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Hipparchos Athen, Juli 514 v. Chr.
ОглавлениеVon Astrid Möller
Im Juli des Jahres 514 v. Chr. verübte das Freundespaar Harmodios und Aristogeiton während des Festes der Großen Panathenäen einen Anschlag auf die Söhne des Peisistratos, des im Jahre 527 verstorbenen Tyrannen von Athen, in dessen Verlauf zwar Hipparchos getötet wurde, Hippias hingegen überlebte. Nach der Ermordung seines Bruders führte Hippias die Tyrannis noch vier Jahre fort, und das – da sind sich die Quellen einig – mit viel härterer Hand als zuvor, bevor er schließlich mit der gesamten Familie vertrieben werden konnte.
47 Jahre waren zur Zeit des Attentats vergangen, seit Peisistratos das erste Mal versucht hatte, die Tyrannis in Athen zu erringen. In zwei weiteren Anläufen war es ihm schließlich gelungen, die Herrschaft dauerhaft an sich zu reißen und sie sogar auf seine Söhne zu übertragen. Dies war keine Selbstverständlichkeit, denn es liegt in der Struktur dieser Art von aristokratischer Herrschaft, dass sie sich nicht leicht von Generation zu Generation vererbt. Die Betonung der Einzelpersönlichkeit und deren individualistisch-agonaler Ethik führte fast zwangsläufig zu ständigen Auseinandersetzungen zwischen Adligen und ihren Anhängern, deren permanenter Konkurrenzkampf die Tyrannis immer wieder als unbeständige, eng an die Person des Tyrannen gebundene Ordnung entstehen ließ.
Die zwangsläufige Instabilität dieser übersteigerten aristokratischen Herrschaftsform führte dazu, dass sich kaum ein Tyrann lange an der Macht halten konnte oder diese gar auf seine Söhne übertrug. Obwohl die jeweiligen Gegner der Tyrannis nur auf den geeigneten Augenblick warteten, um den verhassten Alleinherrscher oder dessen ganze Familie loszuwerden, konnte sich kein aristokratisches Anti-Tyrannis-Programm entwickeln, war es doch Ziel eines jeden Aristokraten, besser als die anderen zu sein. Erst die Entwicklung der Demokratien und Oligarchien ab dem 5. Jahrhundert v. Chr., als deren Gegenbild sich die tyrannische Herrschaft zur Unrechtsherrschaft entwickelte, ließ die Vorstellung des grausam und willkürlich herrschenden Tyrannen entstehen. In der archaischen Zeit führten die Machtkämpfe selten zur Tötung des Tyrannen, häufiger zu dessen Verbannung, es wurde sogar vom Tyrannenmord abgeraten. Theognis von Megara warnte seine aristokratischen Standesgenossen davor, einen Tyrannen zunächst zu unterstützen und ihn dann umzubringen. Die Tyrannen, die in der späteren Überlieferung den Tod für ihre gewaltsame und häufig grausame Herrschaft erleiden, sind meist so schematisch dargestellt, dass begründete Zweifel an der Überlieferung bleiben. Der griechische Begriff für Tyrannentöter (tyrannóktonos) erscheint im Übrigen erst im 1. Jahrhundert v. Chr. bei Diodor (16,14,1), bezogen auf ein Ereignis des Jahres 358 v. Chr.
Bei der Formung des Bildes vom grausamen Tyrannen und seiner notwendigen Beseitigung durch Tötung spielte Athen eine herausragende Rolle: Die Ermordung des Hipparchos, obwohl sie gar nicht den Sturz der Tyrannis bewirkte, wurde zum Vorbild für die Befreiung von ihr. Darüber hinaus wurde die Tötung des Hipparchos zum Gründungsmythos der athenischen Demokratie. Allerdings bleibt die Frage, wie die sich ausbildende Tradition identitätsstiftend für die demokratische Polis werden konnte, wo es sich doch zunächst um die Tat zweier Aristokraten handelte, deren Motive zumindest nicht unumstritten sind.
