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2. Die Entstehung einer Philosophie aus der Psychologie

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Prägend, d. h. die Leitlinien, Daten und Motive seines Philosophierens definierend, waren seine intensiven, die damalige Front der Forschung definierenden Arbeiten in dem soeben eigenständig gewordenen Fach der Psychologie. Schon 1878 unterschrieb der junge Harvard-Professor James den Verlagsvertrag für die Principles of Psychology (PP) mit dem Verleger Holt, der sehr besorgt war, dass der geplante Band nicht schnell genug fertig wurde. Denn William hatte ihm gesagt, er würde „erst“ in zwei Jahren damit fertig sein. Dass die Principles erst 12 Jahre später in zwei dicken Bänden erscheinen würden, hätten damals wohl beide nicht für möglich gehalten.

Heute, 120 Jahre nach Erscheinen dieses Werks, ist deutlich, dass James 1890 mit den PP viel mehr als nur einen wichtigen Beitrag zur jungen Wissenschaft der Psychologie vorgelegt hatte. Vielmehr sind ihm schon damit Beiträge zur Philosophie des Geistes, philosophischen Anthropologie, Wissenschaftstheorie der Psychologie ebenso wie zur Ethik und Lebenskunst gelungen. Eben dies belegt auch das in diesem Band aufgenommene Kapitel über den Willen. Denn seine mit und in der Psychologie einsetzende Philosophie ist eine Philosophie der menschlichen Existenz, des körperlichen Seins: ein Denken, das das alltägliche Leben und das Gewicht der Lebenserfahrung in die Psychologie integriert. Hätte es damals schon Preise für wissenschaftliche Prosa gegeben – die ebenso genaue, klare und selbst in Spezialdiskussionen verständliche Sprache der PP hätte jeden Preis verdient. Die PP können deshalb auch heute noch Vergnügen bereiten: Sie können als eine Folge von Essays über die Empfindlichkeit, Unwahrscheinlichkeit und Unzugänglichkeit menschlichen Lebens gelesen werden.

Die PP sind von beeindruckender Vielseitigkeit: Da werden naturwissenschaftliche Resultate der Physiologie neuronaler Prozesse mit introspektiven und alltäglichen Beobachtungen systematisch reflektiert verbunden. Denn auch die Ergebnisse physiologischer und psychologischer Forschung konfrontiert und bewertet James anhand von Common Sense Überlegungen und Erfahrungen. So entsteht, wie auch das Kapitel Der Wille in diesem Band zeigt, eine Art kritischer Common Sense Methodik: Die Einbeziehung von eigenen Körpererfahrungen – die weit über die heute auf Körperbewegung und -lage eingeschränkte Propriozeption hinausgehen – wird zu einer Form der gehärteten theoretischen Reflexion psychologischer Probleme ausgestaltet. James versucht dadurch die Grenzen der Psychologie näher zu bestimmen.

Die PP liefern dem Leser aber auch ein Panorama fast aller traditionellen Theorien des Geistes. Doch James entwickelt aus seiner Auseinandersetzung keine einheitliche, alle geistigen Phänomene und Funktionen verbindende, Theorie des Geistes. Dabei fehlt es nicht an verbindenden Momenten. Bei allen Themen – ob es um den Erwerb von Verhaltensgewohnheiten, um das Selbstbewusstsein, Aufmerksamkeit, Empfindung, Zeit- und Realitätswahrnehmung, Emotionen, Erinnerung oder rationales Denken geht – stets versucht James, körperliche Erfahrungen und physiologische Eigenschaften geistiger Phänomene aufzuweisen und zur Bestimmung der konkreten Erfahrungsbedingungen zu nutzen. Doch ihm geht es nicht darum, die aufgewiesenen Aspekte der verschiedenen geistigen Phänomene theoretisch zu vereinheitlichen. Im Gegenteil: James erteilt explizit dem Unternehmen einer einheitlichen Super-Theorie des Geistes eine Absage. Der Pluralismus, den James später als Pragmatist artikulieren wird, bestimmt bereits die Praxis und Theorie seines Denkens in der Psychologie.

