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Determinanten menschlichen Handelns

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Unter dem Berg an Quellen, den das Dritte Reich hinterließ, sind verlässliche Aufschlüsse über Handlungsmotive nicht immer leicht zu finden. Die rassistische Basisideologie des NS-Regimes beeinflusste, wie sich die Handelnden artikulierten, und verschränkte sich mit sekundären, taktischen oder „praktischen“ Legitimierungen. Der häufige Vorwurf etwa, italienische Funktionäre auf dem Balkan hätten Juden lediglich aus Bestechlichkeit oder anderen utilitaristischen Gründen beschützt, mag in Einzelfällen zutreffen, sollte jedoch nicht vergessen lassen, dass mit dem Vorbringen altruistischer Motive und moralischer Kritik beim deutschen Bündnispartner eher der gegenteilige Effekt als der erwünschte erzielt wurde – materielle Vorteilsnahme schien demgegenüber unverfänglich. Das gleiche gilt für Motivationsäußerungen von Deutschen, die – bis hin zum Eingeständnis eigener Schwäche – jeden Anschein grundsätzlicher Obstruktion bei der Kritik an Aspekten der Judenverfolgung zu vermeiden suchten und sich stattdessen der Idiome einer als Notwendigkeit allgemein anerkannten „Endlösung“ bedienten.

Nach dem Krieg kehrte sich dieses Legitimationsmuster um, ohne die Identifikation relevanter Motive zu erleichtern: nun bemühten sich die Mordverdächtigen, vom Strafgesetzbuch inkriminierte „niedere Beweggründe“ wie Hass oder Gier abzustreiten. Die Behauptung, „nur Befehle befolgt“ zu haben, gehörte denn auch zu den langlebigsten Stereotypen deutscher Nachkriegserinnerung, vorgebracht von Spitzenfunktionären wie OKW-Chef Wilhelm Keitel in Nürnberg über den Deportationsexperten Adolf Eichmann bis hin zu niederrangigen Polizisten.3 Bereits vor Kriegsende verfestigte sich der Mythos vom Nationalsozialismus als rigidem Befehls- und Gehorsamsstaat, der keinen Raum gelassen habe für individuelle Entscheidungsfreiheit oder dynamische Partizipationsprozesse4; gleichzeitig verschwanden in der Geschichtsschreibung die eigentlichen Taten, Tatorte und Tatfaktoren hinter einer verallgemeinernden, mechanistischen Gesamtsicht. Fast genauso konturlos wie die Opfer wirkten die Täter, besonders jene, die auf den mittleren Ebenen „des Systems“ für seine genozidale Radikalisierung gesorgt hatten.5 In den letzten Jahren hat die Forschung in Gestalt des sogenannten voluntarist turn eine neue Richtung eingeschlagen, die sich von den Apologien der Nachkriegszeit dezidiert abwendet.6

Doch auch die Fokussierung auf ideologische Motive als Erklärungsfaktoren für die enthusiastische Teilnahme am Massenmord birgt Probleme. Sie werden sichtbar weit außerhalb des vom Streben nach Strafvermeidung geprägten Kontexts deutscher Nachkriegsaussagen am Beispiel bereits verurteilter Täter des Genozids in Ruanda. Auf der Basis von Interviews mit zehn Hutus aus der Region Nyamata stellt der Journalist Jean Hatzfeld fest, dass kaum einer dieser wegen mehrfachen Mordes bestraften Männer von tiefsitzendem Hass auf ihre Tutsi-Opfer geleitet worden sei; lediglich einige gaben an, vor ihrer Tat vage Vorurteile oder Bedrohungsvorstellungen gehabt zu haben. Doch im Laufe der Morde veränderte sich die mentale Disposition: Hass, zitiert Hatzfeld einen der Männer, „came with the moment of killing. I adopted it by imitation and convenience.“ Ein Anderer meinte, „to kill so many human beings without thinking, it is necessary to hate without indecision“.7 Stark vereinfacht gesagt, diente Hass hier nicht als Ursache der Morde, sondern war ihre Folge. Wenn sich schon mit Blick auf exponierte Aktivisten des Genozids die Frage nach der Bedeutung relevanter Handlungsfaktoren nicht im Hinweis auf Hass erschöpfen kann, so gilt dies umso mehr für die breite Mehrheit der direkt oder indirekt Tatbeteiligten.

