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Schneidemühl: Heinrich Müllers Schnellbrief wird missverstanden

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An demselben Abend, an dem Heinrich Müller den Schnellbrief mit der Übersicht möglicher „Zuzugsorte“ zur Konzentration der Juden im Altreich herausgab, wurde die jüdische Bevölkerung Stettins nach Polen deportiert.24 „Dieser Schnellbrief und die Tatsache, dass er das Datum der Verschleppung von sogenannten Altreichsjuden [aus Stettin] trug“, so folgern Peter Klein und Andrej Angrick, „muss auf die Gestapo-Stellen im Reich wohl wie eine Aufforderung gewirkt haben, im eigenen Bezirk Vorbereitungen für Deportationen zu treffen“.25 Im hundertfünfzig Kilometer östlich von Stettin gelegenen Schneidemühl – das in der beigefügten Zuzugsliste als Sammelstelle für die Juden aus der Provinz Pommern genannt ist – zogen die Verantwortlichen jedenfalls rasch Konsequenzen, kaum dass der Schnellbrief eingetroffen war. Am 15. oder 16. Februar erfolgte die Ankündigung, dass die Juden aus Schneidemühl deportiert werden sollten.26 Zu der Entschlossenheit mag beigetragen haben, dass dieser Regierungsbezirk demselben Gauleiter unterstand wie Stettin. Im RSHA scheint man von diesem Vorhaben anfangs nichts gewusst zu haben. Als Dr. Paul Eppstein, der Verbindungsmann der RVJD zur Gestapo, am 19. Februar 1940 bei seinem regulären Gesprächspartner Walter Jagusch, dem damaligen Leiter des Referats IV A 5 (Emigranten) im RSHA, vortrug, erklärte Jagusch, dass die Stettiner Deportation „aus besonderen Gründen ein Sonderfall“ gewesen sei. Als Eppstein ihn jedoch auf den „Bericht über die Ankündigung des Abtransports der Juden im Bezirk Schneidemühl“ ansprach, räumte Jagusch ein, dass das RSHA diese nicht angeordnet habe, und sagte, er werde die zuständige Stapostelle kontaktieren.27 Kurioserweise scheint sogar die US-Botschaft in Berlin früher als Jagusch darüber informiert gewesen zu sein, was sich in Schneidemühl zusammenbraute. Der Geschäftsträger Alexander Kirk hatte den amerikanischen Außenminister bereits am Abend des 16. Februar telegrafisch über den Erlass einer Anordnung in Kenntnis gesetzt, welche „die Entfernung der Juden aus der Stadt Schneidemühl binnen einer Woche“ betreffe.28

Am 21. Februar wurden die Juden aus dem Regierungsbezirk in der Stadt Schneidemühl „zusammengezogen“ und in „notdürftigen“ Unterkünften untergebracht. Das RSHA stand damit relativ unvorbereitet vor dem Problem, dass dort 544 Juden auf ihren Abtransport nach Polen warteten.29 Die Stettiner Lösung – eine Deportation der Betroffenen in den Distrikt Lublin – ließ sich jedoch nicht wiederholen. Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, hatte Reichsmarschall Hermann Göring erst zwei Tage zuvor geschrieben, dass Juden aus dem Altreich „derzeit nicht in das Generalgouvernement evakuiert werden“.30 Der Hinweis von Eppstein an Jagusch scheint dem RSHA jedoch zumindest genügend Zeit gegeben zu haben, eine Teillösung zu veranlassen. Schon am 22. Februar wurden 104 Juden aus Schneidemühl in das Hachschara-Lager Landwerk Neuendorf südöstlich von Berlin abgeschoben.31 Keine Woche später, am 27. Februar, brachte man weitere 17 in ein jüdisches Krankenhaus und ein Siechenheim nach Berlin.32 Kirk telegrafierte nach Washington: „Man hat provisorisch eine Abmachung getroffen, dass die Schneidemühler Juden nicht nach Ostpolen […] sondern in andere Reichsgebiete verlegt werden.“33 Das erinnert an die Lösung der Stapostelle Wilhelmshaven. Dennoch passierte zunächst nichts; die Juden blieben in den Schneidemühler Notunterkünften – einem „Altersheim“34 und einem umfunktionierten Restaurant – interniert. Erst am 11. März ging erneut ein Transport ab.

