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4. Freiheit und Sinn in einer Welt harter Tatsachen

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„Die für uns einfachsten Aspekte der Dinge

sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen.

(Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.)“

Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 129

Auf die Frage nach dem Sinn des Lebens hat Wittgenstein im Tractatus Logico-Philosophicus geantwortet, dass die Antwort auf diese Frage das Verschwinden der Frage ist.11 Ein konsequenter Praxis-Denker – eine Position, der, wie wir noch sehen werden, sich William James nur annäherte – könnte diesen dunklen Ausspruch so deuten: Wenn Menschen in ihrem Leben zuhause sind, und wenn ihr Leben gelingt, dann fragen sie nicht nach einem Sinn, der über das Leben, das sie führen, hinausgeht – und das dann erst eine Art höheren Sinn ergeben würde. Denn das Leben, das sich fraglos in alltäglicher Praxis zwischen Menschen mit jedem Blick, jeder Handreichung, jeder Begegnung ereignet, gelingt bereits auf ebenso fraglose wie sinnvolle Weise. Im Zwischenmenschlichen trägt es seinen Sinn in sich: Es ist das Teilen menschlicher Gegenwart zwischen Menschen, die einander in der Zeit und dem Raum ihres Lebens begegnen. Doch wer die Sinnfrage stellt, nimmt diesen fraglosen, alltäglichen Sinn häufig nicht zur Kenntnis. Er übersieht, dass menschliches Leben auf unspektakuläre Weise bereits gelingt, soll die Frage nach weiterem Sinn überhaupt formulierbar sein. Nur aus dem Gelingen menschlichen Seins heraus lässt sich die Sinnfrage stellen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist also – wenn sie mehr ist als eine bloße Frage nach Zielen im Leben – ein Beleg dafür, dass bereits menschliches Leben miteinander gelungen ist.

Die starke Sinnfrage aber zielt auf eine Antwort, die über diesen elementaren Sinn menschlicher Lebensteilung hinausgreift, ja ihn ignoriert. Fortdauerndes Glück, die Erfüllung von Idealen, Projekten und Zielen, von Hoffnungen und Wünschen, ein Zusammenhang aller Ereignisse im Leben als der eine allumfassende Sinn, werden oft damit gemeint. In der nächsten Steigerungsstufe soll der Sinn sogar noch umfassender und allgemeiner gültig sein: Der eine Lebenssinn gilt dann erst als erreicht, wenn er durch einen religiösen, metaphysischen oder utopischen allumfassenden Sinn begründet ist, der nicht nur meine Wirklichkeit, sondern jedes individuelle Leben mit der gesamten Wirklichkeit verbindet. Dann gibt es nur noch den einen Sinn des Lebens, der als der eigentliche, höchste und einzige Sinn des menschlichen Lebens verstanden wird.

Jener alltägliche Sinn des Gelingens menschlichen Lebens in der miteinander geteilten Gegenwart spielt für die Suche nach dem höchsten und einzigen Sinn keine Rolle: Er kann keinerlei Sinn beitragen. Als einziger Sinn des Lebens zählt dann nur noch, was vom höchsten und allgemeinen Über-Sinn her das individuelle Leben als sinnvoll deutet. Dabei soll das Ganze des einzelnen Lebens und das Leben aller Menschen durch diesen höchsten Über-Sinn gerechtfertigt und gedeutet werden können. Deshalb braucht es eine göttliche Ordnung, ein Ziel der Existenz des Universums oder mindestens ein Ziel der Geschichte, wie z. B. den Sieg des Proletariats, um einen höchsten Lebenssinn festzulegen. Auf den ersten Blick scheint auch James den Lebenssinn in einer der höheren Versionen zu sehen. So heißt es gegen Ende des Aufsatzes Was gibt einem Leben Sinn?:

„Der wirkliche Sinn des Lebens ist in aller Ewigkeit der gleiche, – nämlich die Vereinigung eines außergewöhnlichen Ideals, wie speziell auch immer, mit Treue, Mut und Ausdauer, mit den Schmerzen eines Mannes oder einer Frau. Was und wo auch immer das Leben sein mag, besteht die Chance, dass diese Ehe auch wirklich geschlossen werden kann.“ (S. 76)

Tatsächlich gibt James zu, dass nur die Existenz einer göttlichen Ordnung eine strikte moralische Ordnung unter den Menschen würde stiften können. Doch fügt er sogleich hinzu, dass dafür bereits die geteilte Illusion der Existenz Gottes ausreichen würde. Bereits diese Illusion würde uns zu einem emphatischen Glauben an eine objektive moralische Ordnung motivieren. Es geht also um die moralische Motivation der Menschen durch ihre Überzeugungen von moralischer Objektivität. Und diese Überzeugungen sind davon unabhängig, ob Gott wirklich existiert oder nicht.

