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Totgeschwiegen
ОглавлениеDie erwähnten großen Geschichtserzählungen gehen über die unwiderrufliche und kompromisslose Verurteilung des NS-Regimes und seiner wichtigsten Führer hinaus. Deren klarster Ausdruck ist der Nürnberger Prozess. Es geht aber parallel dazu um eine nicht minder kompromisslose Verurteilung der Kollaborateure, die freilich oft als kleine Minderheit dargestellt werden, gerade so, als ob sie ein Fremdkörper in einem Volk gewesen wären, das seinerseits in seiner Ablehnung der deutschen Besatzung sowie in der Unterstützung der Widerstandskämpfer und Partisanen einig zusammenstand. In den von NS-Deutschland besetzten Ländern, aber auch in denen, die vorübergehend seine Verbündeten oder Helfer waren (Italien, Kroatien, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Vichy-Frankreich, Norwegen und Finnland), bietet dieses heldenhafte, schwarz-weiß vereinfachte Bild des Kriegs zahlreiche Vorteile: Es ist hilfreich für die Wiederherstellung der durch den Krieg infrage gestellten nationalen Einheit, es verleiht den oft unermesslichen Leiden der betroffenen Länder einen Sinn und es liefert eine Grundlage für den Wiederaufbau, gibt diesen (insbesondere in Mittel- und Osteuropa) oft in ihren Grundfesten erschütterten Ländern eine Identität wieder und eröffnet ihnen positive Aussichten. Es gestattet ihnen auch, dunkle Aspekte der Kriegs- und Besatzungsjahre unter den Teppich zu kehren, und es erleichtert auf dem Weg der Amnestierung die stillschweigende Reintegration der meisten Kompromittierten und Verurteilten. Diese betrifft in Italien bereits im Juni 1946 die Spitzenbeamten des faschistischen Regimes, während man in Frankreich auf die Amnestien vom August 1947, Januar 1951 und vor allem August 1953 warten muss.
So ist es nur allzu verständlich, dass dieses Narrativ von den unmittelbaren Erben des „Dritten Reichs“ übernommen wurde. So stellt sich Österreich gegenüber dem Ausland als unschuldiges Kriegsopfer dar, nämlich als Land, das von NS-Deutschland im März 1938 unter Anwendung von Gewalt besetzt wurde. In der DDR wird der Antifaschismus zum Gründungsmythos des neuen Staates und seiner gesellschaftlichen Ordnung auserkoren. Die Verherrlichung des kommunistischen Widerstands, das Gedenken an die Opfer des Faschismus und die Befreiung des Landes durch die Rote Armee sowie die Errichtung einer Vielzahl von Monumenten zu Ehren der Kämpfer der ruhmreichen Sowjetunion sowie von Gedenkstätten an zentralen Orten des NS-Terrors machen in ihrer Summe aus den Einwohnern der DDR ein Volk von Widerstandskämpfern, Opfern des Faschismus und Unterstützern der Sowjetunion. In der Bundesrepublik schließlich wird die zumindest in der Theorie bedingungslose Verurteilung der NS-Diktatur von Rechtfertigungsstrategien begleitet, die insofern durchaus wirksam sind, als sie die Jahre 1933 bis 1945 als Parenthese der deutschen Geschichte erscheinen lassen. Sie räumen zwar ein, dass sich zahlreiche Deutsche von Hitler und seiner Clique haben verführen lassen, doch wurde angeblich die deutsche Gesellschaft als solche nicht angesteckt. Zudem betont man den Mut und die Entschlossenheit der Verschwörer vom 20. Juli 1944, die als echte Widerstandskämpfer dargestellt werden.
Diese Meistererzählung erfasst schließlich auch die neutralen Länder. Schweden und die Schweiz verweisen auf ihren Mut und ihren Patriotismus, dank derer sie Oasen der Freiheit und des Friedens inmitten der Tyrannei und eines vom Krieg zerstörten Europas bleiben konnten, aber auch auf ihre Menschlichkeit, ihre Offenheit für Flüchtlinge und auf die Unterstützung der Opfer – so etwa im Fall der Schweiz in Form des Roten Kreuzes und im Fall Schwedens in Gestalt von Graf Folke Bernadotte und Raoul Wallenberg. Franco-Spanien bleibt seinerseits sehr diskret, was die Sympathien des Caudillo für Hitler und die Entsendung von spanischen Freiwilligen an die Ostfront angeht, lieber spricht man von seiner strikten Neutralität, stellt diese als Form des Widerstands dar und verweist auf die – zum Teil offiziellen – Initiativen zur Aufnahme vieler Juden, die vor der Verfolgung durch den Nationalsozialismus flohen.