Die Tat des Harmodios und Aristogeiton fand zu einer Zeit statt, als die kollektive Erinnerung noch weitgehend auf mündlichen Traditionen basierte. Gerade die Überlieferungen zur Vertreibung der Tyrannen bieten ein klassisches Beispiel für mündliche Traditionen, an denen sich deren vereinfachende Natur und allgemeine Ungenauigkeit zeigen läßt. Dieser Makel ist freilich keineswegs das Ergebnis gezielter Manipulation oder der bewussten Fälschung von Fakten, um ein naives Publikum zu täuschen, sondern das Resultat einer Kommunikationsgemeinschaft, die ihre Bilder und Überzeugungen sowohl kollektiv schuf als auch interpretierte. Mündliche Traditionen sind nicht nur ungenau und vereinfachend, sie unterliegen auch dem Vergessen: Gruppen behalten nur, was in ihrer jeweiligen Gegenwart noch von Bedeutung ist. Die Erinnerung wird umgeformt, um den gegenwärtigen Realitäten zu entsprechen, sonst verschwindet sie. Unter diesen Umständen können wir nicht erwarten, dass sich ein „Wie es eigentlich gewesen“ (Leopold von Ranke) aus den Quellen herausdestillieren ließe. Nachvollziehbar scheint alleine die Art und Weise, wie die Tyrannentöter zu Heroen des neuen Systems der Gleichheit und schließlich auch der Freiheit wurden.
Gleich nach dem Sturz der Tyrannis, womöglich auch schon gleich nach der Ermordung des Hipparchos, kam ein Trinklied auf, das so genannte Harmodios-Lied, das die Tat der Tyrannentöter verherrlicht und von dem vier Strophen überliefert sind, die allerdings zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sein können. Die erste Strophe lautet: „Im Myrtenzweig will ich das Schwert tragen, wie Harmodios und Aristogeiton, als sie den Tyrannen töteten und allen Athenern gleiche Rechte verschafften.“ Im griechischen Text wird gesagt, die Attentäter hätten Athen ‘isonom’ gemacht, was so viel heißt wie die politischen Rechte für alle zugänglich machen. Der Begriff Isonomia wird für die von Kleisthenes 508 / 7 v. Chr. eingerichtete neue Ordnung verwendet, ohne jedoch zeitgenössisch belegt zu sein. Stellt man das Harmodios-Lied als Trinklied für das Symposion in seinen aristokratischen Kommunikationszusammenhang, so dürfte das Adjektiv isónomos die Forderung nach Teilhabe an Macht und Herrschaft, die der Tyrann den anderen Aristokraten entzogen hatte, wiedergeben. Demnach wurde Isonomia als Kampfbegriff gegen die usurpierte Alleinherrschaft geprägt und nahm erst später die Bedeutung demokratischer Gleichheit an.
In denselben aristokratischen Kontext dürfte das Bronzestandbild der beiden Tyrannentöter gehören, das von Antenor 510 / 9 v. Chr. gleich nach der Vertreibung des Hippias geschaffen, doch 480 von den Persern geraubt und erst zu Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. nach Athen zurückgebracht wurde. Über die Nachricht seiner Existenz hinaus haben wir keinen Hinweis auf sein Aussehen. Vermutlich handelte es sich um zwei Kouros-Statuen, die als Weihgeschenke der Familie der Gephyraier, der die Tyrannentöter angehörten, auf der Akropolis aufgestellt worden sein könnten.
Mehr wissen wir über das nachfolgend 477 / 6 v. Chr. aufgestellte bronzene Ehrenmal für die beiden Attentäter. Es wurde von Kritios und Nesiotes geschaffen und ist in römischen Kopien und weiteren Abbildungen erhalten. Es zeigt die beiden Tyrannentöter in leichter Überlebensgröße, wie sie heroengleich und mit blankgezogenem Schwert zur Tat schreiten.
