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Ostfriesland: Bruno Müller provoziert einen Schnellbrief aus dem RSHA
ОглавлениеAm26. Januar suchte ein SS-Mann Abraham W. Wolffs, den jüdischen Gemeindevorsteher in Aurich, auf und verlangte von ihm mitzukommen. Doch dieser lag mit einem Ischiasanfall im Bett; der SS-Mann nahm daher dessen Sohn Wolf Wollfs zu einem Treffen mit Gestapovertretern im Landratsamt von Aurich mit. Dort wurde der Vater kurzerhand seines Amtes enthoben und stattdessen der Sohn eingesetzt, den nun der „Gestapoleiter“ (vermutlich Bruno Müller) zu der Selbstverpflichtung zwang, für die Auswanderung oder den Umzug aller Juden aus dem Kreis Aurich in andere Städte zu sorgen. Bis zum 10. Februar war ein entsprechender Vorschlag einzureichen.17 In anderen Kreisen und Städten im Bereich der Stapostelle Wilhelmshaven, in denen noch jüdische Gemeinden existierten, fanden ähnliche Besprechungen statt. Am 1. Februar suchten „die Leiter der Bezirksstelle der Juden in Hamburg und Hannover“ Müller in Wilhelmshaven auf, um mit ihm den Umzug der Juden aus seinem Zuständigkeitsbereich in andere Orte des Reiches im Einzelnen zu besprechen.18
Am selben Tag informierte Bruno Müller das RSHA über seine Absichten. In seiner Mitteilung umriss Müller zunächst die „erhebliche Gefahr“, welche die Juden in Ostfriesland und Oldenburg angeblich für das Reich darstellten: Sie könnten – als Erdarbeiter bei Tiefbaufirmen – den Fortgang sensibler Bauprojekte in Wilhelmshaven verfolgen, führen mit fahrplanmäßigen Arbeiterzügen in die Stadt und seien deshalb in der Lage, die Stimmung der Arbeiter kennenzulernen und „gegebenenfalls ungünstig zu beeinflussen“. Ferner hätten sie Gelegenheit, den Schiffs- und Zugverkehr, „besonders Militärtransporte“, zu beobachten und „geheimzuhaltende Angelegenheiten der Kriegsmarinewerft“ aufzuschnappen. Seiner Behauptung zufolge waren „fast alle“ Juden, die in Wilhelmshaven wohnten oder arbeiteten, „irgendwie mit in Holland wohnhaften Juden versippt und verschwägert“; daher drohten „für die Landesverteidigung und Sicherheit des Reiches wichtige Angelegenheiten“ nach Holland „übermittelt“ zu werden, wo wiederum der „feindliche Nachrichtendienst“ an solchen Informationen interessiert sei. „Soeben19 teilt mir die Gauleitung der NSDAP – Weser-Ems mit“, so Müller weiter, „dass verschiedene Juden im Landkreis Norden ihre Zeit damit verbringen, Spaziergänge in die Nähe von militärischen Bauvorhaben zu unternehmen.“ Kurz: Da die Juden sich frei in Oldenburg und Friesland bewegen dürften, komme es zu einem „unkontrollierbaren Verkehr zwischen den versippten Juden“ beidseits der Grenze, unterstützt noch von der einheimischen ländlichen Grenzbevölkerung, die „enge […] Bindungen“ zu den Juden unterhalte, da diese „früher durchweg als Viehhändler tätig“ gewesen seien.
