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Das Ende des Konsenses
ОглавлениеIn den westlichen Ländern stellte diese große Erzählung die verherrlichten Widerstandskämpfer und die verdammten Kollaborateure einander unmittelbar gegenüber und gab zu verstehen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung sich zwar nicht unmittelbar am Kampf gegen den feindlichen Besatzer oder die Tyrannei beteiligte, aber durchaus solidarisch mit denen war, die sich für die richtige Sache schlugen. Diese Darstellungsweise wurde allerdings ab den 1960er-Jahren zunehmend infrage gestellt.
Diese Meistererzählung war in der unmittelbaren Nachkriegszeit sehr hilfreich. Sie half dabei, einen politisch-gesellschaftlichen Konsens zu erzeugen und dabei über die Zweideutigkeiten und Widersprüche der Kriegsjahre hinwegzusehen. Man konnte so tun, als ließe sich eine allzu belastende Vergangenheit ad acta legen. Im Lauf der Zeit verlor diese Strategie jedoch an Glaubwürdigkeit, sie wurde zunehmend zu einem bloßen Ritual und von anderen Entwicklungen infrage gestellt. Die großen Prozesse, die die westdeutsche Justiz zwischen 1959 und 1968 gegen die Einsatzgruppen1 und schließlich gegen die Leitung und Wachmannschaften des Konzentrationslagers Auschwitz anstrengte, sowie der Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Israel2 sorgten dafür, dass die öffentliche Meinung sich des Umfangs und des systematischen Charakters der Verfolgungen bewusst wurde, denen die europäischen Juden im Rahmen der „Endlösung“ zum Opfer fielen.
Dieser Bewusstwerdungsprozess wurde zudem durch eine Änderung im Verhalten der Überlebenden und der Nachfahren von Opfern der Schoah begünstigt. Deren Hauptsorge in der unmittelbaren Nachkriegszeit war es, dem Ausschluss, den sie erfahren hatten, zu entgehen und ein neues Leben aufzubauen. Erst später entwickelten sie – nicht nur in Europa, sondern auch in Israel und den Vereinigten Staaten – das Gefühl einer kollektiven Identität, in deren Mittelpunkt die Erinnerung an den Völkermord stand. Diese neue Identität wurde verstärkt durch die Solidarität mit Israel und die Kriege von 1967 und 1973, die als Neuauflage der Verfolgungen durch den Nationalsozialismus wahrgenommen wurden. Sie hatte auch das Verlangen zur Folge, dass die europäischen Gesellschaften insgesamt die zentrale Bedeutung der bislang zu wenig thematisierten Judenverfolgung und der „Endlösung“ für die Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs wie für die Erinnerung an diese endlich anerkennen sollten. Diese Bewusstwerdung zeigte sich bereits anlässlich des weltweiten Echos der Veröffentlichung des Tagebuchs von Anne Frank, dessen erste Auflage 1947 erschien, oder auch in Zusammenhang mit den Debatten, die Rolf Hochhuths Stück Der Stellvertreter (1963) provozierte. Verstärkt wurde sie durch den Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für die Aktivisten des Warschauer-Ghetto-Aufstands (1970), durch die amerikanische TV-Serie Holocaust (1978) sowie durch den Film Shoah (1985) von Claude Lanzmann und generell durch die wachsende Rolle, die das Fernsehen sowie Zeitzeugen im Verhältnis der Menschen zur Zeitgeschichte spielen.
Diese neue Betrachtungsweise des Kriegs wurde auch begünstigt durch das Fortschreiten der Geschichtsschreibung über die konkrete Realität von Krieg und Besatzung in den europäischen Gesellschaften. So kam es zur Infragestellung dessen, was Henry Rousso in Bezug auf Frankreich „résistencialisme“ genannt hat, sprich die von Gaullisten wie Kommunisten verbreitete These, die Franzosen hätten in ihrer großen Mehrheit ab 1940 Widerstand gegen die Besatzungsmacht und das Vichy-Regime geleistet.