Vjačeslav Molotov, und Hitlers Außenminister, Joachim von Ribbentrop, in Moskau einen gegenseitigen Nichtangriffspakt. Am 2. April 2009 erklärte das Europäische Parlament dieses Datum zum europäischen Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus. Im Vorfeld des 70. Jahrestages des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes reagierte das Parlament auf bisweilen heftige Debatten um den Kanon, die Orte und die Gedenkformen einer gemeinsamen europäischen Erinnerung nach dem Ende des Kalten Krieges. Die damaligen Diskussionen bespielten unterschiedliche Bühnen. In den europäischen Institutionen rangen vor allem Politiker*innen der neuen östlichen EU-Mitgliedstaaten Polen und des Baltikums um die Anerkennung einer stalinistischen Gewalterfahrung, die ihnen in den Jahrzehnten des sowjetischen Staatssozialismus verwehrt geblieben war. In der akademischen Community, insbesondere in der Geschichtswissenschaft, wurden die Auseinandersetzungen um einen gesamteuropäischen Erinnerungskanon, der die Gewaltherrschaft Stalins einschließen würde, von der Befürchtung begleitet, dass damit die Relativierung des Holocaust und seiner historischen Singularität verbunden ist. Claus Leggewie, einer der prononcierten Vertreter der damaligen Fachdebatten, sprach von einem „Schlachtfeld der Erinnerung“, auf dem sich, so sei hinzugefügt, die Frontstellungen des Kalten Krieges widerspiegelten. Tatsächlich prolongierten die Debatten eine Zweiteilung, die seit den späten 1940er-Jahren nicht nur die politische und gesellschaftliche Entwicklung Europas, sondern auch erinnerungskulturelle Traditionen manifestierte. Im Westen war der Holocaust zum negativen Gründungsmythos der demokratischen Gesellschaften, allen voran der Bundesrepublik, geworden. Im Osten legitimierten die Narrative des antifaschistischen Widerstandskampfes und des glorreichen Sieges über den Nationalsozialismus das sowjetische Imperium und tabuisierten eine Gewaltgeschichte, zu der der Hitler-Stalin-Pakt gehört. Diese Erinnerungstraditionen des Kalten Krieges zu überwinden, war der politische, gesellschaftliche und akademische Imperativ jener Jahre der „europäischen Euphorie“, die den Debatten zugrunde lag und von der mittlerweile nicht mehr viel zu spüren ist.

In einer Gegenwart, in der die Idee einer integrativen Europäisierung an Zugkraft verloren hat, sind die Debatten leiser geworden, auch die um die Frage, ob und wie der Hitler-Stalin-Pakt in einem Geschichts- und Erinnerungskanon zu platzieren wäre. Stattdessen wird die Geschichte des Bündnisses zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus oftmals wieder als eine „osteuropäische Angelegenheit“ betrachtet, sowohl hinsichtlich des historiografischen als auch des erinnerungskulturellen Umgangs. Und es scheint, als wären alle Seiten mit diesem Status quo – bei dem es sich um einen Status quo ante handelt – auf eine eigentümliche Art und Weise zufrieden. Die Rückkehr zur Erinnerungslogik des Kalten Krieges aber ist fatal, denn sie parzelliert eine europäische Weltkriegsgeschichte, die selbst im konventionell ereignisgeschichtlichen Sinn nicht getrennt werden kann. Der Hitler-Stalin-Pakt, der das Bündnis zwischen den beiden prägenden europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts nach langer Annäherung und zügiger Verhandlung besiegelte, entfesselte den Zweiten Weltkrieg in Europa. Er gestattete Hitler – und wenig später Stalin – den Einmarsch in Polen und setzte einen beispiellosen Vernichtungskrieg in Gang, der insbesondere im Osten Europas, dem Schauplatz des Holocaust, verheerende Folgen hatte. Die brutale doppelte Besatzungspolitik, die grausame Zerschlagung der Zweiten Polnischen Republik und die im Juni 1940 skrupellos vollzogene Angliederung des Baltikums an Stalins Sowjetunion sicherten die imperiale Ausdehnung auf ein Territorium, dessen Bevölkerung für mehr als 40 Jahre unter der Herrschaft des sowjetischen Machtbereichs blieb.