James setzt sich mit geistigen Phänomenen auf eine Weise auseinander, die zu einer ganz eigenen Ontologie der Kontinuität aller geistigen Phänomene führt. Denken und Bewusstsein werden weder monistisch durch ein Prinzip vereinheitlicht, noch werden sie auf diskrete geistige Ereignisse, also einzelne Gedanken, Vorstellungen oder Ideen, gegründet. Vielmehr wird das Modell eines zeitlich und räumlich kontinuierlichen Prozesses (stream of consciousness) angenommen: Bewusstsein und Denken bestehen wesentlich aus dem Zusammenhang des Verlaufs wechselnder Beziehungen. Für James sind somit der Zusammenhang, die Kontinuität und die Übergängigkeit der Bewusstseins- und Denkformen die primäre geistige Wirklichkeit. Mit dieser Kontinuitätsthese kommt James der Philosophie seines Lebensfreundes C. S. Peirce so nahe wie selten. Peirce plädiert in seiner Metaphysik unter dem Namen Synechismus entschieden dafür, dass kontinuierliche Übergänge die Grundstruktur der äußeren Wirklichkeit und des Geistes bilden. In seiner Rezension der PP hat Peirce deshalb gerade James’ Kontinuitätsthese als dessen höchste Errungenschaft gepriesen.

Was bedeutet es konkret, dass das Bewusstsein stets im Fluss ist, und wie kann es dann einzelne Gedanken, Ideen, Wahrnehmungen geben? Jede für sich betrachtete isolierte Idee, eine Vorstellung oder ein Gedanke, ist eine diesen Strom verkürzende Darstellung, die selbst im Prozesskontinuum verbleibt. Kontinuierliche Zusammenhänge und Übergänge von einander verstärkenden oder schwächenden Beziehungen werden durch einen Gedanken, eine Idee oder Vorstellung also nur verkürzt. Im Zusammenhang des Bewusstseinsflusses gesehen sind einzelne Ideen, Vorstellungen und Gedanken also in einen unscharf begrenzten Bereich von mehr oder minder starken Anklängen und Assoziationen eingebettet. Die einzelne Vorstellung, z. B. von einem Baum, ist selbst ein Ruhepunkt im Prozess des Verlaufs. Sie liegt als Verdichtung oder Überlagerung im Fluss eingebettet. Einzelne Bilder, Ideen, Gedanken sind somit aus der Veränderung gebildete, relativ konstant fortbestehende Teile des Flusses. Nur relativ zu ihrer schneller sich verändernden Umgebung sind sie konstant. Sie ähneln darin den Wirbeln eines Flusses, deren Bildung nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis des Strömens des Flusses ist. Ohne das Fließen des Flusses gibt es keine Wirbel und ohne Bewusstseinsstrom keine einzelnen Gedanken und Ideen.

Dieser Ansatz hat Konsequenzen für die Bedeutung geistiger Phänomene: Erst die Umgebungsbeziehungen zu den anderen Gedanken, Gefühlen, Stimmungen usw. geben einem Gedanken oder einer Idee ihre volle psychische Wirklichkeit und Bedeutung. Erst das reflektierende Denken des Psychologen oder aber das in Subjekte und Prädikate unterscheidende alltägliche Sprechen unterteilen den ansonsten kontinuierlichen Strom des Denkens und Fühlens. (In diesem Gedanken der grundlegenden Rolle der Kontinuität des Bewusstseinsstroms ist bereits im Keim eine Konsequenz angelegt, die James in seiner Spätphilosophie als „radikalen Empirismus“ zu der These entwickelt, dass es eine reine, neutrale Struktur der Erfahrung gibt, die weder geistig noch materiell ist, sondern beides zugleich.)

Wenn James die Kontinuitäts- und Übergangseigenschaften des Geistigen herausarbeitet, so tut er dies weiterhin dadurch, dass er den Beitrag körperlicher Prozesse und Empfindungen zu den kognitiven und affektiven geistigen Phänomen betont. So schlägt er z. B. in der Theorie der Emotionen (heute als James-Lange Theorie der Emotionen bekannt) vor, Emotionen von den körperlichen Vorgängen und Empfindungen her zu erklären. Dies verkürzt James zu der eingängigen, aber irreführenden Formulierung: „Wir weinen nicht, weil wir traurig sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen.“ James gelingt es mit diesen Ansätzen, eine Alternative sowohl zu der Tradition der empiristischen Assoziationspsychologie Englands als auch zu den eher idealistischen oder transzendental-psychologischen Ansätzen aus Deutschland und Frankreich zu entwickeln. Man kann deshalb die Bände der PP mit Gewinn als historische Einführung und Ergänzung zur heutigen Philosophie des Geistes lesen: Fast alle heute strittigen Probleme und Vorschläge zu Geist und Bewusstsein und zum sogenannten Leib-Seele Problem werden anhand der Tradition wie der damaligen Forschungsliteratur diskutiert.5

Der Sinn des Lebens

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