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1. William James: Leben und geistige Entwicklung
ОглавлениеWilliam James liebt und zitiert Walt Whitman, der über eines seiner Bücher gesagt hat: „Wer dies Buch berührt, berührt einen Menschen“. Mit diesem Satz kann man auch die Arbeiten von James charakterisieren. Ob mit Zustimmung oder mit Abneigung: Wer sich mit der Philosophie von William James intensiver beschäftigt, kann sich der Unmittelbarkeit, Leidenschaft und dem durchaus spekulativen Engagement seines Denkens – das gut mit Ironie und Humor zusammengeht – nur schwer entziehen. William James ist mit Fragen und Erfahrungen aus seinem eigenen Leben auch in seinen philosophischen Arbeiten gegenwärtig.
Vielen Lesern, insbesondere unter den Philosophen, ist ein solcher Denkstil nicht nur ungewohnt – er stößt manchmal auch auf deutliche Ablehnung. Philosophen haben doch abgeklärt und abstrakt zu denken, was häufig mit „philosophisch“ gleichgesetzt wird. Ihr eigentlich philosophisches Interesse am Allgemeinen oder gar Universalen sollte ihr Denken gegenüber den peinlichen, nämlich individuellen und persönlichen Problemen und Haltungen rein erhalten, die bestenfalls den Anlass zum Philosophieren bieten. Doch spätestens seit Montaignes Essais kennen wir dazu eine fruchtbare Alternative: die Treue gegenüber der eigenen Erfahrung und dem eigenen Leben. Daraus kann ein Philosophieren erwachsen, das die Beziehung zum Leben nicht nur zum Ausgangspunkt, sondern auch zum Maßstab und Bezugspunkt macht, wenn es um Fragen des Sinns, der Lebenskunst und der Befähigung der Menschen zur Moral geht. Wie schreibt Montaigne im dritten Buch der Essais:
„Wußtest du dein Leben recht zu bedenken und in die Hand zu nehmen? Dann hast du die größte aller Aufgaben vollbracht! – Um die Kräfte zu zeigen und zu entfalten, bedarf die Natur keines bedeutenden Menschenschicksals; sie kann es in allen gesellschaftlichen Schichten tun, mit oder ohne Vorhang. Einen sittlichen Wandel, nicht Bücher zuwege zu bringen ist uns aufgegeben; und nicht Schlagen und Provinzen zu gewinnen, sondern Ruhe und Ordnung in unserm täglichen Verhalten: Recht zu leben – das sollte unser großes und leuchtendes Meisterwerk sein! Alle andern Dinge wie Herrschen, Horten und Häuserbaun sind höchstenfalls Anhängsel und Beiwerk.“ (Michel de Montaigne, Essais, übersetzt v. H. Stilett, Frankfurt 1998, S. 560)
Doch zurück zu James. Wie lebte dieser Mensch, welche Erfahrungen machte er mit dem Leben, dass er lernte, derartig mutig und lebendig zu denken und zu schreiben? Das Leben von William James war nicht das eines Gelehrten, der strebsam seinen Weg geht. Er wurde am 11. Januar 1842 in New York als der erste Sohn von Henry und Mary James geboren und starb am 26. August 1910 in Chorcorua, New Hampshire. Sein jüngerer Bruder, Henry James jun. (1843– 1916), ist der erste amerikanische Schriftsteller, der literarischen Weltruhm erlangte und gerade heute wieder vermehrt gelesen wird. Henry lebte zunächst in Frankreich und dann vor allem in England und schildert in seinen psychologisch subtilen und einfühlsamen Romanen z. B. die Nöte und Empfindungen eines Kindes – ganz aus dessen Erfahrungsperspektive und in dessen Sprache. Er thematisiert u. a. die von ihm selbst erlebte, zwischen Faszination und Missbilligung schwankende Europaerfahrung der Amerikaner. Henry erzählt seine Romane häufig so, dass er den „Bewusstseinsstrom“ einer Person wiedergibt: eine Konzeption, die eine der großen Leistungen, ja ein Kernstück der Psychologie von Bruder William bildet.
Der Vater beider Brüder und der Schwester Alice, die William ein Leben lang nah verbunden blieb und ihn unterstützte, war Henry James sen. (1811–1882). Eine ihn tief erschütternde, halluzinatorisch-religiöse Erfahrung hatte Henry sen. zum überzeugten Swedenborgianer gemacht. Henry sen. hatte reich geerbt, lebte unabhängig. So konnte er es sich leisten, als offensiver und expliziter Bewunderer des Neo-Mystikers Swedenborg auch publizistisch aufzutreten. Er war der Überzeugung, dass man das Seelenheil durch Selbstaufopferung unter dem Einfluss göttlicher Liebe gewinnen könne. Seine ganze Kraft widmete er nicht nur der Verteidigung seines Verständnisses der mystischen Lehren Swedenborgs – die u. a. ein ganzes, hierarchisch geordnetes Reich von Engeln unter Gottes Thron ausmalen. Er entwickelte daraus auch einen Zugang zu Problemen der sozialen Gerechtigkeit. Er vertrat einen religiös inspirierten Sozialismus, den er in Vorträgen und Schriften öffentlich bekundete. Es war ein geistig reges, von politischen, metaphysischen und religiösen Debatten geprägtes Elternhaus, in dem William James aufwuchs und das auch seine Erziehung bestimmte.