Die Tyrannentötergruppe des Kritios und des Nesiotes war das erste wirklich politische Denkmal Griechenlands. Sie stand auf der Athener Agora, dem Zentrum der Polis und öffentlichen Ort der wichtigsten politischen Handlungen. Da keine Kultpraxis im Umfeld dieser Statuen belegt ist, stellen sie eine völlig neue Kategorie von Skulptur dar. Als statuarische Darstellung von Menschen, aber doch versehen mit der Aura des Heroischen, befand sie sich am Rand der Orchestra, unweit des Leokoreion, bei dem die Mordtat verübt worden war, und dem Platz, an dem über den Ostrakismos abgestimmt wurde. Der Platz um sie herum wurde freigehalten, wie aus zwei Dekreten um 300 v. Chr. bekannt ist. Ihre Position auf der Agora machte die Tyrannentöter aber nicht nur zu verehrungswürdigen Heroen, sondern auch, wie Hölscher betont hat, zu konkreten Verhaltensvorbildern für die Bürger während der Volksversammlung oder des Ostrakismos: Das Denkmal stellt ja nicht die erfolgreiche Tat dar, sondern den Willen, die Tat zu begehen, und die Haltung, in der dies geschieht. Ihre Aufstellung auf der Agora machte die Tyrannentötergruppe zu einem öffentlichen Monument, das die Suche der Gesellschaft nach Identität im öffentlichen Raum widerspiegelt. Der Gründungsmythos der demokratischen Identität beruhte auf dem Glauben an den Sturz der Tyrannis durch den politischen Mord an Hipparchos und fand in der Statuengruppe der Tyrannentöter, die zum Symbol für Demokratie wurde, seinen monumentalen Ausdruck.
Der konkrete Anlass, die zweite Gruppe aufzustellen, bestand wohl in der Begründung des Bündnisses zur Abwehr der Perser, die man für Tyrannen hielt und die solche auch unterstützten. Die Tyrannentötergruppe hätte so die Verteidigung der Freiheit der Athener gegen die Tyrannis symbolisiert. Bestätigt wird dies vielleicht durch den Fund zweier Fragmente einer Marmorbasis auf der Athener Agora, die Reste eines Gedichts tragen, das mit Hephaistion zu einem Epigramm ergänzt werden kann: „Wahrhaft großes Leuchten kam zu Athen, als Harmodios und Aristogeiton den Hipparch töteten und […] ihr väterlich Land [auf Freiheit] gründeten“ (Übersetzung V. Ehrenberg). Dieses Epigramm wird dem Dichter Simonides zugeschrieben, der enge Kontakte zu Hipparchos hatte, als bezahlter Berufsdichter aber sicher auch nach dem Sturz der Tyrannen zu Auftragsarbeiten bereit war. Ob dieses Epigramm bereits die Basis des Standbildes des Antenor zierte oder erst die Basis der zweiten Gruppe, ist nicht mehr festzustellen, da weder die Buchstabenform noch Simonides’ Lebenszeit (556 / 553 – 468 / 465 v. Chr.) einen festen Datierungsanhalt geben.
Die Aufstellung der Statuengruppe auf der Agora war keineswegs die einzige Ehrung für die Befreier von der Tyrannis. Die offizielle Würdigung der Tyrannentöter umfasste auch ein Staatsgrab im Kerameikos und die heroische Verehrung am Grab durch den Polemarchen, gemeinsam mit den Kriegsgefallenen des Jahres als den Verteidigern der Freiheit der Polis. Außerordentliche Ehren kamen auch den Nachkommen der Tyrannentöter durch die regelmäßige Speisung im Prytaneion zu.
Im 5. Jahrhundert waren die Tyrannentötergruppe und das Harmodioslied ausgesprochen populär, wie sich in Anspielungen aus Komödien des Aristophanes zeigt. In der Komödie Lysistrate sträubt sich der Anführer der Männer gegen die Herrschaft der Frauen, die die Männer zum Friedensschluss mit Sparta zwingen wollen. Dies bezeichnet er als Tyrannis. Er wolle auf der Hut sein und „das Schwert im Myrtenzweig tragen“. Darüber hinaus wolle er auch auf die Agora gehen und sich in voller Bewaffnung neben die Statue des Aristogeiton stellen, in derselben Pose wie dieser. Dies verstand jeder im Theater anwesende Athener, der sicher fast täglich an der Statuengruppe der Tyrannentöter auf der Agora vorbeiging. War das schon die Verunglimpfung der Tyrannentöter, die nach dem attischen Redner Hypereides durch ein Gesetz verboten war? Jedenfalls wurde, wie Kinzl feststellte, der heroische Gestus der Tyrannentötergruppe gleich nach ihrer Aufstellung durch die Abbildung eines betrunkenen Paares in unverkennbarer Haltung auf einem attischen Kolonettenkrater parodiert.
