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5. Moralische Einsamkeit: Die Grenzen der Jamesschen Ethik
ОглавлениеWir wollen uns nun einer Grenze bzw. einem blinden Flecken in der Jamesschen Ethik zuwenden. Zu Anfang der Diskussion der Frage nach dem Lebenssinn hatte ich bereits angedeutet, dass James’ Einbeziehen der Lebenspraxis einer Einschränkung unterliegt, die verhindert, dass er zum konsequenten Pragmatiker und Praxis-Denker wird. Diese Einschränkung ist der radikale Individualismus des Jamesschen Philosophierens.
In dem Aufsatz Der Ethiker und das sittliche Leben bestimmt James durch ein Gedankenexperiment den Gegenstandsbereich der Ethik. Er beschreibt eine Situation, die er moralische Einsamkeit nennt. Dies ist eine Welt, in der nur ein Mensch in einem physikalisch reich ausgestatteten Universum existiert. Die Wünsche, Ansprüche und Bedürfnisse dieses Menschen würden über Wert und Unwert entscheiden und hätten quasi-göttlichen Status, und er müsste sich nur um die Widersprüche zwischen seinen Idealen und Wünschen kümmern. Die Grenzen seiner Subjektivität fallen mit den Grenzen der Moral zusammen, und es könnte keine ethischen Gebote oder Verbote geben. In der Situation des moralischen Dualismus von zwei Personen, die nebeneinander her leben, können wir ebenfalls keine ethische Einheitlichkeit erwarten: Die Welt teilt sich nach den ethischen Ansprüchen dieser beiden Personen entsprechend zweifach in Gutes und Böses auf, wenn, wie James annimmt, die beiden Personen einander in ihren Idealen und Werthaltungen ignorieren. James sieht hier zu Recht nichts anderes als eine Verdoppelung der moralischen Einsamkeit, ohne dass eine ethische Einheitlichkeit möglich oder nötig wäre. Erst in der Situation des moralischen Pluralismus, in der eine Vielzahl von Personen mit unterschiedlichen Idealen, Ansprüchen und Forderungen miteinander interagieren, stellt sich nach James das Problem einer vereinheitlichenden Ethik, die eine Vielzahl universeller Standpunkte aufeinander bezieht:
„Wenn ein ideales Urteil objektiv besser sein soll als ein anderes, dann erlangt dieses Bessersein erst dadurch Fleisch und Blut, dass es in die konkrete Wahrnehmung einer Person eingeht. Es kann nicht in der Luft hängen, es ist kein meteorologisches Phänomen von der Art des Nordlichtes. Sein esse ist genauso percipi, wie das esse der anderen Ideale, zwischen denen es steht. Insofern muss der Philosoph, der wissen möchte, welches Ideal die größte Geltung beanspruchen kann und welche anderen Ideale ihm untergeordnet werden müssen, das Sollen auf die wirkliche Konstitution eines Bewusstseins zurückverfolgen; als strenger Ethiker muss er dieses Bewusstsein als ein Faktum anerkennen, hinter das er nicht zurückgehen kann. Dieses Bewusstsein macht das eine Ideal mit seinem Gefühl zu einem richtigen Ideal, das andere dagegen zu einem falschen.“ (S. 83)
Diese Disposition des Problems führt die Jamessche Ethik in eine Schwierigkeit, die sie gegen viele moralische Sachverhalte blind macht. Denn es ist ausgeschlossen, dass die moralische Einsamkeit des Individuums, die James als vormoralische Situation eingeführt hatte, unter seinen Annahmen für eine ethische Theorie jemals überwunden werden kann. Eine moralisch relevante Sachlage kann sich auch dann nicht einstellen, wenn wir es mit einer Vielzahl von Personen zu tun haben, also mit der Situation, die James als „moralischen Pluralismus“ beschreibt. James’ Annahmen und seine Problemexposition führen deshalb seine Ethik in ein Paradox. Denn er kann keine Ethik formulieren, in der zwischenmenschliche Beziehungen moralisch bedeutsam sind, ohne dass dies auf individuelle Gefühle zurückführbar wäre.