Die Familie reiste häufig längere Zeit in Europa und wohnte insbesondere in Frankreich, Deutschland und Italien. James ging 1859–1860 in der Schweiz und in Deutschland zur Schule, wo er später auch u. a. in Leipzig und Heidelberg studierte. Dies waren damals noch Universitäten, deren Ruf nur mit Harvard und Princeton heute zu vergleichen ist. Aus den ausgeprägten und eigenwilligen Überzeugungen von Henry James sen., dessen metaphysisch-theologisches Hauptwerk Substance and Shadow ist, entstand aber kein engstirniger Dogmatismus. Man pflegte in der Familie James einen offenen politischen, aber auch religiös-metaphysischen Diskurs. William James’ Interessen und Denken wurden entsprechend nicht dogmatisch in ihrem Inhalt, sondern in der Wachheit gegenüber allen möglichen allgemeinen Themen durch diese diskursiven und sozialen Erfahrungen geprägt. Dazu trug sicher auch die offene gastliche Atmosphäre des Hauses bei. Denn zu den Freunden, Bekannten und Besuchern von Henry James sen. gehörten z. B. David Thoreau, Ralph W. Emerson und Nathaniel Hawthorne. William übernahm zwar nicht die religiösen und metaphysischen Überzeugungen seines Vaters, hielt aber an dessen Haltung der Toleranz und dessen weit gespannten Interessen fest. Er blieb auch lebenslang an religiösen, sogar an spiritistisch-übersinnlichen Phänomenen und an der Vielfalt religiöser Erfahrungen interessiert. So nimmt es nicht wunder, dass er die positive Wirkung der Religion für das Leben auch im Rahmen seines Pragmatismus verteidigte und an der Hypothese einer übersinnlichen Existenz der Seele soweit interessiert war, dass er seinen Bruder Henry bat, sich noch drei Wochen nach seinem, Williams, Tod in derselben Stadt aufzuhalten, um eventuell aus dem Jenseits gesendete Signale zu empfangen.
James hatte ein ausgeprägtes Talent zum Zeichnen und Malen. Sein Leben lang, noch als Psychologe und Philosoph, hat William seine Manuskripte mit Zeichnungen versehen. Seine erste Berufsentscheidung war, Maler zu werden: Er notiert 1860 „ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass, Kunst‘ meine Berufung ist“. Die Ausbildung zum Maler war aber auch Teil der Auseinandersetzung mit den weltanschaulich motivierten Zumutungen und Vorschlägen des Vaters. Daraufhin wurde er 1860–1861 von dem damals berühmten Porträt- und Landschaftsmaler William Morris Hunt unterrichtet, was er aber nur ein halbes Jahr durchhielt. Doch auch von den Wissenschaften, denen sich William nun zuwandte, hielt der Vater nicht viel.
1861 schrieb er sich in der Harvard Universität an der Lawrence Scientific School ein, wo er den etwas älteren Charles S. Peirce kennenlernte, mit dem er dort Chemie studierte. Dies war der Beginn einer lebenslangen Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen diesen beiden sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten. Diese Freundschaft sollte schließlich dem glücklosen, im Alter hungernden Peirce das Leben retten: Er lebte jahrelang von einer durch James im Freundeskreis organisierten Unterstützung. 1864 wechselte William in die Medizin, an die Medical School, die er mit dem MD (Doktor der Medizin) abschloss. Er praktizierte jedoch niemals als Arzt. 1865–1866 beteiligte sich James an der sogenannten Thayer Expedition, die ihn unter der Leitung des damals sehr bekannten Geologen Louis Agassiz in den Dschungel Brasiliens führte. Auf dieser Reise zog James sich mehrere Krankheiten zu, die in einer gesundheitlichen Krise mündeten. Er erlitt eine Depression, an die sich weitere seelische und körperliche Probleme anschlossen und noch den Abschluss seines Medizinstudiums im Jahre 1869 überschatteten. James blieb sein ganzes Leben lang kränklich, was er durch den häufigen Besuch von Bädern und durch Kuren auch in Europa zu kurieren trachtete. Er war z. B. mehrere Male in Bad Nauheim (bei Frankfurt) zur Kur, wie ich anlässlich eines Vortrags über James in Bad Nauheim vor einigen Jahren entdeckte.