Blicken wir noch einmal auf das obige Zitat und den Kontext, in dem es steht: James hatte dargelegt, dass es die Pluralität der verschiedenen, nicht miteinander verträglichen Ideale ist, die den Reichtum menschlichen Lebens ausmacht. Er fragt also eher: Wie können Menschen miteinander – gleichgültig welches der vielen Ideale sie haben – ihr Leben auf sinnvolle Weise gestalten? Und antwortet darauf, dass es auf die Vereinigung des Ideals mit der Lebenspraxis ankommt. Diese Vereinigung eines besonderen Ideals mit den praktizierten Alltagstugenden des Lebens – und das sind eben Treue, Mut, Ausdauer – bedeutet nicht, dass es der höhere Sinn des Ideals ist, der allein dem Leben Sinn verleiht. Die hier verwendeten Begriffe „Vereinigung“ und „Ehe“ legen nahe, dass es eine fruchtbare Beziehung zwischen zwei gleichberechtigten Parteien sein sollte. Was ein außergewöhnliches Ideal jedoch mit sich bringt und fordert, ist die Fähigkeit zur Veränderung bestehender, fest etablierter Praktiken. Doch die Praktiken sind nichts anderes als Verhaltensgewohnheiten, welche den Alltag eines Lebens festlegen. Ein Ideal, schon gar ein außergewöhnliches, liefert eine Perspektive, welche die Veränderung von Gewohnheiten leiten und anregen kann.

Gewohnheiten sind für die Praxis von entscheidender Bedeutung. Denn Menschen gewinnen und stabilisieren durch ihre Gewohnheiten sich selbst und ihre Identität in den Wechselfällen des Lebens: Die Gewohnheiten bestimmen jene funktionierenden Weisen des Handelns, die – so schon Aristoteles – die Lebensweise des Menschen prägen. Das erste, sich wirklich mit psychologischen Themen befassende Kapitel der Principles of Psychology, nach den methodischen und physiologischen Kapiteln, ist den Gewohnheiten des Handelns, Fühlens und Denkens gewidmet. Und es endet mit lebenskünstlerischen Ratschlägen, wie man neue Gewohnheiten einüben und alte ablegen kann! Wir verdanken es den Gewohnheiten, dass die Verbindung von Bewusstsein und Handeln im menschlichen Leben sowohl stabil ist als auch offen bleibt, und es sind Gewohnheiten des Verhaltens, die sich aufgrund unserer Erfahrung, Ideale und Ziele verändern müssen.12

Die stabile, kaum Aufmerksamkeit erfordernde, gewohnheitsmäßige Ausführung von Wahrnehmungen und Handlungen erfolgt häufig sogar vorbewusst und spontan. Sie schafft damit den Raum für die Wirksamkeit der bewussten Reflexion über mögliche Entscheidungen. So wird es möglich, dass wir unser Verhalten in Bezug auf die jeweiligen Bedingungen verändern. Die Gewohnheiten, die den von James erwähnten Alltagstugenden (Treue, Mut, Ausdauer usw.) entsprechen, können von einem Menschen dann verändert werden, wenn er sich ein Ideal (Plan, Projekt, Ziel) zu eigen macht, das ein verändertes Verhalten von ihm fordert. Nur wenn die Aufmerksamkeit und der Wille von Menschen in der Lage sind, ihre Gewohnheiten in neue Bahnen zu lenken, kann die Vereinigung eines Ideals mit dem Leben wirksam werden. Nun sagt James, dass wir keine Handlung einfach nur allein durch eine willentliche Entscheidung auslösen können. Jede Handlung, die wir aufgrund einer bewussten Entscheidung vollziehen, besteht entweder aus ganzen Handlungen oder aus Teilhandlungen, die wir bereits ohne bewusste Entscheidung praktisch vollzogen haben. Der Vorrang der Praxis vor der Theorie gilt also auch für den Willen.

