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6. James über die Unsterblichkeit der Seele18

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Ein Leben nach dem Tode? Die Unsterblichkeit der Seele

Wohin gehen wir nach unserem Tode? Hinterlassen wir Spuren in der Welt, wenn wir einmal nicht mehr sind? Gibt es eine Seele, und lebt diese in anderer Form weiter, wenn sie die leibliche Hülle verlassen hat? Gibt es gar ein ewiges Leben nach dem Tod? Diese und ähnliche Fragen beschäftigen die Menschen seit Anbeginn und gehören zu den schwierigsten Problemen der Philosophie. William James, der im Jahre 1897 der Einladung Harvards gefolgt war, um dort die renommierten Ingersoll-Lectures zu halten, gibt ihnen in ihrer veröffentlichten Form den Titel On Human Immortality: Two Supposed Objections to the Doctrine und thematisiert darin die Unsterblichkeit der individuellen Seele.

James orientiert sich in seinen Ausführungen an zwei möglichen Einwänden, die seiner Ansicht nach gemeinhin gegen die These von der menschlichen Unsterblichkeit erhoben werden. Der erste Einwand, den James thematisiert, besteht in der Annahme, unser Geist sei vollständig von unseren Hirnprozessen abhängig („dass alles geistige Leben, wie wir es heute kennen, vollständig von Hirnprozessen abhängt“, S. 154) und daher könne es kein Leben nach dem leiblichen Tode geben. Der zweite Einwand lautet, dass die Vorstellung eines wie auch immer gearteten Jenseits, wie es sich im Falle individueller Unsterblichkeit darböte, keine wünschenswerte Vorstellung sei. Eine solche Welt wäre beispielsweise hoffnungslos überbevölkert („die unglaubliche und unerträgliche Zahl von Wesen, von denen wir aus unserer heutigen Sicht glauben müssen, dass sie unsterblich sind, wenn es denn eine Unsterblichkeit gibt“, S. 165).19 Das erste Problem behandelt James ausführlich, während er das zweite nur skizziert.

Unsterblichkeit und das Leib-Seele-Problem: Ist der Geist vom Gehirn abhängig?

Der erste und gewichtigste Einwand gegen die Unsterblichkeit der menschlichen Seele beruht nach James auf dem Leib-Seele-Problem: Wie können wir an ein Leben nach dem Tode glauben, wenn die Wissenschaften uns doch ein für allemal bewiesen haben, dass unser Bewusstsein nichts als eine „Funktion“ der grauen Zellen im Gehirn ist? Wie soll sich diese Funktion nach dem Tod des Gehirns noch aufrechterhalten? Was dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele entgegensteht, sind in den Augen der Wissenschaften die harten Fakten der physiologischen, empirisch ausgerichteten Psychologie, deren Mitbegründer William James selbst ist. Wie James zu Beginn seiner Vorlesung über die Unsterblichkeit schreibt, nähert er sich diesem existentiellen Thema zunächst nicht als Philosoph, sondern als Psychologe. Umso interessanter ist es zu sehen, dass James sich dennoch kritisch mit seinem eigenen Berufsstand und dessen Dogmen auseinandersetzt. Dies bedeutet einerseits, dass er den wissenschaftlichen Standpunkt durchaus ernst nimmt und ihn sogar zu seinem Ausgangspunkt wählt, wenn er die Frage nach der Korrelation von Gehirn- und Bewusstseinszuständen stellt. Andererseits wird jedoch deutlich, dass er den psychologischen Ansatz nicht unhinterfragt lässt, sondern ihn philosophisch beleuchtet. Dies tut er anhand einer Begriffsklärung des Terminus „Funktion“. Sein erster Schritt besteht entsprechend darin, den Begriff der „Gehirnfunktion“ näher zu erläutern. Dabei fördert er Erstaunliches zutage. Der vermeintlich „harte“ wissenschaftliche Begriff der Funktion lässt beträchtliche Interpretationsspielräume offen. Denn es ist keineswegs selbstevident, was eine Gehirnfunktion ist, und, wichtiger noch: es gibt offensichtlich mehr als nur eine solche „Funktion“. Sobald man jedoch mehrere Interpretationen des Begriffs der Funktion zulässt, eröffnet sich die Möglichkeit einer Deutung des Terminus „Funktion“, die die menschliche Unsterblichkeit nicht mehr ausschließt. Tatsächlich wird James die These vertreten, dass menschliche Unsterblichkeit wissenschaftlich und philosophisch betrachtet möglich ist:

