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„A kidnapped West“

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Dies ist aber nur eine Teilperspektive. Solange die Oppositionellen nach der Erwähnung von „Yowta“ in melancholisches Schweigen verfielen, konnte es der Partei nur recht sein. Zwar durfte sich die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei im Alltag nicht auf das Schicksal berufen – offiziell galt der Aufbau des Sozialismus als Privileg, nicht als Pflichtübung –, dennoch war „Jalta“ ein praktikables Drohmittel gegen jede gesellschaftliche Emanzipationsbestrebung: Das würden die Sowjets sich nicht gefallen lassen und die waren nun mal ab 1945 realiter der Hegemon. Der Verrat des Westens, auf den man sich weder im echten noch im Kalten Krieg verlassen konnte, passte bestens in dieses Bild.

Es waren dann auch Bilder – wenn wir so wollen: Konstrukte –, die Jalta wieder lebendig machten. 1984 verarbeitete der legendäre, damals im Exil lebende Barde der Solidarność-Generation Jacek Kaczmarski das Motiv des westlichen – eigentlich nicht Verrates, sondern schlichten – Desinteresses, das er der konsequenten sowjetischen Expansions- und Unterdrückungspolitik gegenüberstellte, zu einem Song unter dem Titel Jalta. Die gleichermaßen sarkastische wie plastische Verformung der Krim-Konferenz wurde zu einem Hit – allerdings nur in Polen.

Im selben Jahr veröffentlichte Milan Kundera seinen Essay A kidnapped West or the Tragedy of Central Europe. Obwohl die meisten westlichen Leser mit Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn als „kidnapped West“ anfangs wenig anzufangen wussten, machte diese Konstruktion eine internationale Karriere, was wiederum einer Erklärung bedarf. Tschechen, Slowaken und Ungarn waren von Jalta im wörtlichen Sinn nicht betroffen; die Entscheidungen über ein staatssozialistisches Ungarn beziehungsweise eine ebensolche Tschechoslowakei waren woanders gefallen. Folglich gebrauchten sie die Chiffre nicht, beklagten hingegen, sie seien von der Sowjetunion in den Osten entführt worden. Polnische Oppositionelle beteiligten sich an der Debatte und führten „Jalta“ als Metapher – symbolischen Ort, wenn wir so wollen – in diesen bemerkenswert transnationalen Meinungsaustausch der Dissidenten ein. Es funktionierte nur halbwegs. Der „kidnapped West“ war für westliche Leser exotisch genug, vielleicht konnte ein Intellektueller in Wien oder Triest mehr damit anfangen als mit Jalta. In London oder Rom wie auch – obwohl weniger – in Paris blieben beide Begriffe Fremdwörter.

Damit sind wir bei dem Jahr 1989 angekommen. Auf der geschichtskulturellen Agenda der Europäischen Gemeinschaft stand der 200. Jahrestag der Französischen Revolution. Im Verlauf des Sommers war der Jahrestag schnell vergessen. Aus westlicher Sicht plötzlich und völlig unerwartet, entstand eine ganz andere Tagesordnung: der Zusammenfall des Outer Empire der Sowjetunion und ein Jahr danach die Wiedervereinigung Deutschlands. Das Stichwort Jalta spielte außerhalb Polens wohl keine Rolle. Nur hier warnte das Organ der Polnischen Arbeiterpartei, die Aufhebung der symbolischen Interessensphären (Jalta) bedeute eine Infragestellung der polnischen Westgrenze: „[…] entgegen allem Anschein herrscht noch immer das Argument der Macht und nicht die Macht des Arguments […] Die Infragestellung der Aktualität der Beschlüsse von Jalta ist somit gleichbedeutend mit der Sprengung der Fundamente der territorialen Integrität unseres Staates.“ Die polnischen Staatssozialisten irrten sich gründlich. In den Zwei-plus-vier-Verhandlungen wurde nicht Jalta abgearbeitet, sondern Potsdam.

Heute alles vergessen? Nicht wirklich und diese Erinnerung verdanken wir dem deutschen Historiker Stefan Troebst, der vor Kurzem auf die Rede hinwies, die der russische Staatspräsident Vladimir Putin am 28. September 2015 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York hielt. Darin lobte er das „System von Jalta“ mit folgenden Worten: „Wenn wir objektiv sind, so half es der Menschheit, das turbulente und oft dramatische Geschehen der letzten 70 Jahre zu überstehen, und bewahrte die Welt vor weitreichenden Erschütterungen.“

Die Akte Jalta, das heißt ein von den Großmächten kontrolliertes, säuberlich in Einflusssphären geteiltes Europa, liegt in Moskau nicht im Politischen Archiv der Gegenwart, sondern auf dem Schreibtisch der Entscheidungsträger. Solange dies der Fall ist, wird Jalta ein lebendiger „lieu de mémoire“ bleiben.

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