Wir sahen: James entwickelt seine Konzeption des menschlichen Geistes und der Freiheit des Willens in der Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass geistige Prozesse körperlich und physiologisch basiert und in der Praxis verwirklicht sind. Doch in welchem Sinne und bis zu welchem Grade ist diese körperliche und physiologische Basis des Geistes wirksam? Im Kapitel Der Wille argumentiert James philosophisch und transdisziplinär für die Freiheit des Willens, ohne die physiologische Ebene determinierender Faktoren zu leugnen. Doch werden dabei auch die Grenzen der Aussagekraft der Psychologie deutlich, deren Ergebnisse auf umfassendere, lebenspraktische Kontexte bezogen und in ihnen bewertet werden müssen. James’ Antwort auf die Frage, worin die Freiheit des Willens besteht, lautet in den Principles allgemein, dass freier Wille eine Art von aufrecht gehaltener Aufmerksamkeit ist: Das Wollen ist eine besondere Weise, bewusst auf eine Möglichkeit des Handelns, Denkens, Wahrnehmens etc. aufmerksam zu werden und an ihr interessiert zu sein:

„Die Schwierigkeit liegt nur darin, die Herrschaft im Bewusstsein zu gewinnen. [...] Diese Anspannung der Aufmerksamkeit ist der fundamentale Willensakt. Und die Arbeit des Willens ist in den meisten Fällen praktisch zu Ende, wenn die bloße Gegenwart der von Natur aus unwillkommenen Sache in unserem Bewusstsein gesichert ist.“ (S. 137)

Doch da sich aber mit den Mitteln der Psychologie niemals empirisch beweisen lässt, dass dieser Prozess der Ausrichtung der Aufmerksamkeit ohne determinierende spezifische physiologische Basis verläuft, kann es keinen psychologischen Beweis für die Freiheit des Willens geben. Die Frage, ob es einen freien Willen gibt, fällt also aus der Psychologie heraus. Sie wird vielmehr durch Rückgriff auf Common Sense Erfahrungen beantwortet: Wir wissen bereits, dass ein freier Wille existiert, weil wir immer wieder erfahren, dass vom freien Willen überzeugt zu sein selbst ein wirksamer Akt des freien Willens ist, der beobachtbare Konsequenzen für unser alltägliches Handeln hat. James stützt diese Antwort nun durch eine Kritik der Theorien und erzielten Ergebnisse der Psychologie und Neurophysiologie. Deren Relevanz und Aussagekraft über eine Frage wie die nach der Freiheit des Willens muss den Erfahrungen gelingender Lebenspraxis untergeordnet werden. Denn nur so kann ein Kontext für die Interpretation der praktischen Geltung von Forschungsergebnissen gesichert werden, der für den ganzen Bereich menschlichen Lebens relevant ist. Das Urteil über die lebenspraktische Relevanz liegt jenseits der wissenschaftlichen Kompetenz, zu denen die Befunde einer Psychologie und Neuropsychologie berechtigen.

Die Frage nach dem Beitrag des freien individuellen Denkens motiviert James’ moralische und lebenskünstlerische Überlegungen. Er ist bereits lebenspraktisch von der Wirksamkeit des freien Willens überzeugt und versucht deshalb anhand konkreter Fälle zu verdeutlichen, dass sich der freie Wille im bewussten Denken und Fühlen produktiv niederschlägt. Das heißt das Glauben an und Handeln gemäß einer Überzeugung kann für das Leben eines Menschen einen wichtigen, ja entscheidenden Unterschied machen.

So argumentiert James in dem Aufsatz The Will to believe (Der Wille zum Glauben), der dem Aufsatzband seinen Namen gegeben hat, dass Menschen ein Recht haben, sich auch bei unvollständiger Information in Fragen, die für ihr Leben dringlich sind, für eine Überzeugung frei zu entscheiden. Dies ist dann erforderlich, wenn in endlicher Zeit ausreichende Informationen, die eine Frage objektiv entscheiden, nicht verfügbar sind. Wenn nämlich in einer Frage meine Entscheidung für oder gegen eine Überzeugung – z. B. der Existenz Gottes – für den Erfolg des eigenen Handelns oder die Gestaltung des Lebens entscheidend ist, so kann es sein, dass sie diese Folgen nur hat, wenn ich mich von ihr zu einem bestimmten Zeitpunkt, z. B. relativ früh im Leben, überzeugt habe und sie akzeptiere. Sich nicht zu entscheiden, wäre dann ebenfalls eine Entscheidung.

