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3. Moral und Sinn in der alltäglichen Praxis: Pragmatismus

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Viele Menschen, nicht nur Moralphilosophen, sind der Auffassung, die Begründung universaler Prinzipien der Moral würde den entscheidenden Teil der Ethik ausmachen. Ethik ist für sie allein die Theorie der allgemeinen, universale Gültigkeit beanspruchenden Prinzipien, Regeln und Imperative des richtigen menschlichen Handelns. Wer diese Sicht der Ethik vertritt, wird den Schriften von James zur Ethik und Lebenskunst wenig abgewinnen können. James war der Auffassung, dass selbst dann, wenn es aufgrund einer absoluten göttlichen oder vernünftigen Ordnung eine universale Ethik geben würde, sie mit dem endlichen menschlichen Leben nicht direkt etwas zu tun hätte: In einer solchen Ordnung würden die individuellen Gegebenheiten, Zufälligkeiten und Probleme der menschlichen Existenz des Einzelnen noch gar nicht vorkommen. Es bedürfte erst der in den meisten Fällen nicht möglichen Vermittlung dieser absoluten Ethik mit der Zeitlichkeit, Zufälligkeit und Komplexität, die Konflikte im Leben zwischen einzelnen Menschen ausmachen und bestimmen. James’ Verständnis moralischer Konflikte zwischen zwei Menschen ist, dass dabei zwei unvereinbare Welten aufeinander treffen. Moralische Konflikte ergeben sich eben daraus, dass Menschen in Beziehung zueinander, zu ihrer Zeit und ihren individuellen Erfahrungen, Überzeugungen und Idealen nicht vergleichbar sind. Eine, wie James sagt, „apriorische“ universale Ethik würde sich entweder als tautologisch oder als irrelevant erweisen: Alle moralischen und lebensrelevanten Probleme wären noch offen, weil eine universale Ethik die Tiefe des Konflikts nicht einmal beschreiben kann. In den ersten beiden Aufsätzen über den Sinn (Was macht das Leben bedeutsam?) und Wert menschlichen Lebens (Ist das Leben lebenswert?) und gleich zu Anfang des systematischen, nur der Ethik gewidmeten Aufsatzes Der Ethiker und das sittliche Leben schließt James deshalb die Möglichkeit einer apriorischen Ethik aus, wenn er schreibt:

„Diese Abhandlung widmet sich in erster Linie dem Nachweis, dass eine dogmatisch und im Vorhinein aufgestellte Ethik ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Sofern wir etwas zum sittlichen Leben der Menschheit beitragen, bestimmen wir alle den Inhalt der Ethik mit.“ (S. 78)

Doch was ist Ethik dann, wenn sie keine universal und apriorisch gültige Theorie moralischer Prinzipien liefert? Ethik ist möglich, aber sie erwächst aus den geschichtlichen Lebensvollzügen und Werthaltungen der Menschen. Deshalb können wir nur in Beziehung auf historische Situationen in der Geschichte der Menschheit eine relevante und zutreffende ethische Theorie formulieren. Was natürlich heißt, dass sie für vorhergehende oder künftige Situationen mehr oder weniger irrelevant ist. Denn James geht davon aus – und hier nähert er die Ethik einer Theorie der Politik und der Gerechtigkeit an –, dass es die von jeweils lebenden Menschen verfolgten Ideale und Forderungen sind, mit denen sich die Ethik auseinander setzen muss. Wir sind, betreiben wir philosophische Ethik, auf die gemeinsamen Lebensvollzüge der Menschen als unsere Daten verwiesen, weil wir alle durch unser moralisches Handeln mitbestimmen, was als moralisch richtig oder falsch akzeptiert wird. Die philosophische Pointe der Jamesschen Ethik besteht also in dem Vorschlag, den phänomenologischen Reichtum der historischen Formen von Moral und Lebenskunst und damit auch die moralische Bedeutung der körperlichen Zeitlichkeit der Praxis alltäglichen Lebens der Menschen in ethischen Theorien einzubeziehen.

James musste nicht erst den Pragmatismus entwickeln, um mit dem Vorrang der Praxis der Lebensvollzüge gegen den Anspruch universaler Ethiken argumentieren zu können. Er war vom Primat der Praxis schon vor der expliziten Formulierung des Pragmatismus – die durch Peirce um 1878 veröffentlicht wurde – fest überzeugt. Er notiert in einem Tagebucheintrag von 1868: „Jede gute Erfahrung sollte in der Praxis interpretiert werden. Vielleicht können wir nicht immer eine Wirkung aufspüren, aber wir verlieren nicht, wenn wir es versuchen.“6 Kein Interesse, kein lebendiges Motiv, keine Bindung an die Konstellation gelebten Lebens ist anders philosophisch fruchtbar zu machen als dadurch, dass interpretativ wirksam konkrete Praktiken theoretisch berücksichtigt werden.