Der Grund dafür ist der folgende: Nach dem Jamesschen Diktum, dass jedes Sollen nur dadurch gerechtfertigt werden kann, dass die „wirkliche Konstitution eines Bewusstseins“ erforscht wird, ist allein die individuell zu ergründende moralische Unabhängigkeit von individuellen Gefühlen der Maßstab von moralischer Richtigkeit und entscheidend für die Gültigkeit ethischer Ideale und Forderungen. Dann ist aber auch jede zwischenmenschliche Beziehung nur insofern ethisch relevant, wie sie individuelle Gefühle auslöst. Diese Gefühle sind die einzige Basis der moralischen Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen. Doch damit ist jeder moralische Sachverhalt aus dem zwischenmenschlichen Bereich auf die moralische Einsamkeit des fühlenden Individuums reduziert.
Nur dann, wenn James diese Prämisse aufgeben würde, wenn z. B. ein Ideal von allen Individuen aufgrund wechselseitiger Beziehungen akzeptiert werden würde, wäre diese Beschränkung der Ethik zu überwinden. Doch auch dann wäre nicht das Problem des moralischen Pluralismus gelöst, wie es sich für James stellt, sondern es könnte einfach nicht mehr entstehen. Wir haben es also mit einem Problem zu tun, für das es, so wie es sich für den Jamesschen Ansatz stellt, keine Lösung gibt. Und der Grund dafür ist die Weise, wie James menschliche Individualität konzipiert.14
Die psychologische Basis dieses reduktiven Individualismus der Gefühle formuliert James am deutlichsten zu Anfang des Aufsatzes Über eine gewisse Blindheit der Menschen. Dieser Aufsatz beginnt mit einem radikal individualistischen Bekenntnis:
„Unsere Urteile über den Wert der Dinge, ob groß oder klein, hängen von den Gefühlen (feelings) ab, welche die Dinge in uns erregen. Wo wir ein Ding in Folge der Vorstellung, die wir von ihm haben, als wertvoll beurteilen, ist diese Vorstellung selbst bereits mit einem Gefühl verknüpft. Wenn wir gänzlich gefühllos wären, und wenn Vorstellungen die einzigen Dinge wären, mit denen sich unser Geist beschäftigen würde, so würden wir sofort alle Zu- und Abneigungen verlieren und unfähig sein, eine Situation oder Erfahrung des Lebens als wertvoller oder sinnvoller als irgendeine andere herauszuheben. Die Blindheit der Menschen, mit der sich dieser Vortrag beschäftigt, ist die Blindheit mit der wir alle gegenüber den Gefühlen von Geschöpfen und Menschen geschlagen sind, die verschieden von uns sind. Wir sind praktische Wesen und jeder von uns kann nur eingeschränkte Aufgaben und Pflichten ausüben. Jeder neigt dazu, die Bedeutung seiner eigenen Pflichten und den Sinn der Situationen zu fühlen, die daraus entstehen. Aber dieses Gefühl ist in jedem von uns das Lebensgeheimnis, wofür wir uns ein Verständnis der anderen vergeblich erhoffen. Die anderen werden zu sehr von ihrem eigenen Lebensgeheimnis beherrscht, um sich für das unsere zu interessieren.“ (vgl. S. 171, i)
Wenn ausschließlich nicht kommunizierbare individuelle Gefühle den Sinn und die Geltung von Idealen und Werturteilen ausmachen, dann können wir in der Tat andere Menschen niemals verstehen: Die Individualität des Anderen bleibt verschlossen; sie bildet ein unzugängliches „Lebensgeheimnis“. Doch in Über eine gewisse Blindheit der Menschen erzählt James nur Geschichten, in denen zunächst er selbst oder jemand anders die Ideale und Gefühle von Menschen missversteht. Diese Geschichten enden immer damit, dass das Missverständnis in der Geschichte selbst oder im Aufsatz aufgeklärt wird. James reflektiert aber an keiner Stelle, warum seine Beschreibung von Situationen des anfänglichen Nicht-Verstehens der Ideale anderer Menschen durch die Beschreibung des späteren Verstehens aufgeklärt werden kann. Damit ist jedoch bereits die These widerlegt, die der Titel des Aufsatzes suggeriert: Dass Menschen immer für die Ideale und Werte der anderen Menschen blind sind. Die Frage, wodurch er in seinem Aufsatz in der Lage ist, die zunächst unverstandenen Ideale anderer Menschen schließlich doch zu verstehen, stellt er nicht.