Diesmal wurden 165 Menschen deportiert, und zwar nach Posen, in ein ehemals polnisches Gebiet, das mittlerweile dem Reich einverleibt worden war.35 Ziel des Transports war ein Lager, das die Umwandererzentralstelle in Glowna als Sammelstelle für Polen, Juden und Roma eingerichtet hatte, die in das Generalgouvernement abgeschoben werden sollten.36 Wie es dazu kam, dass diese 165 Juden nach Glowna geschickt wurden, ist den überlieferten Dokumenten nicht zu entnehmen37; doch es hätte gar nicht erst dazu kommen dürfen. Eichmann war über diese Aktion offenkundig nicht informiert, wie Eppstein nach einem Treffen berichtete, das am Nachmittag des 13. März stattgefunden hatte: „ein Abtransport nach Polen [könne] nicht erfolgt sein, weil dies ihm [Eichmann] hätte bekannt sein müssen. Wenn es sich um einen Abtransport nach Posen handle, so könne dies noch mit der Durchführung der Stettiner Maßnahmen zusammenhängen.“38 Eichmann muss umso verblüffter gewesen sein, als Reichskanzlei und Auswärtiges Amt ein anonym zugesandtes Schreiben erhielten, in dem es hieß, die Schneidemühler Juden seien in dieselben Ortschaften im Distrikt Lublin abgeschoben worden wie die Stettiner Juden.39 Das Auswärtige Amt bat Eichmann daraufhin um Stellungnahme. Im Rückgriff auf Formulierungen, mit denen Heydrich am 30. Januar die Deportation aus Stettin gerechtfertigt hatte, behauptete Eichmann, die Deportation nach Posen sei „wegen Wohnungsmangels in Schneidemühl (hervorgerufen durch die überaus starke Inanspruchnahme der Stadt von Seiten der Wehrmacht)“ notwendig geworden. Wenn Angricks und Kleins Deutung der Schneidemühler Ereignisse, dass es sich um eine Fehlinterpretation des Erlasses vom 12. Februar gehandelt habe, zutrifft, dann hätte Eichmann dies einem Reichsministerium gegenüber kaum zugeben können. Sich Heydrichs Sprachregelung zu Eigen zu machen, war in diesem Zusammenhang also durchaus vernünftig. Eichmann fügte noch hinzu, die „dortige Stapostelle“ sei für die Schneidemühler Operation verantwortlich, was Angricks und Kleins Hypothese stützt. Eichmann versicherte dem Auswärtigen Amt, dass die Juden in den Regierungsbezirk Schneidemühl zurückgeholt würden, und zwar in „neue Wohnungen“ [!] außerhalb der Stadt, und dass das RSHA solche Deportationen in das Generalgouvernement nicht dulde, da sie gegen die Vereinbarungen mit dem Generalgouverneur verstießen.40 Die nach Glowna Deportierten wurden tatsächlich bald wieder ins Altreich gebracht, wenn auch nicht in den Regierungsbezirk Schneidemühl, sondern in drei Transporten zwischen dem 2. und 6. April 1940 nach Neuendorf, Radinkendorf bei Neuendorf, Berlin und Bielefeld.41

Inmitten der Bemühungen, die Deportation nach Glowna rückgängig zu machen, scheint man sich im RSHA erneut an Bruno Müllers Vorgehensweise in Ostfriesland und Oldenburg orientiert zu haben. Doch anstatt die Verteilung der Schneidemühler Juden auf das Altreich selber vorzunehmen, übertrugen die Beamten diese Aufgabe der RVJD, die bis zum 26. März einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten sollte.42 Wie im Falle der Juden aus dem Stapobezirk Wilhelmshaven wurden in der Folge die Juden aus dem Regierungsbezirk Schneidemühl nach und nach abtransportiert und in Altersheimen, Kinderheimen, Krankenhäusern, Siechenheimen und anderen jüdischen Einrichtungen im Reich untergebracht. Die meisten lagen in Berlin, es gingen aber auch weitere Transporte nach Radinkendorf und Neuendorf. Im Spätsommer 1940 legte die RVJD den Unterbringungsplan für die letzten 29 in Schneidemühl verbliebenen Juden vor, die nun ebenfalls nach Berlin geschickt werden sollten. Von diesen unterschiedlichen Aufenthaltsorten aus wurden die Schneidemühler Juden – sofern sie nicht bereits ihrem Alter oder Krankheiten erlegen waren – vom Herbst 1941 an mit verschiedenen Transporten in den Osten deportiert. Ein ähnliches Schicksal ereilte die im Altreich verstreuten Juden aus Oldenburg und Ostfriesland.

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