Doch es sind ganz konkrete, existentielle Situationen, die James mit dem Willen zum Glauben in den Blick nimmt. Nehmen wir an, ein Schiff sei in einem schweren Sturm in Seenot geraten. Wenn der Kapitän in dieser Situation von Anfang an überzeugt ist, dass es sowieso nicht möglich sei, das Schiff zu retten, so wird er schon durch seine negative Überzeugung jede mögliche Rettung behindern oder vereiteln. Jedenfalls dann, wenn er sich nicht mehr um Rettung bemüht. Nehmen wir dagegen an, der Kapitän würde die Rettung für möglich halten und jede Möglichkeit dazu nutzen. Selbst wenn dann in einem Augenblick die Rettung des Schiffs tatsächlich ausgeschlossen ist, so könnte sie doch im nächsten Augenblick wieder möglich werden. Einen anderen Aspekt berücksichtigt James dabei aber nicht: Die Überzeugung und das Verhalten des Kapitäns wird auch seine Mannschaft beeinflussen, die dann zusammenarbeiten und jede Chance einer Rettung nutzen wird, wenn sie in dieser Haltung bestärkt und auf das Wahrnehmen von Rettungsmöglichkeiten gelenkt wird. In Allgemeinplätzen wie „Wer nicht kämpft, der hat schon verloren“ und in der Idee sich selbst erfüllender Prophezeiungen schwingt diese Einsicht in die konstitutive Rolle bestimmter Überzeugungen mit.

Die Verknüpfung von endlicher Lebenszeit und der Wirksamkeit von freien Entscheidungen eröffnet einen Zugang zu der Frage, wie Lebenssinn, Erfahrungen und Überzeugungen zusammenhängen: Einen Sinn hat das von jedem Menschen im Kreise seiner Zeit- und Lebensgenossen verbrachte endliche Leben dadurch, dass die eigenen Überzeugungen und Entscheidungen einen erfahrbaren Unterschied für die Weise machen, wie wir unser Leben führen. Doch dafür benötigt ein jeder die Freiheit seines Willens und Handelns, soweit sie ihn zu Lebensmöglichkeiten anleitet. Es sind also die eigenen, freien Entscheidungen, die in moralischen und gar in lebensentscheidenden Fällen unser Handeln miteinander ermöglichen. In einer psychisch-philosophischen Krise des Jahres 1870 waren es die Einsicht und die Selbstermutigung, dass der eigene Willen wirksam ist – durch den Glauben an ihn –, die James stärkte und half. Er schreibt:

„Ich glaube, gestern hatte ich die Krise meines Lebens. Ich habe den ersten Teil von Renouviers zweiten Essais beendet und ich sehe keinen Grund, warum seine Definition des freien Willens – das Beibehalten eines Gedankens, weil ich mich dafür entschieden habe, obwohl ich andere Gedanke hätte haben können‘ – die Definition einer Illusion sein soll. Zumindest werde ich im Augenblick – bis zum nächsten Jahr – annehmen, dass dies keine Illusion ist. Meine erste freie Willenshandlung soll es sein, an den freien Willen zu glauben.“ (Ralph Barton Perry, The Thought and Character of William James, Boston 1935, Band 1, S. 323)

Die in diesem Band ausgewählten Texte von James machen deutlich, dass die Freiheit des Willens mit der Fähigkeit des Menschen, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, auf das Engste verknüpft ist. Gerade weil ihm die Erklärung, warum der Willen frei sein kann, so wichtig war, geht es James, ebenso wie dies in der heutigen Diskussion der Fall ist, um die Bedeutung der Resultate der Neurophysiologie für die alltägliche Praxis in Recht und Kultur. Wir sahen bereits, dass er zum einen die Möglichkeit einer in Ethik, Lebenskunst und in Fragen des Lebenssinns wirksam werdenden physiologischen Determiniertheit des psychischen Geschehens von deren interner Determiniertheit abgrenzt. James beabsichtigt keine Reduktion in die eine oder andere Richtung:

 Weder gibt es eine übergreifende, transzendentale Wirklichkeit des Sinns und der Moral, die freie Entscheidungen so bestimmt, dass die physiologischen Bedingungen des Geistes gänzlich aufgehoben werden (nur im Unsterblichkeitstext deutet sich eine solche Möglichkeit in einem ganz anderen Zusammenhang an);

 noch ist es möglich, die Ebene des Sinns und der Moral auf physiologische Prozesse zurückzuführen und individuelle moralische Entscheidungen in der Alltagspraxis in ihrer Wirksamkeit zu ersetzen.