James’ moralische und lebenskünstlerische Arbeiten versuchen deshalb, sich gut pragmatisch jener Verallgemeinerungen und Abstraktionen zu enthalten, die eine Rückbindung auf eine konkrete Praxis ausschließen. Auch wenn er spekulativ über die Beziehung zwischen individuellem Bewusstsein und Allseele nachdenkt, hat er dabei die praktischen Wirkungen im Auge, die derartige Überzeugungen auf die Lebensführung der Glaubenden haben. James motiviert und durchdenkt also Fragen der Moral und Lebenskunst, der Psychologie und Philosophie von seiner eigenen Lebenserfahrung und ihrer Übertragbarkeit in alltägliche Lebenssituationen her. Diese Lebensbeziehung des Jamesschen Philosophierens werden wir noch genauer betrachten und dabei sehen können, dass insbesondere das Problem der Freiheit des Willens im Leben, das der Auszug aus Der Wille aus den Principles of Psychology diskutiert, für James von existentieller und auch theoretisch entscheidender Bedeutung ist.

James versteht die Endlichkeit des menschlichen Lebens auf eine entschieden individualistische Weise. Im Vordergrund steht das individuelle, selbstbestimmte Ergreifen und Gestalten des eigenen Lebens und die individualistische Perspektive des Erfahrens und bewussten Glaubens an den eigenen freien Willen, der die Selbstbestimmung des Lebens ermöglicht. In einem Tagebucheintrag von 1870 macht James das Bekenntnis zur Selbstbefähigung und -bekräftigung des Wollens sogar zum Kern seines Menschen- und Selbstbildes:

„Ich werde einen Schritt weiter mit meinem Willen gehen, nicht nur mit ihm handeln, sondern ebenso an ihn glauben; an meine individuelle Wirklichkeit und kreative Kraft. Sicher, mein Glaube kann nicht optimistisch sein – aber ich verlege das Leben (das wirkliche, das gute) in das Selbst, das den Widerstand des Ichs gegenüber der Welt beherrscht.“7

Menschen sind zu einer selbsthaft bewussten und freien Bestimmung ihres Wollens fähig, die in der Auseinandersetzung der Individuen mit der Welt einen Unterschied macht. Dies ist aber für James keine Aussage ethischer Theorie, sondern eine der Lebenskunst und moralischen Anthropologie. Denn die wirksame Entscheidung über das eigene Handeln beschreibt die Möglichkeit moralischer Praxis für den einzelnen Menschen und nur die Möglichkeit von Ethik als Theorie: Nur wenn und insoweit Menschen aufgrund eigener Entscheidungen ein selbst gewolltes Leben führen, sind sie auch moralische Wesen, die sich bewusst auf das Leben als ihr eigenes einlassen können. Daraus folgt: Es kann auch Menschen geben, die aus dem Raum des Moralischen herausfallen, wenn es ihnen nicht gelingt, die Bedingung zu erfüllen, dass sie durch ihren Willen ein praktisches Selbstverhältnis zu ihrem eigenen Handeln herstellen. Man kann deshalb fragen: Gibt es ein menschliches Leben, das ohne diese Überzeugung von der Wirksamkeit des Willens das eigene Leben selbsthaft bestimmt? Ja, durchaus: Dies wäre eine Lebenspraxis, die Menschen fraglos und ohne das Verhältnis des Wollens zum eigenen Leben vollziehen können. Ein Lebensvollzug, in dem wir uns nicht, wie wir sagen, „unserer selbst bewusst sind“, „uns selbst finden“, auch nicht „selbst bestimmen“, gleichwohl aber handelnd auf seinen Verlauf einwirken. Auch ohne Bewusstsein der eigenen Rolle als Subjekt ist dies möglich.8 Die bewusste Überzeugung, selbst über die Fähigkeit des willentlichen Einflusses zu verfügen und damit Verantwortung für das eigene Handeln zu tragen, hat James aber als Vorbedingung jeder Moral angesehen.

Die theoretische Auszeichnung der Relevanz und des Rangs der individuellen Praxis des Wollens im Alltag menschlichen Handelns charakterisiert auch die Weise, wie James den Pragmatismus versteht. Die Einbeziehung der Praxis menschlichen Lebens ist in seinen Schriften zum Pragmatismus – anders als bei Peirce – niemals nur eine wissenschaftliche Methode, die sich auch durch eine andere Argumentationsweise austauschen lassen würde. Deshalb versteht James die bedeutungstheoretischen, wahrheitstheoretischen oder erkenntnistheoretischen Thesen des Pragmatismus existentiell und lebenskünstlerisch. Ja, er gibt ihm gelegentlich auch eine ethische Deutung: Der Pragmatismus wird so unter der Hand eine Weise, die Beziehung zwischen Lebensführung und den großen, offenen Fragen der Philosophie zum Gegenstand des Philosophierens zu machen. Nach James ist ein Pragmatist ein Denkender, der philosophiert, indem er auch existentiell über sein Leben reflektiert. Der Pragmatist überwindet die abstrakten Glasperlenspiele der Philosophie und denkt von seiner Lebenspraxis aus:

„Er wendet sich von Abstraktionen und Unzulänglichkeiten ab, von bloß verbalen Lösungen und falschen apriorischen Begründungen, geschlossenen Systemen und dem vermeintlich Absoluten und Ursprünglichen. Er wendet sich dem Konkreten und dem Angemessenen zu, den Tatsachen, den Handlungen und der Macht. [...] Er fordert, den offenen Himmel und die Möglichkeiten, die die Natur uns bietet, gegen das Dogma zu stellen, gegen das Artifizielle und gegen den Anspruch auf endgültige Wahrheit.“ (S. 64)9

James besteht als Pragmatist auf der Relevanz individueller Entscheidungen und Forderungen für die großen Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Freiheit des Willens und Handelns.