„Ich möchte Ihnen zeigen, dass die fatale Schlussfolgerung nicht so zwangsläufig ist, wie man gemeinhin denkt, und dass selbst dann, wenn unser Seelenleben (wie es sich uns hier unten auf Erden präsentiert) in aller Strenge als Funktion eines sterblichen Gehirns begriffen wird, damit überhaupt noch nicht ausgeschlossen wird, dass das Leben auch nach dem Tod des Hirns fortdauert.“ (S. 156)

„Wie ein Dom aus buntem Glas: Die transmissive Funktion des Gehirns

Wie gelangt William James zu dieser verblüffenden These? Schließlich hatte er als einer der Begründer der empirischen Psychologie in seinen Principles of Psychology doch gerade die Korrelation mentaler Prozesse mit Gehirnzuständen erforscht. Zentral ist für James die Idee einer „funktionalen Abhängigkeit“ des Bewusstseins vom Gehirn, die er als Wissenschaftler durchaus anerkennt. Was bedeutet sie? Und weshalb ist es James so wichtig, dass es mehrere Arten funktionaler Dependenz gibt? Wenn wir über Funktionen sprechen, so ergibt sich laut James daraus das missverständliche Bild einer Hervorbringungsrelation. Wenn wir sagen, das Bewusstsein sei eine Funktion des Gehirns, meinen wir damit dasselbe, wie wenn wir sagen, der Wasserdampf sei eine Funktion des Teekessels, Licht eine Funktion des elektrischen Kreislaufes und Energie eine Funktion der Dynamik des Wasserfalls. In den genannten Fällen haben materielle Gegenstände die jeweiligen Effekte, also Dampf, Licht und Energie, erst hervorzubringen. Ihre Funktion muss daher, ebenso wie die des Gehirns, eine „produktive“ Funktion genannt werden. Die Wissenschaftler gehen nach James nun irrtümlicherweise davon aus, dass es sich mit dem Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein analog verhalten müsse, das heißt, dass es sich ebenfalls zwingend um ein Produktionsverhältnis handelt und dass das Bewusstsein damit vom Gehirn abhängig ist. James hingegen ist der Meinung, dass dieses Verständnis zu eng ist, und fügt zwei weitere Formen der Funktion hinzu: die sogenannte permissive und die transmissive Funktion. Offensichtlich bedeutet für ihn „permissiv“ einfach „durchlässig“ oder „zulassend“: „Der Abzug einer Armbrust hat eine zulassende Funktion: Er beseitigt das Hindernis, das die Sehne festhält, und lässt den Bogen in seine natürliche Lage zurückschnellen“ (S. 188). Hingegen zeigt der Begriff „transmissive“ oder „Übertragungsfunktion“ eine beim Durchgang vor sich gehende Transformation an: etwas wird beim Durchschreiten eines Mediums verändert, beispielsweise gefiltert, gebündelt oder gebrochen. In diesem Sinne versteht James das Gehirn als transmissives, das heißt als durchlässiges und zugleich transformierendes, das heißt umwandelndes Organ. Diese Möglichkeit übersieht die physiologische Psychologie.

James zieht unterschiedliche Metaphern und Beispiele heran, um den Begriff der transmissiven Funktion näher zu erläutern.20 So wird beispielsweise die Energie des Lichts durch ein geschliffenes Glasstück, ein Prisma oder eine Linse gefiltert und erhält dadurch eine spezielle Farbe und Form und kann auf ein bestimmtes Ziel hin gebündelt werden. In ähnlicher Weise formen Orgelpfeifen und menschliche Stimmorgane Töne aus dem Luftstrom.