Die Konsequenzen des moralischen Gefühls-Individualismus für die Jamessche Ethik sind klar: Selbst die nach James einzige zulässige allgemeine Aussage der Ethik, dass nur Ideale zu akzeptieren sind, die eine möglichst große Zahl individueller Wünsche, Forderungen und Ideale einbeziehen und berücksichtigen, macht nur aufgrund der Annahme Sinn, dass die Wünsche, Forderungen und Ideale der Individuen unabhängig voneinander und unhintergehbar sind. (Die erkenntnistheoretische Schwierigkeit, wie man denn erkennen kann, dass mein Ideal möglichst viele Ideale anderer Menschen einschließt, wenn diese doch für mich unverständlich sind, soll hier wenigsten erwähnt, aber nicht weiter diskutiert werden.) Nun ist die moralische Toleranz, die aus diesem Gebot der Inklusion für den moralischen Alltag und moralische Auseinandersetzungen folgt, sicher richtig und überaus sympathisch. Aber folgt daraus, dass zwischenmenschliche Beziehungen keine moralischen Eigenschaften aufweisen? Dies ergibt sich nur, wenn man wie James annimmt, dass zwischenmenschliche Beziehungen allein wegen der durch sie verursachten individuellen Gefühle etwas zum Sinn des Lebens und zur moralischen Identität von Personen beitragen.15 (Dass individuelle Gefühle in unsere Bewertungen, Ideale und moralischen Urteile eingehen und sogar entscheidend sein können, will ich nicht leugnen. Es geht lediglich darum, dass Gefühle nicht die einzige Basis und der einzige Maßstab für moralische Urteile und dafür sein können, ob etwas moralisch ist.)
Die größte Stärke der Jamesschen Psychologie, Ethik und Lebenskunst erweist sich als ihre größte Schwäche: Indem Gefühle, Erfahrungen und die Körperlichkeit des Einzelnen zum unhintergehbaren Bezugspunkt werden, wird zwar einerseits deren psychologische und philosophische Bedeutung detailliert und konkret herausgearbeitet. Andererseits werden alle Beziehungen und Kontexte, in denen geistige Vorgänge ihre Bedeutung gewinnen, auf die Ebene individueller Erfahrung, Körperlichkeit und Interpretation heruntergebrochen. Damit wird aber die autonome Wirksamkeit zwischenmenschlicher und nicht strikt individuell begründeter Einflüsse entweder verfälscht, umgedeutet oder sogar ganz aus der Betrachtung ausgeschlossen.
