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Der Gemischtwarenladen der NS-Weltanschauung

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Hinsichtlich der Praktiken ist festzustellen, dass der Nationalsozialismus und seine Verbrechen ein europäisches Phänomen darstellen. Nationalsozialisten gab es überall in Europa, von Großbritannien bis Rumänien, von den Niederlanden bis Serbien. Nirgends fiel es dem „Dritten Reich“ schwer, Mitläufer und Kollaborateure zu finden, auch für die Ausführung seiner blutigsten Unterfangen standen Helfershelfer bereit. Die Schoah wäre ohne den aktiven Beistand von französischen Präfekten und Polizisten, ungarischen Gendarmen, kroatischen Ustascha-Anhängern und baltischen wie ukrainischen antisemitischen Nationalisten undenkbar und undurchführbar gewesen. Bekanntlich hofften die Nationalsozialisten auch auf eine potenzielle Kollaborationsregierung in Großbritannien. Es ist auch hinlänglich bekannt, dass französische und skandinavische Angehörige der Ausländerdivisionen der Waffen-SS Ende April die letzten Verteidiger des Regierungsviertels in Berlin waren.

Die Motive der nationalsozialistischen Kämpfer, Killer und Komplizen aus dem Ausland waren freilich höchst unterschiedlicher Art: Das mochte in Frankreich bei einem Maurice Papon der Respekt vor Hierarchien und der legalen Ordnung sein, bei einem René Bousquet die Absicht, ein Stück nationaler Souveränität zu bewahren, bei anderen ein radikaler Antisemitismus, wohlverstandenes materielles Eigeninteresse, aber auch die tiefe ideologische Überzeugung, dass der Nationalsozialismus und seine Ziele die angemessene Antwort auf die Zivilisationskrise der Zeit darstellten.

Verschieben wir also unsere Fragestellung von den Praktiken hin zu den sie untermauernden Rechtfertigungsdiskursen, zur Ideologie oder Weltsicht der Nationalsozialisten. Der Begriff „Weltanschauung“, den die NS-Propagandisten und -Politiker den Humanwissenschaften und der Philosophie entlehnten, scheint bereits dadurch, dass er ein deutsches Wort ist, den Nationalsozialismus in die engen Grenzen Deutschlands einzuschließen. Die Nationalsozialisten betonten zudem auch, dass sie – im Unterschied zum Faschismus und zum Kommunismus – ihre Ideologie nicht als Exportartikel betrachteten. Ihre Überlegungen waren nur durch deutsches Blut verbürgt, dessen Ausdruck sie waren, und galten nur für das deutsche Volk, dem sie dienen sollten. Anderen Völkern blieb es nach Alfred Rosenberg und Otto Dietrich überlassen, sich die Weltanschauung auszudenken, die ihrer objektiven Lage und ihrer „Rasse“ entsprach. Trotz dieser Vorbehalte und Warnungen machte man sich die NS-Weltanschauung in anderen europäischen Ländern zu eigen, ja sogar darüber hinaus, wenn man an die NS-Bewegung der 1930er-Jahre in den USA denkt oder aber an die lateinamerikanischen Diktaturen nach 1945 und das Südafrika der Apartheid.

Einer der Gründe dafür ist die Tatsache, dass die NS-Weltanschauung einen regelrechten Gemischtwarenladen darstellt, ein Konglomerat von Ideen, die in der europäischen und westlichen Kultur schon lange vor 1933 anzutreffen sind, die aber von den Nationalsozialisten in den 1920er-Jahren mit Erfolg zu einem kohärenten Ganzen zusammengefasst und zugleich radikalisiert wurden, bevor man sie ab 1933 in die Wirklichkeit umsetzte. Dies gilt zuvörderst für den Rassismus, die Grundlage der NS-Weltanschauung. Die Erfassung und die Einteilung der Menschen auf phänotypischer Grundlage (nach dem physischen Erscheinungsbild) sind so alt wie das alte Griechenland. Die Hierarchisierung von Menschen sowie die entsprechende Zuweisung unterschiedlicher Aufgaben und Funktionen wurden in Zusammenhang mit der Ausbreitung Europas insbesondere in Afrika sowie in Nord- und Südamerika erneut aktuell. Aus dem Rassedenken der Gelehrten mit ihrer differenzialistischen Anthropologie wurde der Rassismus der kolonialistischen Königreiche und Staaten. Die Heimstätten des Rassismus sind im 19. Jahrhundert die großen Kolonialmächte, allen voran Großbritannien und Frankreich. In Deutschland, dieser in Übersee im Vergleich mit seinen Nachbarn unterrepräsentierten und späten Kolonialmacht, wird der Rassismus zwar als Wissenschaft betrieben, doch wird ihm geringere politische Bedeutung als in den Mutterländern der Weltreiche beigemessen. Die Nationalsozialisten konnten so in apologetischen Presseartikeln genüsslich darauf hinweisen, dass London und Paris ihre Geopolitik auf den Rassismus gründen und dass in der Sklavenhalter-beziehungsweise Rassentrennungsgesellschaft der USA weiterhin gelyncht und diskriminiert wird.

Auch der Antisemitismus ist europäisches beziehungsweise westliches Erbgut. Er ist seit Langem Teil der Religions- und Kulturgeschichte. Bevor im 19. Jahrhundert aus ihm der „wissenschaftliche“ Rassismus wurde, diente er religiöser und politischer Ausgrenzung. Vergessen wir nicht, dass die germanischen Länder und insbesondere die protestantischen nie als besonders antisemitisch galten, ganz im Gegenteil: Im Vergleich zum Osten mit seinen zahlreichen Pogromen oder zum katholischen Süden stellte das protestantische Deutschland, insbesondere Preußen, ein Refugium für die verfolgten Juden dar. Die antisemitische Verhärtung scheint erst nach 1871 eingetreten zu sein, und zwar besonders in der Phase der raschen, ja brutalen Modernisierung, die das neue Reich durchlief. Er wurde verschärft durch die Schwierigkeiten, die Deutschland während des Ersten Weltkriegs durchmachte, sowie durch die Niederlage, für die die als vaterlandslose Gesellen betrachteten Juden ebenso verantwortlich gemacht wurden wie die Linke aufgrund ihres Internationalismus. Die Spezifität des genuin deutschen Antisemitismus, der in der Obsession der Nationalsozialisten gipfelte, scheint im gesamteuropäischen Kontext erst relativ spät aufgetreten zu sein.

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