Dabei ist es James in diesen Beispielen wichtig zu betonen, dass Licht und Luft keine Teile oder Produkte des Prismas oder der Orgel sind. Das Licht wird nicht von der Linse hervorgebracht und die Luft nicht von der Orgel. Vielmehr stammen sie von außerhalb und werden in diesen Medien nur gebündelt und transformiert, während sie sie durchwandern, und schließlich entweichen sie verwandelt wieder nach außen. Wie die Orgel und das Prisma im Beispiel nur Werkzeuge zur Bündelung des Lichts und zur Erzeugung von Tönen sind, so ist auch das Gehirn für James nur ein Instrument der Formung des Bewusstseins – aber das Bewusstsein wird von ihm nicht hervorgebracht.

Es ist nicht möglich, James’ Vorstellungen in das heutige Vokabular der Philosophie des Geistes zu übersetzen. Naheliegend ist, dass er eine bestimmte Form des Funktionalismus vertritt, jedoch eine, die eine spiritistische Deutung offenhält und daher nicht ohne weiteres in die heutige Terminologie überführbar ist. Mit Putnams Funktionalismus verbindet James’ Vorstellung die multiple Realisierbarkeit des Bewusstseins. Doch während im Funktionalismus à la Putnam das Bewusstsein gerade die „große Unbekannte“ ist, erhält es bei James ja gerade einen Gehalt und eine spirituelle Bedeutung und fällt damit aus dem funktionalistischen Paradigma wiederum heraus.21

Owen Flanagan rekonstruiert James’ Gedankengang in seinem Aufsatz Consciousness as a pragmatist views it affirmativ wie folgt:

„Wenn das Denken eine transmissive Funktion des Gehirns ist und das Gehirn damit eher ein, Durchleitungs-‘ als ein Produktionsorgan ist, dann ist die Idee kohärent, dass das Bewusstsein die folgenden vier Eigenschaften hat: Erstens gehört es einer anderen ontologischen Klasse an als das Gehirn, zweitens interagiert es während des Lebens einer Person mit deren Gehirn, drittens absorbiert und erhält das Bewusstsein die Identität, die Persönlichkeit und die Erinnerungen einer Person aufrecht, die sich aus dieser Interaktion ergeben, und viertens kann es unabhängig vom Gehirn weiterexistieren.“22

Flanagan fährt fort mit der Erläuterung, es sei selbstverständlich unklar, wie wahrscheinlich James’ Hypothese sei, und zugegebenermaßen habe sie den Beigeschmack des Altmodischen, aber letztlich könne auf der Basis der bislang bekannten Fakten über den menschlichen Geist in der Frage nach seiner Unsterblichkeit niemand etwas mit Gewissheit sagen.23 Er hält James’ Annahme der Möglichkeit eines unsterblichen Bewusstseins daher für korrekt.

Owen Flanagans Rekonstruktion ist sicherlich zutreffend. Andererseits bleibt in seiner Darstellung der dritten und vierten Bewusstseinseigenschaft eine Interpretationsoffenheit bestehen: Was bedeutet es, dass das Bewusstsein durch seine Interaktion mit dem Gehirn die Identität, die Persönlichkeit und die Erinnerungen einer Person absorbiert und aufrecht erhält, die sich aus der Interaktion zwischen Bewusstsein und Gehirn ergeben? Heißt dies, dass das Bewusstsein durch seine Wechselwirkung mit dem Gehirn individuell geformt wird und dass es auch notwendig in individueller Form nach dem Erlöschen der Gehirnaktivität weiterbestehen bleibt? Flanagan legt sich hierauf nicht fest, auch wenn seine Formulierung dies zu suggerieren scheint. Meines Erachtens besteht hier innerhalb von James’ Schrift und vor allem zwischen dieser und dem Vorwort zur zweiten Auflage eine gewisse Spannung. Im Vorwort betont James, dass er ein individuelles Weiterbestehen des persönlichen Bewusstseins für möglich und mit seiner Auffassung der menschlichen Unsterblichkeit für vereinbar hält, wenn er schreibt

