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Der „Sonderweg“
ОглавлениеErinnern wir zunächst daran, dass der Nationalsozialismus lange vor allem als rein deutsches Phänomen aufgefasst wurde, als Weltanschauung, die den langfristigen Grundtendenzen der deutschen Geschichte entsprang und vor allem von Deutschen umgesetzt wurde. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist er aber auch Streitobjekt unter den Historikern. So haben in den 1950er- und 1960er-Jahren junge Historiker wie Hans-Ulrich Wehler, Heinrich August Winkler und Thomas Nipperdey, die zur Zeit des „Dritten Reichs“ geboren wurden, also zu jung waren, um an seinen Verbrechen teilzuhaben oder um von dem, was ihr Land angerichtet hatte, traumatisiert zu sein, ihre Dissertation über die Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfasst, die sie im Licht der Katastrophe interpretierten: Was in der deutschen Geschichte, speziell ab 1848, wies voraus auf 1933? Die Antworten waren rasch zur Hand: Das Scheitern der bürgerlich-liberalen Revolution von 1848 hatte das deutsche Bürgertum daran gehindert, eine Vernunft- und Debattenkultur zu entwickeln; der Sieg der Fürsten hatte das Ancien Régime bis 1918 verlängert und so jegliche Entfaltung einer demokratischen Kultur erstickt; darüber hinaus hatte die durch den Krieg herbeigeführte deutsche Einheit eine preußische Militärkultur aufgewertet, die in Verbindung mit dem herrschenden politischen Autoritarismus die deutsche Mentalität zum starren und schwächlichen Respekt vor den überkommenen Hierarchien verfestigte. Auch die Mentalitätsgeschichte schien zu bestätigen, was die Politik- und die Sozialgeschichte feststellten: Das Scheitern von 1848 und die gewaltsam herbeigeführte Einigung von 1871 verstärkten die Folgen einer langfristig wirksamen Kultur, die in Deutschland seit der Reformation die zivile Macht des Fürstbischofs mit sakraler Weihe versah und den Untertan zu bedingungslosem Gehorsam gegenüber der Macht anhielt. Diese galt als von Gott eingesetzt, seit ein die Sozialrevolte der Bauern bekämpfender Martin Luther an das Wort des Apostels Paulus erinnerte, dem zufolge „jegliche Macht von Gott gewollt sei“. Mitläufertum, politische Unreife, Konformismus und ein maßloser Respekt vor den geltenden Normen haben deshalb, so ist vielfach zu hören, den Weg gepflastert, der folgerichtig zu 1933 und dann zur Schoah führte.
Diese These eines deutschen Sonderweg wartet mit im Detail interessanten Argumenten auf, die es auch wert sind, in ihrer Kohärenz auf den Prüfstand gestellt zu werden. Gleichwohl muss sie schon seit Langem nicht mehr als allgemeine Theorie und monokausale Erklärung der deutschen Katastrophe herhalten. Ihre Entstehung in den 1950er-Jahren in Zusammenhang mit den Traumata einer jungen Historikergeneration verweist darauf, dass sie mehr über die Geschichtsschreibung der frühen Bundesrepublik als über die deutsche Geschichte aussagt. In den 1990er-Jahren wurde sie allerdings durch das Buch von Daniel Goldhagen, einem US-amerikanischen Soziologen, wiederbelebt. Dieser behauptete, die Schoah ließe sich durch einen auf Ausrottung zielenden Antisemitismus erklären, der seit Luther in Deutschland vorhanden sei; ihn hätten die Nationalsozialisten in seiner ganzen vernichtenden Gewalt freigesetzt. Die Aussage des Buchs war dermaßen karikaturartig überzeichnet, dass viele Historiker es nicht ernst genommen haben, während die öffentliche Meinung sich darauf stürzte und damit die Vorstellung eines deutschen Sonderwegs wieder auf die Tagesordnung setzte. Entscheidend dazu trug im Jahr 1995 die Wanderausstellung „Die Verbrechen der Wehrmacht“ bei, die Millionen Deutschen die Teilnahme der Wehrmacht an den völkermörderischen Verbrechen an der Ostfront und auf dem Balkan vor Augen führte.
Fast zeitgleich ermöglichte es die Öffnung der Archive in den Ostblockländern den Historikern, eine Vielzahl von Untersuchungen zur verbrecherischen Politik des „Dritten Reichs“ in Angriff zu nehmen. Die Anzahl von Dissertationen, Monografien, Essays und Artikeln über das „Dritte Reich“ und die Schoah nahm ab den 1990er-Jahren explosionsartig zu und gestattete es, den anscheinend so gut erforschten Nationalsozialismus erneut unter die Lupe zu nehmen. Dies geschah zum einen unter dem Aspekt der kriminellen Praktiken, zum anderen auf der Ebene des Diskurses, also der Ideologie beziehungsweise „Weltanschauung“.