Müller schlug daher vor: „Die einzige im Augenblick mögliche Lösung sehe ich darin, dass die Juden aus dem hiesigen Grenzbezirk in das Innere des Landes abgeschoben werden, zumal eine diesbezügliche Rundfrage ergeben hat, dass eine große Anzahl Juden Verwandte in innerdeutschen Städten hat, die sehr gut noch ein oder 2 Personen bei sich aufnehmen könnten.“ Er ließ das RSHA wissen, dass „die Unterbringung im Inneren des Reiches“ geregelt sei; er habe die „Leiter der jüdischen Kultusvereinigungen in den einzelnen Kreisen und Städten [aufgesucht] und ihnen die Auflage erteilt, ihren Umzug in eine Stadt Innerdeutschlands in Angriff zu nehmen, ohne jedoch einen Termin festzusetzen“. In diesem Zusammenhang erwähnte er auch das Treffen mit den Bezirkstellenleitern der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RVJD) vom selben Tag. „Ich bitte“, schloss Müller, „das grundsätzliche Einverständnis mit meinen bisher getroffenen Maßnahmen zu erklären und betr. der Regelung des Zuzugsverbotes in anderen Städten von Fall zu Fall zu entscheiden.“ Er werde das RSHA auf dem Laufenden halten und „weitere, ins Einzelne gehende Vorschläge unterbreiten“.20
Elf Tage später gab das Referat IV D 3 (Minderheiten, Vertrauensstellen, Juden) des RSHA einen Schnellbrief heraus, mit dem der unterzeichnende Gestapochef Heinrich Müller nach allgemeiner Auffassung eine neue Stufe in der Verfolgung der deutschen Juden im sogenannte Altreich einleitete. Interessanterweise liest sich Heinrich Müllers Schreiben stellenweise wie eine direkte Erwiderung auf Bruno Müllers Vorstoß. Der Gestapochef konstatierte: „In einer Reihe von Bezirken des Reiches sind von verschiedenen örtlichen Dienststellen Anordnungen ergangen, durch die die Freizügigkeit von Juden beschränkt wird. In letzter Zeit haben sich aus solchen Anordnungen Schwierigkeiten bei der Unterbringung von Juden dadurch ergeben, dass diese Anordnungen nur die rein örtlichen Interessen berücksichtigen und nicht auf die Belange des übrigen Reichsgebietes abgestimmt waren. Da die Juden andererseits durch ein freies und unkontrollierbares Umherziehen der notwendigen Überwachung entgehen, beabsichtige ich, diese Frage reichseinheitlich zu regeln und darauf hinzuwirken, dass die Juden im Laufe der Zeit innerhalb einer Provinz an geeigneten Orten konzentriert werden.“21
Auch wenn Heinrich Müller zu Beginn von einer „Reihe von Dienststellen“ spricht, sind die Bezüge zu Bruno Müllers Schreiben deutlich.22 Was Bruno Müller ausführlich als Ausgangspunkt für die vermeintliche Bedrohung durch die Juden in seinem Zuständigkeitsbereich schildert – die Tatsache, dass sie sich auf ihrem Weg von und zu ihrer Arbeitsstätte frei bewegen dürfen, dass sie Spaziergänge unternehmen, Verkehr mit Einheimischen pflegen und Informationen für den Feind sammeln –, verkürzt der Gestapochef zu „Freizügigkeit“. Während Bruno Müller versichert, dass „die Unterbringung der Juden im Inneren des Reiches […] geregelt werden“ konnte und die „Schwierigkeiten nicht so erheblich“ seien, lässt sein vorgesetzter Namensvetter die Stapo(leit)stellen wissen, es hätten sich durchaus „Schwierigkeiten bei der Unterbringung der Juden“ ergeben. Bruno Müller hatte das RSHA mit seiner Mitteilung lediglich über die unternommenen Schritte informiert und nachträglich um das „Einverständnis mit meinen bisher getroffenen Maßnahmen“ gebeten; Heinrich Müller stellte demgegenüber klar, dass die fraglichen Anordnungen „nicht auf die Belange des übrigen Reichsgebietes abgestimmt waren“. Sogar Bruno Müllers Hinweis auf den „unkontrollierbaren Verkehr zwischen den versippten Juden“ scheint der Gestapochef aufzugreifen, wenn es im Schnellbrief heißt, dass „die Juden […] durch ein freies und unkontrollierbares Umherziehen der notwendigen Überwachung entgehen“. Und während der Leiter der Stapostelle Wilhelmshaven um die fallweise Aufhebung von Zuzugsverboten bittet, ist dem Schnellbrief eine „Übersicht über die Orte, in die ein Zuzug in Betracht kommt“ beigefügt. Trotz dieser Rüge wurde Bruno Müller nicht gestoppt. Die Deportation der Juden aus seinem Regierungsbezirk ins Reichsinnere lief an.23