Der Tyrannentöterkult, der so begründet wurde, konzentrierte sich ganz auf die Tat zweier in Freundschaft verbundener Aristokraten. Es mag verwundern, wie die Verherrlichung der Tat eines aristokratischen Freundespaares Symbol für die demokratische Identität werden konnte. Freundschaft (philía), ein Begriff, der ein breites Spektrum an persönlichen Bindungen umfasst, vom materiellen Nutzen bis zu Liebesbeziehungen zwischen Männern, war besonders in den Augen der Adligen die Basis allen gemeinschaftlichen Handelns. In Platons Symposion wird die Meinung vertreten, dass homoerotische Freundschaften ganz besonders gefährlich für Tyrannen seien, da durch solche Beziehungen hochherzige Gesinnungen entstünden und zu heroischen Taten anspornten. Doch wurde das Freundschaftsideal von den einfacheren Bürgern übernommen, denn auch für sie war gemeinsames Handeln Pflicht. Sowohl in der Schlachtreihe der Schwerbewaffneten als auch im Tanzchor der dramatischen Wettkämpfe war man aufeinander angewiesen, ganz abgesehen von nachbarschaftlicher Hilfe in Notzeiten. Es handelte sich also nicht unbedingt um einen Widerspruch zwischen aristokratischen und bürgerlichen Idealen. Die Ehren für Harmodios und Aristogeiton machten diese zu „bürgerlichen“ Heroen, zu Symbolen bürgerlicher Identität, vergleichbar den Koloniegründern. Zugleich war die Feier ihrer Tat auch die Feier der Isonomia, der bürgerlichen Gleichheit.
In der Tyrannentötergruppe wie auch in ihrer kultischen Verehrung symbolisieren Harmodios und Aristogeiton den makellosen Widerstand gegen die Tyrannis. Der Fortbestand der Tyrannis durch Hippias und das Eingreifen Spartas, das den endgültigen Sturz der Tyrannis besiegelte, spielten in dieser Version keine Rolle. Gänzlich vergessen wurde die Erinnerung an Spartas Hilfe– auch wenn sie das Bild störte – gleichwohl nicht, fragt doch Lysistrate die Athener, ob sie vergessen hätten, wie die Spartaner ihnen bei Hippias geholfen hätten. Verfügten wir freilich nur über den offiziellen Kult und dessen Tradition, hätte die Ermordung des Hipparchos den Sturz einer bestehenden, unterdrückerischen Unrechtsordnung herbeigeführt und wäre sie ein politischer Mord.