Ohne deshalb deren Anspruch auf empirisch aussagekräftige Ergebnisse zu leugnen, bestreitet James, dass aus der Psychologie und Neurophysiologie eine angemessene oder gar vollständige Theorie der menschlichen Lebenspraxis gewonnen werden kann. Ja, die Komplexität des menschlichen Geistes – „so komplex ist der menschliche Geist“ heißt es in Der Wille – weist letztlich über die Psychologie hinaus. Wir sahen schon, dass, ganz im Gegenteil, psychologische Theorien letztlich durch Common Sense Überlegungen und durch Körpererfahrungen beurteilt werden sollen. Diese Wissenschaften können auch niemals aufgrund ihrer eigenen empirischen Resultate beweisen, dass menschliche Freiheit und Verantwortung praktisch möglich oder unmöglich sind. Die Annahme der Neuropsychologie, dass z. B. allen bekannten geistigen Prozessen deterministische Gehirnprozesse zugrunde liegen, schließt die Möglichkeit der Freiheit keineswegs aus. Ja, er betont in Der Wille: „[...] das Wollen ist eine ganz und gar psychische bzw. moralische Tatsache.“ (S. 159)

So ergibt sich eine Jamessche Konzeption des Geistes, die eine Vielzahl von Perspektiven zu integrieren sucht und über die Erfahrung des eigenen Körpers geistige Prozesse in einer moralischen Praxis einbettet. Diese komplexe Situation ist von einigen James-Interpreten – wie ich meine fälschlicherweise – als mentalistische dualistische Auffassung des Geistes interpretiert worden. Denn: James argumentiert ja zum einen als Begründer der modernen Psychologie von den empirischen Befunden der Physiologie und Psychologie aus. Zum anderen bezieht er die physiologische Basis des Geistes auf andere, introspektive und praktische Beziehungen und Befunde. Also betont er die Grenzen der Relevanz der Resultate der Psychologie. Eine dieser Grenzen wird durch die Körperempfindungen und eine andere durch den Vorrang der Lebenspraxis gezogen: Geist ist nur physiologisch betrachtet, jedoch nicht praktisch und philosophisch ein Gehirnzustand.

James ist deshalb einer der Stammväter des Enaktivismus10 in der modernen Philosophie des Geistes: Geistige Prozesse gewinnen ihre Bedeutung in den Beziehungs- und anderen Umweltkontexten der alltäglichen Praxis. Das heißt sie können nur angemessen verstanden werden, wenn man die Bewegungs-, Handlungs- und Körperkontexte menschlicher Verhaltens- und Lebensweisen einbezieht. Geistige Prozesse können niemals allein durch die Eigenschaften einer physiologischen Basis erklärt werden: Ihr Sinn und ihre Bedeutung würden so verfehlt. Normative, intentionale und „interpretierende“ Begriffe sind deshalb auch aus keiner Deutung der Neuro- und Biowissenschaften zu beseitigen. Ja, noch mehr: Praktisch und pragmatisch ist es sinnlos, Geist als einen Gehirnprozess zu verstehen.

Halten wir unser bisheriges Ergebnis fest: James argumentiert für eine andere, nicht auf unabhängige universale Prinzipien setzende Auffassung der Beziehung von Ethik und endlicher, historischer Lebenspraxis. Er geht davon aus, dass die individuellen, biographisch zu meisternden Lebenssituationen der Menschen durch ihre Endlichkeit und Zeitlichkeit einen eigenen Wert und Bedeutung für die Beurteilung von Erkenntnisansprüchen der Psychologie wie der Ethik besitzen. Die Praxis liefert aber vollzugsabhängige Gegebenheiten, die durch universale Prinzipien nicht einholbar oder ersetzbar sind. Deshalb ist das einzige allgemeine ethische Prinzip, das James akzeptiert, die Forderung, dass gut ein Ideal nur dann ist, wenn es ein Maximum von individuellen Bedürfnissen, Forderungen und Idealen einschließt. Ansonsten aber kann eine moralische Tat darin bestehen, gegen alle moralischen Regeln zu verstoßen, wenn die Situation es verlangt:

„Das höchste ethische Leben – wie wenige auch der Bürde gewachsen sein sollten, es auf sich zu nehmen – besteht zu allen Zeiten im Überschreiten von Regeln, die für einen konkreten realen Fall zu starr geworden sind. Es gibt nur ein unbedingtes Gebot, und das lautet: Wir sollen immer und mit aller Anstrengung so handeln und uns so entscheiden, dass wir die größtmögliche Gemeinschaft des Guten erzeugen, die wir uns vorstellen können.“(S. 93)

Der Sinn des Lebens

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