Auch die durch den Pragmatismus eingeführte Beziehung von geistigen Prozessen zu Handlungen und ihre intersubjektiven Bedingungen wird von James ausschließlich bezogen auf individuelles Handeln und Fühlen verstanden, und so werden alle übrigen, davon unabhängigen Faktoren nicht sichtbar. Selbst sein expliziter Pluralismus ist durch diesen psycho-ontologischen Individualismus geprägt: Denn er geht von der stillen Annahme aus, dass eine Pluralität von Positionen vertretbar ist, die allein durch voneinander unabhängige Individuen konstituiert wird. Doch diese Individuen existieren beziehungslos nebeneinander – und wären als Menschen weder praxis- noch lebensfähig. James hat diese Form des Individualismus aber nur implizit angenommen und konnte ihn deshalb auch niemals explizit aufgeben.16
Die ethisch-lebenskünstlerischen einschneidensten Folgen dieses Individualismus bestehen darin, dass die Jamessche Ethik nicht zulassen kann, dass Beziehungen zwischen Personen und Dingen Wirklichkeit haben. Weil Beziehungen von den Gefühlen und Erfahrungen des Einzelnen unabhängig wirksam sein können, bestimmen sie individuelle Gefühle so, dass dies aus der Perspektive des Individuums weder für es selbst verständlich noch theoretisch vom Individuum her erklärbar ist. Das intensive Interesse von James an Spiritismus und der Beziehung jedes individuellen Geistes zur All-Seele sind Versuche einer abstraktspekulativen Konstruktion von Zwischenmenschlichkeit. Auch der Begriff des „Bewußtseinsstroms“ in den Principles of Psychology ebenso wie die „reine Erfahrung“ im radikalen Empirismus sind Ansätze, das Problem des absoluten Individualismus auf einer Ebene aufzulösen, auf die es nicht gehört.17 Doch dadurch erneuert sich für James das Problem nur auf einer anderen Ebene: Es kommt zu der Konzeption einer Art universalen Individuums, einer Art Hyper-Person.
Doch was ist die Alternative? Zu dieser gelangen wir, wenn wir die Sorge um Andere, das Bedürfnis nach praktischer Lebensteilung mit anderen Menschen, zum Sinn des Lebens rechnen. Diese Annahme hatten wir zu Beginn im vierten Abschnitt über den Sinn als Position eines konsequenten Praxis-Denkens eingeführt – und schon angedeutet, dass James dem nicht folgen kann. Nehmen wir dies an, so würden auch etliche individuelle Forderungen und Wünsche bereits den Anderen mit einschließen können. Sie wären auch nicht durch allein individuelles Fühlen entstanden oder nur durch das Fühlen begründet. Es gäbe dann einen zwischenmenschlichen Lebenssinn. Darum geht es z. B. auch Terry Eagleton, wenn er gegen Ende seines Buchs Der Sinn des Lebens (Berlin 2008) den Lebenssinn u. a. durch die Liebe bestimmt. Diese versteht er nämlich nicht als rein individuelles Gefühl, sondern als Weise der wechselseitigen Lebensteilung:
„Was wir Liebe genannt haben, ist die Art und Weise, in der wir unser individuelles Streben nach Erfüllung mit der Tatsache versöhnen, dass wir soziale Wesen sind. Denn Liebe heißt, für einen anderen den Raum zu schaffen, in dem er sich entfalten kann, während er dasselbe für uns tut. Die Erfüllung des einen wird zur Grundlage für die Erfüllung des anderen.“ (Ebenda, S. 139)
Noch radikaler auf den Beziehungscharakter setzt der Freiburger Philosoph Rainer Marten, wenn er in seinem Buch Lebenskunst (München 1993) die Liebe als Form der Lebensteilung beschreibt. Ihr Sinn liegt im praktischen Beziehungscharakter, den Marten mit dem Ausdruck „des Anderen sein“ charakterisiert. Damit ist gemeint, dass Liebe darin besteht, dass sie eine wechselseitige Beziehung zwischen zwei Menschen herstellt. Über das Selbst der beiden Liebenden sagt Marten: „Bin ich mir – liebend-geliebt – meiner selbst gewiß, dann hat das seinen Grund darin, dass ich – liebend-geliebt – des Anderen gewiß bin.“ (Ebenda, S. 34)
Für James gerät eine solche Wechselseitigkeit von Beziehungen als Lebenssinn und -wert nicht einmal als Möglichkeit in den Blick. Deshalb ist selbst der moralische Pluralismus nichts anderes als die Multiplikation der moralischen Einsamkeit des Individuums.