Nur die Darstellungen der historiographischen Quellen eröffnen einen etwas anderen Blick. Danach scheinen zwei Grundüberzeugungen der populären Tradition in Frage gestellt: Die Tyrannis wurde nicht mit der Ermordung des Hipparchos beendet und die Motive, die zu seiner Tötung führten, scheinen nur in zweiter Linie der Beseitigung der Tyrannis gegolten zu haben. Thukydides, der den Athenern und anderen – womöglich Hellanikos – vorwirft, über die Tyrannentöter nicht wirklich Genaues zu berichten, behauptet, dass nach dem Tod des Peisistratos dessen Erstgeborener Hippias die Herrschaft übernommen habe. Sein Bruder Hipparchos machte unterdessen dem Geliebten des Aristogeiton, einem Jüngling namens Harmodios, den Hof. Als Aristogeiton davon erfuhr, entschloss er sich aus Angst vor der Macht des Konkurrenten, der Harmodios leicht mit Gewalt zu seiner Freundschaft hätte zwingen können, die Tyrannis zu stürzen. Hipparchos seinerseits rächte sich für die Zurückweisungen des Harmodios, indem er dessen Schwester beleidigte. Dadurch wurde Aristogeiton nur umso entschlossener, gegen den Tyrannen vorzugehen. Der rechte Moment schien beim Fest der Großen Panathenäen gekommen. Normalerweise kamen zum Opfer alle Bürger bewaffnet, so dass sie selbst kein Aufsehen erregen würden. Außerdem hofften sie, dass sich ihnen spontan auch Uneingeweihte anschließen würden. Hippias ordnete im Kerameikos außerhalb der Stadt den Beginn des festlichen Zuges zur Akropolis. Harmodios und Aristogeiton näherten sich ihm mit ihren Dolchen, als sie einen ihrer Mitverschworenen vertraut mit Hippias reden sahen. Sie glaubten sich verraten und versuchten nun wenigstens noch an demjenigen, dessentwegen sie die ganze Tat geplant hatten, Rache zu nehmen. Sie liefen zum Tor hinein und trafen Hipparchos am Leokoreion. Ohne langes Nachdenken stürmten sie auf ihn ein und erstachen ihn. Harmodios wurde sofort von den Leibwächtern getötet, während Aristogeiton zunächst entkam, aber später gefoltert und hingerichtet wurde. Hippias entwaffnete daraufhin die Festversammlung. Die Tyrannis in Athen war durch diese Tat keineswegs beendet, sondern Hippias herrschte noch fast vier Jahre, bis er durch die Alkmeoniden und Sparta vertrieben wurde. Soweit Thukydides.
Thukydides argumentiert vehement für die alleinige Tyrannenherrschaft des Hippias und stellt das Attentat als Produkt enttäuschter Liebe und gedankenlosen Leichtsinns in Folge eines augenblicklichen Schrecks dar; wenig bleibt von der großartigen Tat der Befreier Athens von den Tyrannen. Er kritisiert dabei weniger die Tyrannentöter als die Athener, die die dummen Geschichten weitererzählen. Hipparchos wird in eine Nebenrolle gedrängt, was Ober als subversiven Diskurs des Thukydides gegen die herrschende Meinung interpretiert, eine Strategie, die den Gründungsmythos der athenischen Demokratie effektiv unterminiert.
Bei Herodot erfahren wir wenig über den Hergang des Attentats an Hipparchos und seine möglichen Motive. Ihm kommt es auf die Vertreibung des Hippias durch die Alkmeoniden und die Spartaner an. Im Zusammenhang mit dem Vorwurf, die Alkmeoniden hätten den Persern bei Marathon ein Zeichen gegeben, unterstreicht Herodot, dass mehr als Harmodios und Aristogeiton die Alkmeoniden Athen von der Tyrannis befreit hätten, indem sie die delphische Priesterin überzeugten, den Spartanern den Auftrag zur Befreiung Athens zu geben. Indem Herodot die Bedeutung der Alkmeoniden bei der Vertreibung der Tyrannen betonte und verschiedene mündliche Überlieferungen aufzeichnete, wobei es Hinweise gibt, dass er neben der Alkmeoniden-Tradition auch die ihrer Gegner kannte und nutzte, kamen die Widersprüche zwischen den öffentlichen Ehrungen der Tyrannentöter und dem militärischen Eingreifen der Spartaner ans Licht, die vorher in mündlicher Tradition sehr gut vereinbar waren.
Doch förderten die Alkmeoniden beziehungsweise Kleisthenes durchaus selbst die populäre Tradition über die Tyrannentöter, konnte diese doch vom Alkmeonidenfrevel ablenken. Nach der Vertreibung der Peisistratiden aus Athen stritten sich Isagoras, Sohn des Teisandros, und Kleisthenes, Sohn des Alkmeoniden Megakles, um den Einfluss in Athen. Als Isagoras zu unterliegen drohte, rief er seinen Gastfreund, den Spartaner Kleomenes, mit dem Argument um Hilfe, er müsse die Blutschuld austreiben. Der alte religiöse Frevel lastete seit Kylons Versuch, um 632 v. Chr. eine Tyrannis in Athen zu errichten, auf den Alkmeoniden, denn ihnen wurde die Tötung Kylons und seiner Anhänger am Altar der Athena Polias angelastet. Diese Blutschuld fand nun noch über 120 Jahre später als politisches Argument Verwendung. Da musste Kleisthenes die Tradition der Tyrannentöter als probates Gegenmittel erscheinen, war sie doch die einzige, die keine Aspekte beinhaltete, an die sich keiner erinnern wollte.