Bereits ab 1870 veröffentlichte James Aufsätze zu psychologischen Themen. Und schon 1873 (bis 1876) wurde er in Harvard für den Unterricht in Anatomie und Physiologie angestellt. Von nun an ging es schnell voran: 1875 gab James in Harvard die erste Lehrveranstaltung in experimenteller Psychologie auf amerikanischem Boden und 1876 wurde er zum Professor für Psychologie ernannt. 1885 wechselte er auf eigenen und sehnlichen Wunsch das Fach und wurde Professor für Philosophie.
Wie entwickelte sich das Jamessche Denken und wo haben die in diesem Band versammelten Arbeiten ihren Ort? Sehen wir zunächst einmal von den epochalen Arbeiten in der Psychologie ab, die uns in den folgenden Abschnitten beschäftigen werden, so ergibt sich das folgende Bild: James war ein begnadeter Redner und nahm regelmäßig zu politischen und sozialen Fragen in Zeitungen Stellung und hielt viele Vorträge auch vor Laien. Er wurde von Instituten, Universitäten und Studentenvereinigungen im ganzen Land zu Vorträgen eingeladen. Dies ist aber nur der äußere Grund dafür, dass Vorträge, die er thematisch zu Sammelbänden zusammenfasste, zu der wichtigsten Darstellungsform seiner Philosophie wurden. Der tiefere Grund ist sicherlich, dass eben diese lebensnahe, an allgemeine Erfahrungen anknüpfende Art des Philosophierens von James geschätzt und kultiviert wurde. Deswegen finden sich viele für die Entwicklung der Jamesschen Philosophie entscheidende Arbeiten z. B. in dem Band The Will to Believe and other Essays in Popular Philosophy von 1897, dem auch zwei Aufsätze des hier vorgelegten Bandes (Ist das Leben lebenswert? und Der Ethiker und das sittliche Leben) entstammen.
Der Aufsatz Was gibt einem Leben Sinn? wurde dem Band Talks to Teachers on Psychology and to Students on Some of Life’s Ideals2 entnommen, der Vorträge zu moralischen, lebenskünstlerischen und politischen Themen versammelt. In diesem im Jahr 1899 veröffentlichten Band behandelt James lebendig, gelehrt, kenntnisreich und einfühlsam politische und psychologische Fragen und Probleme ebenso wie Lebens- und Sinnkrisen. Ein Buch ganz anderer Art sind dagegen die Varieties of Religious Experience3 von 1902. Sie sind aus Vorlesungen, den in Edinburgh gehaltenen Gifford-Lectures, hervorgegangen. James behandelt religiöse Fragen als Psychologe und Pragmatist, der mit einer ebenso offenen wie kritischen Einstellung, sensibilisiert durch die religiösen und metaphysischen Diskussionen mit seinem Vater, den Zusammenhang religiöser Erfahrungen mit anderen psychischen Phänomenen offenlegt, ohne dabei den besonderen Wert dieser Erfahrungen im Leben des Einzelnen zu leugnen. Die in diesem Band erstmals übersetzten Vorlesungen Die Unsterblichkeit des Menschen nutzt James, um deutlich zu machen, dass die Annahme der Unsterblichkeit von den gängigen psychologischen Theorien her weder ausgeschlossen werden kann noch ihnen widerspricht (Human Immortality, New York 1898).
Doch am berühmtesten und einflussreichsten ist der Band Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking von 1907. Auch die heutige Diskussion um den Pragmatismus, dessen Wahrheits- und Bedeutungsbegriff, nimmt immer darauf Bezug. Kurz vor seinem Tod im Jahre 1910 veröffentlicht James A Pluralistic Universe. Dies ist gleichfalls eine umgearbeitete Vorlesungsreihe, in der er sein pluralistisches Welt- und Menschenverständnis am klarsten und ausführlichsten entwickelt. In diesem Jahr setzt James sich auch noch in der Aufsatzsammlung The Meaning of Truth (1909) mit der heftigen und einseitigen Kritik vieler deutscher und englischer Philosophen, z. B. auch von Bertrand Russell, an der Wahrheits- und Bedeutungstheorie des Pragmatismus auseinander.
Der dritte und letzte Entwicklungsschritt auf James’ Denkweg war der sogenannte „Radikale Empirismus“. Dabei handelt es sich um die These, dass es einen neutralen Stoff gibt, eine reine Erfahrung, die so rein ist, dass in ihr der Unterschied zwischen dem Objekt der Erfahrung und dem Subjekt, das diese Erfahrung macht, vollständig aufgehoben ist.4 Dieser auch als neutraler Monismus bezeichnete Ansatz ist vom Pragmatismus unabhängig und bringt eine metaphysisch-spekulative Seite und ein idealistisches Moment seines Denkens zum Vorschein, das auch in seiner Theorie der Unsterblichkeit einer Allseele explizit wird: Die gesamte Wirklichkeit wird zu einem Zusammenhang neutraler, reiner Erfahrung. Der radikale Empirismus wurde aber erst in dem posthum veröffentlichten Band Essays in Radical Empiricism (1912) zugänglich gemacht.