Wenn heute Neurophysiologen fordern, dass im Strafrecht die Begriffe der Freiheit des Willens und die von Schuld und Verantwortung neu konzipiert werden müssten, weil unser Handeln durch Gehirnprozesse determiniert sei, so ist damit häufig ein deterministisches und reduktives Verhältnis des moralischen Handelns zu Gehirnprozessen unterstellt, das James explizit ausschließt.13

James leugnet nicht, dass es determinierende physikalische oder physiologische Bedingungen auch von geistigen und kulturellen Fakten gibt. Doch damit ist das Verhältnis der Neurophysiologie zu dem Bereich, in dem Freiheit, Moral und der Sinn des Lebens angesiedelt sind, noch keineswegs entschieden. James gesteht dem physikalistischen Deterministen viel zu. Er kritisiert aber, dass der Determinist die Einbettung der physikalischen Ebene in ein Netz höherstufiger Sinn- und Zweckbeziehungen meistens nicht ernst nimmt, ignoriert oder die Möglichkeit einer wertbestimmten Ordnung von moralischen Beziehungen einfach ausschließt. Dabei könnte es sein, dass Freiheit und Moral dem Bestehen einer Welt harter physikalischer Tatsachen nicht widersprechen, sondern diese Ebene vielmehr überformen. In diesem Sinne argumentiert James kurz vor seinem Tod in einem Brief an Henry Adams vom 17. 6. 1910. Henry Adams vertrat eine deterministische Geschichtsauffassung, die er mit den vorgeblichen Konsequenzen des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik begründete. Dieser Satz besagt bekanntlich, dass in einem geschlossenen System die Verteilung von Energie immer nur zunehmen kann. Dies interpretiert Adams nun so, dass aufgrund der Unausweichlichkeit des Wärmetods des Universums, der alle Unterschiede auslöschen wird, die menschliche Geschichte keinen Sinn haben kann. James’ Antwort auf Adams zeigt, wie er deterministische physikalische Sachverhalte aus dem umfassenderen Standpunkt menschlicher Interessen und Wertungen interpretiert:

„Einige Materiekonfigurationen, die auf demselben Energieniveau liegen, sind, vom Standpunkt einer menschlichen Wertschätzung aus betrachtet, überlegen, während andere unterlegen sind. Physisch gesehen wird vielleicht das Gehirn eines Dinosauriers eine ebenso hohe Intensität des Energieaustausches aufweisen wie das eines Menschen, doch es vermag unendlich weniger Dinge, weil es als auslösende Kraft nur die Muskeln des Dinosauriers in Bewegung zu setzen vermag. Das Gehirn des Menschen dagegen, indem es weit schwächere Muskeln in Bewegung versetzt, kann dadurch indirekt Erklärungen abgeben, Bücher schreiben, die Kathedrale von Chartres beschreiben usw. und sogar die Energien einer verlöschenden Sonne in Kanäle leiten, in die sie ansonsten nicht geraten wären – kurzum, es macht Geschichte. [...] Der, zweite Hauptsatz‘ ist gänzlich irrelevant für die, Geschichte‘ – außer insofern als er einen Endpunkt für die Geschichte des Ablaufs der Dinge vor diesem Endpunkt festlegt, und alles, was der zweite Hauptsatz besagt ist, was immer auch Geschichte sein mag, sie sich zwischen dem anfänglichen Maximum und dem finalen Minimum des Unterschiedes im Energieniveau entfalten muss.“ (Übersetzt nach: The Letters of William James, ed. by Henry James, Boston 1920, S. 344–347.)

Menschen stehen mit der situierten Endlichkeit ihres Lebens auf einer je historischen Position. Dies legt über die Welt der harten Tatsachen des unausweichlichen Wärmetods ein Netz von Beziehungen, die durch menschliche Werte und Interessen geformt sind: Erst dadurch ist es möglich, dass menschliche Entscheidungen einige Sachverhalte und Handlungen als wert- oder sinnvoller auffassen als andere. Wer die Frage nach dem Sinn des Lebens aber auf die Frage nach dem Determinismus der Gehirnprozesse zurückführt, der hat die Frage nicht verstanden. Er verfehlt die Frage nach dem Sinn ebenso wie derjenige, der einen Sinn in der menschlichen Geschichte deswegen verneint, weil der Wärmetod des Universums vorherbestimmt ist.

Der Sinn des Lebens

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