Herodots und Thukydides’ Einwände gegen die populäre Tradition scheinen denn auch wenig genützt zu haben. Bei Diodor, wohl auf Ephoros zurückgehend, der darin Hellanikos’ Atthis gefolgt sein könnte, liest man, dass die Ermordung des Hipparchos den Sturz der Tyrannis herbeiführte. Im Marmor Parium von 264 / 3 v. Chr. wurden gar beide Ereignisse, die Tötung des Hipparchos und die Vertreibung der Peisistratiden unter dem Jahr, als Harpaktides Archon war, das heißt 511 / 10 v. Chr., zusammengezogen.
Bei allen Versuchen, die Umstände der Ermordung des Hipparchos zu erhellen, greift man nur noch verschiedene Traditionen, die dieses Ereignis hervorgebracht hat. Die Tatsachen reduzieren sich schnell auf wenige, anscheinend unstrittige Fakten, wie die Ermordung des Hipparchos durch das Freundespaar Harmodios und Aristogeiton und das Überleben des Bruders. Ob die Täter von persönlichen oder politischen Motiven getrieben wurden, wer eigentlich zur Zeit des Attentats Tyrann war, aus welchem sozialen Hintergrund die beiden namentlich bekannten Attentäter kamen, wie viele Unterstützer sie hatten, über all das gehen die antiken Quellen und deren Interpreten auseinander. Die Figur der Tyrannentöter ist ganz deutlich das Ergebnis politischer Mythen. Bei der Suche nach den Motiven sind wir den Interpretationen der antiken Autoren unterworfen. So bleibt letztlich die Frage nach dem Motiv – die einzige Frage, die klären könnte, ob es sich um einen politischen Mord handelte – offen. Aufgrund seiner politischen Instrumentalisierung kann das Attentat auf Hipparchos aber ohne weiteres als politischer Mord bezeichnet werden.
Literatur: H. Berve: Die Tyrannis bei den Griechen, 2 Bde., München 1967; L. De Libero: Die archaische Tyrannis, Stuttgart 1996; B. Fehr: Die Tyrannentöter oder: Kann man der Demokratie ein Denkmal setzen?, Frankfurt a. M. 1984; T. R. Fitzgerald: The Murder of Hipparchus: A Reply, Historia 6 (1957) 275 – 286; C. W. Fornara: The Cult of Harmodius und Aristogeiton, Philologus 114 (1970) 155 – 180; R. Ganci: La morte di Ipparco, Hormos 2 (2000) 75 – 94; K. Kinzl: Demokratia. Studie zur Frühgeschichte des Begriffes, Gymnasium 85 (1978) 117 – 127; M. Lang: The Murder of Hipparchus, Historia 3 (1954 / 55) 395 – 407; J. Ober: Democratic Ideology and Counter-Hegemonic Discourse: The Case of Thucydides, in: A. Boegehold u. A. Scafuro (Hrsg.): Athenian Identity and Civic Ideology, Baltimore, MD 1994, 102 – 126; ders.: Tyrant Killing as Therapeutic Stasis: A Political Debate in Images and Texts, in: K. Morgan (Hrsg.): Popular Tyranny: Sovereignty and Its Discontents in Ancient Greece, Austin/Texas 2003, 215 – 250; K. Raaflaub: Die Entdeckung der Freiheit. Zur historischen Semantik und Gesellschaftsgeschichte eines politischen Grundbegriffes der Griechen, München 1985; M. W. Taylor: The Tyrant Slayers: The Heroic Image in Fifth Century B.C. Athenian Art and Politics, New York 1981; R. Thomas: Oral Tradition and Written Record in Classical Athens, Cambridge 1989.