Während etablierte bürokratische Instanzen im Vorfeld der „Endlösung“ eine zentrale Rolle spielten, waren es neue Organisationen wie SS, Vier-Jahresplan-Behörde und Besatzungsverwaltungen, die die NS-Vernichtungspolitik entsprechend Hitlers ideologischer Präferenzen vorantrieben. In Wehrmacht, Waffen-SS und Polizei, besonders in den Einsatzgruppen, prägten ideologisierte Führer die mentale Binnenstruktur – ein Phänomen, das sich analog auch für die UdSSR unter Stalin feststellen lässt. Dort spülten „Säuberungs“-Wellen Linientreue und anpassungsfähige Opportunisten nach oben; Vorgaben und Erwartungen „von oben“ mischten sich mit Handlungsbereitschaft „von unten“ und beschleunigten so die radikalisierende Dynamik.8 Zwar waren deutsche Bürokraten im Nationalsozialismus einem wesentlich geringeren Terrordruck ausgesetzt als sowjetische Funktionäre in der UdSSR, doch prägten Opportunismus und andere Interessen die Strukturen beider Systeme. Mitgliedschaft in der Partei oder einer ihrer Eliteformationen erhöhten Aufstiegschancen in Beruf und Gesellschaft; je aktiver das Regime junge Talente förderte und ihren Ethos prägte, umso stärker durchdrang ein neuer, wettbewerbsorientierter Geist auch die staatliche Verwaltung.

Instanzendarwinismus und professioneller Selektionsdruck lassen sich auch für andere moderne Gesellschaften nachweisen;9 „the most basic goal of any bureaucrat or bureaucracy“, konstatiert Michael Herzfeld, „is not rational efficiency, but individual and organizational survival“.10 In NS-Deutschland verstärkte diese Interessenlage unabhängig von der ideologischen Durchdringung der Funktionäre das Gerangel von Staats- und Parteibürokratie um Kompetenzhoheit beim ungebremsten Ausbau der Rassen- und Ausbeutungspolitik. Doch wurde der Herrschaftsalltag im Dritten Reich weder von internen Konflikten dominiert noch wirkten sie sich zwangsläufig negativ auf die Effizienz des Systems aus.11 Wo Streitigkeiten zwischen Vertretern verschiedener Instanzen beigelegt wurden, konnte dies wegweisend für das weitere politische Vorgehen wirken12; wo Hitler direkt intervenierte, selbst wenn es sich nur um die Bestätigung von Gewinnern im Kompetenzwettstreit handelte, gab er die Richtung zukünftigen Handelns vor. Seine persönliche Autorität übertrug sich auf die kleine Gruppe der ihm unmittelbar untergebenen Funktionäre wie den Chefs der Reichs- und Parteikanzlei sowie auf eine wachsende Zahl mit Sondervollmachten ausgestatteter Kommissare, zu denen auch Himmler in seiner Funktion als „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ gehörte.13

Auf der untersten Ebene der NS-Bürokratie manifestierte sich dieser Prozess als persönliche Adaption nachgeordneter Verwalter, deren Karrieren oft von der Weimarer Republik über das Dritte Reich bis in die Bundesrepublik reichten.14 Mochte diese Anpassungsfähigkeit in Einzelfällen einer dezidierten Dienstethik entsprungen sein, so galt sie für Viele doch als Weg des geringsten Widerstands – ein Weg, den unter deutscher Besatzung auch Beamte in den Niederlanden oder auf den Channel Islands gingen.15 Wer sich dem herrschenden Regime stärker anpasste, hatte bessere Chancen nach Maßgabe des allgemein anerkannten Leistungsprinzips Karriere zu machen. Selbst die nationalsozialistische „Elite innerhalb der Elite“ – die Männer in Himmlers SS-Hauptämtern – bestand neben mehr oder weniger überzeugten Rassisten auch aus apolitischen Karrieristen.16 All dies entsprach dem von Ian Kershaw herausgearbeiteten NS-Prinzip, „dem Führer entgegenzuarbeiten“, indem Beamte und andere Funktionsträger intuitiv und initiativ das taten, was die Regimespitze angedeutet, aber nicht explizit angeordnet hatte.17 Ein ausgeprägter Übereifer kennzeichnete insbesondere das Handeln der maßgeblich am Judenmord beteiligten SS-Männer und Polizisten.18

Dass vorauseilender Gehorsam kein spezifisch deutsches Phänomen ist, zeigt der historische Vergleich. David Rieff zitiert einen Iraker, der in den 1990er Jahren das Regime Saddam Husseins beschreiben sollte, mit den Worten: „You have to understand: this was a system where everyone knew what was expected of them. Most of the time, we didn’t even have to be told what to do.“19 Im Sowjetsystem gab ein Gefühl „angemessener“ Politik die Richtung vor, das insbesondere NKWD- und lokale Funktionäre für ihre radikalisierenden Massnahmen nutzten. Sie handelten dabei, wie die SS- und Polizeioffiziere in den ersten Wochen nach dem Überfall auf die Sowjetunion, im Rahmen ihrer beträchtlichen, durch das Fehlen klarer Anordnungen „von oben“ noch erweiterten Entscheidungsfreiheit.20 Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass unter Stalin – anders als im Nationalsozialismus – Verfolgungswellen mit einer Entscheidung der Regimespitze begannen und endeten.21

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