Dass die imperiale Gebiets- und Machterweiterung Hitlers nach Westeuropa aber ebenfalls erst mit und nach dem Pakt möglich geworden waren, wird sowohl in der Forschung als auch in der öffentlichen Erinnerung im Westen oftmals nur nebenbei erwähnt. Und doch fanden die deutschen Überfälle auf Frankreich und die Beneluxstaaten zeitgleich zur sowjetischen Besatzung des Baltikums und Bessarabiens statt. Und es ist fraglich, ob sie ohne den „Rückhalt“, den sich Hitler mit dem Pakt „erhandelt“ hatte, möglich gewesen wären. Am Ende des Paktes im Juni 1941 herrschte Hitler über 800.000 km2 europäisches Territorium, während Stalin sein Imperium nach Westen und in den Südosten um 422.000 km2 vergrößern konnte. Das Bündnis zwischen den ideologischantagonistisch inszenierten Diktaturen prägte die westeuropäischen Nationen und Gesellschaften in einem Ausmaß, das wohl bekannt ist, aber nicht zum westeuropäischen Erinnerungskanon gehörte. Der Pakt „zwang“ Anhänger der antifaschistischen Linken und Mitglieder der kommunistischen Parteien Westeuropas, den deutschen Einmarsch in ihre Länder zu begrüßen. Auf Anweisung der Kommunistischen Internationale (Komintern) waren sogar Frankreichs Kommunisten angehalten, die deutschen Besatzer in Paris als Verbündete im Kampf gegen den französischen und britischen Imperialismus willkommen zu heißen, denn schließlich handelte es sich um Partner Moskaus. Darüber hinaus war es Hitlers Erfolg im Westen, der dem Pakt die ersten Risse zufügte. Die Tatsache, dass die Wirkung und der Einfluss des Hitler-Stalin-Paktes auf die westeuropäische Weltkriegsgeschichte unterschätzt werden, steht der Akzeptanz als europäischer Erinnerungsort im Weg.

Eine europäische Erinnerung an den und historiografische Aufarbeitung des Hitler-Stalin-Paktes bedeuten nicht allein, dass neben den Opfern des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges und des Holocaust nun auch der Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft gedacht werden kann. Sie bedeuten keinesfalls eine Relativierung und/oder Nivellierung der nationalsozialistischen Diktatur; eine Befürchtung, die vor allem von der longue durée der mentalen Ost-West-Teilung genährt wird. Im Gegenteil öffnet die Perspektive auf den Hitler-Stalin-Pakt als europäisches Geschichtsereignis den Blick für die historischen Verflechtungen und Wechselbeziehungen, die den Eroberungsfeldzug des „Dritten Reiches“ in Ost- und in Westeuropa erst ermöglichten. Sie lässt erkennen, wie sehr das Bündnis der Diktaturen in ganz Europa – in Paris ebenso wie in London oder im Moskauer Hotel Lux – Schrecken und Entsetzen auslöste und zur europäischen Erinnerung an die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts gehört.

Literatur

Sebastian HAFFNER, Der Teufelspakt. Fünfzig Jahre deutsch-russische Beziehungen. Reinbek 1968.

Gustav HILGER, Wir und der Kreml. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1918–1941. Erinnerungen eines Diplomaten, Frankfurt a. M. 1964.

Anna KAMINSKY, Dietmar MÜLLER und Stefan TROEBST (Hg.), Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer, Göttingen 2011.

Ian KERSHAW, Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg, München 2008.

Jochen LAUFER, Pax Sovietica. Stalin, die Westmächte und die deutsche Frage 1941–1945, Köln 2009.

Claus LEGGEWIE, mit Anne LANG, Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011.

Wolfgang LEONHARD, Der Schock des Hitler-Stalin-Paktes, München 1989.

Jan LIPINSKY, Das Geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 und seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von 1939 bis 1999, Frankfurt a. M. 2004.

Claudia WEBER, Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz, München 2019.

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