„[…] dass der, Ur-Ozean‘, aus dem der endliche Geist vom Gehirn gleichsam abgeleitet wird, nicht unbedingt in pantheistischen Begriffen konzipiert werden muss. Hinter den Vorhängen können sich […] genauso gut viele Bewusstseine verbergen wie eines. Die schlichte Wahrheit ist, dass man sich die geistige Welt hinter dem Vorhang in einer so individualistischen Form vorstellen kann wie man will, ohne dass dadurch die allgemeine These, der gemäß das Gehirn als transmissives Organ verstanden wird, in irgendeiner Form eingeschränkt würde. Aus einer extrem individualistischen Sicht wäre das endliche Bewusstsein einer Person eine Art Auszug aus einer größeren, wahreren Persönlichkeit, die irgendwo hinter den Kulissen anzusiedeln ist.“ (S. 151)

Im Vorwort macht sich James also eindeutig für die Möglichkeit einer individualisierenden und gegen eine zu eindeutig pantheistische Interpretation stark. Auch einige der Metaphern innerhalb des Textes legen diese Lesart durchaus nahe (in den Orgelpfeifen werden individuelle Töne, im Glasprisma individuelle Lichtstrahlen geformt). Dagegen löscht das Bild eines „Urozeans“ oder „Muttermeers“ des Bewusstseins alle Anklänge an Individualisierung geradezu aus. Was verbirgt sich nun hinter dieser Metapher?

Das Muttermeer des Bewusstseins: Zwischen Individualismus und Panpsychismus

Ein anderes Bild, das James verwendet, ist das eines Schleiers mit unterschiedlich dicht gewebter Oberfläche, der an manchen Stellen stärker und an manchen schwächer von Licht durchflutet wird. Dieses Gewebe versinnbildlicht die Sphäre unseres alltäglichen Lebens, in der wir uns spiritueller Bedeutung nicht bewusst sind und die eine Quelle geistiger Energie („the life of souls at its fullest“) verdeckt. Das Gehirn eines Individuums kann mit einer besonders durchlässigen Stelle in diesem Schleier verglichen werden:

„Stellen wir uns jetzt vor, dass unsere Gehirne solche dünnen und halbtransparenten Stellen im Schleier sind. Was folgt daraus? So, wie das weiße Licht mit all den Arten von Verfärbungen und Verzerrungen durch die Kuppel dringt, die ihm durch das Glas widerfahren, oder wie die Luft jetzt durch meine Glottis strömt und dabei in der Kraft und Qualität ihrer Schwingungen durch die Besonderheiten derjenigen Stimmbänder determiniert wird, die ihre Austrittsöffnung bilden und die Form und Gestalt meiner persönlichen Stimme festlegen, so bricht auch das Leben der Seele, wie sie in der ganzen Fülle ihrer Möglichkeiten existiert, durch unsere verschiedenen Gehirne in allen möglichen besonderen Formen in diese Welt ein, behaftet mit allen Unvollkommenheiten und Schrägheiten, die unsere endlichen Persönlichkeiten hier unten charakterisieren.“ (S. 160)24

Woher stammt nun das allgemeine Bewusstsein, das durch das individuelle Gehirn durchströmt und durch es transformiert und individuell geformt wird, ohne jedoch von ihm produziert zu werden? Für James entspringt es einem überindividuellen Bewusstsein. Mit dem Bild eines solchen Überbewusstseins schließt er durchaus an pantheistische Interpretationen an, auch wenn er sich im Vorwort der zweiten Auflage gegen eine zu eindeutig pantheistische Lesart verwahrt hatte. In jedem Falle ist das Überbewusstsein im Diesseits unserer Alltagswelt individualisiert und manfestiert sich in den Einzelbewusstseinen der Menschen.25 Damit existiert es bereits in einer transzendenten Welt und muss vom Gehirn nicht mehr hervorgebracht werden. 26 Im weiteren Fortgang von Die Unsterblichkeit des Menschen macht er deutlich, dass er an die Existenz einer Art Jungianischen, kollektivistischen Allbewusstseins glaubt, an ein „Muttermeer des Bewußtseins“, mit dem unser individuelles Bewusstsein in Kontinuität steht. In seinen im Band Essays in Psychical Research zusammengefassten Aufsätzen spricht James auch von einem „allgemeinen Bewusstseinsreservoir“, einem „kosmischen Bewusstsein“ und einem „panpsychistischen Bild des Universums“27. „Wir müssen nur die prinzipielle Kontinuität unseres Bewusstseins mit dem Ur-Ozean unterstellen, um den außergewöhnlichen Wellen erlauben zu können, gelegentlich über den Damm zu schwappen.“ (S. 193) Erfahren wird diese Kontinuität nach James oftmals in religiösen Erlebnissen, in denen das Individuum sich mit einer göttlichen Macht verbunden fühlt, die Energie und Sinn spendet.28 Das Individuum wird damit quasi zur Eintrittspforte des Transzendenten in die menschliche Lebenswelt. Dieses Erleben der Verbundenheit mit einem größeren Selbst beschreibt James in seinem Buch Die Vielfalt religiöser Erfahrung, wobei er offen lässt, ob es sich dabei eher um etwas Göttliches handelt oder um eine Entität, die einem allgemeinen menschlichen Bewusstsein ähnelt.29

Wie John McDermott ausführt, geht diese Idee eines Einflusses einer höheren Macht auf das Individuum auf James’ Beschäftigung mit dem durch Swedenborg inspirierten Werk seines Vaters zurück. Der Swedenborgianismus prägt für solche Momente der Einsicht in eine höhere Realität und der Verbundenheit mit ihr den Begriff „influx“. Diese Ideen weisen ferner in die Richtung eines philosophischen Panpsychismus, wie James ihn in seinem Spätwerk A Pluralistic Universe in Anlehnung unter anderem an Fechner ausarbeiten wird.30 Es muss kaum eigens gesagt werden, wie erstaunlich James’ Anleihen an panpsychistische Spekulationen für diejenigen klingen müssen, die sich bislang ausschließlich mit James’ Pragmatismus oder seiner Psychologie auseinandergesetzt haben und ihn daher als regelrechten Anti-Metaphysiker wahrnehmen. Dagegen zeigt James in seiner Schrift Die Unsterblichkeit des Menschen einmal mehr, dass er es versteht, wissenschaftliche, metaphysische und religiöse Doktrinen miteinander zu verbinden, anstatt sie gegeneinander auszuspielen. Seine Philosophie, in deren Rahmen er beispielsweise auch die Erfahrungsmetaphysik des „Radikalen Empirismus“ entwickelt, schließt alle Bereiche der Erfahrung mit ein und sucht nach Erweiterung anstatt nach Abgrenzung.

Wichtig ist ferner, dass James hier alleine mit Möglichkeiten operiert. Er betont, dass er nichts weiter sagen könne, als dass ein so beschriebenes Verhältnis zwischen individuellem Gehirn und Bewusstsein möglich sei und dass die wissenschaftlichen Fakten diese Möglichkeit zumindest nicht ausschließen. Auch vom heutigen Standpunkt aus ist zuzugestehen, dass die Neurowissenschaften James’ These des Gehirns als einer Transformationsstätte eines größeren Bewusstseins nicht ausschließen können. Ob und wie genau das Gehirn Bewusstsein „produziert“, ist wissenschaftlich noch nicht im Detail erforscht – man denke nur an das Problem der „Supervenienz“ und an unser ungenaues Sprechen über die „Korrelation“ von mentalen mit Gehirnzuständen. Selbst die Hirnforschung ist mittlerweile davon abgekommen, Bewusstsein als etwas zu betrachten, was ausschließlich im isolierten Gehirn des Individuums vorhanden und an es gebunden ist. Zu den neuen Paradigmen der Wissenschaft gehören daher Thesen wie die des „Social Brain“, des „Extended Mind“ und der „Meme“. Und dass der menschliche Geist sich nicht aus sich selbst gebiert, sondern quasi aus der Interaktion mit der Außenwelt entsteht, kann man bereits bei George Herbert Mead lesen. So metaphysisch und spekulativ sich James’ Thesen über die transmissive Funktion des Gehirns und ein höheres Bewusstsein anhören mögen, so leicht lassen sie sich doch in eine Sprache übersetzen, die auch heute noch zu verstehen ist, wenn man sie auf aktuelle Theorien bezieht.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie sich James in seiner Schrift Die Unsterblichkeit des Menschen zu seinen Ursprüngen in den Principles of Psychology verhält: Eines der Merkmale des Bewusstseinsstroms war es dort gewesen, sich zu „personalisieren“, d. h. sich zu jemandes Bewusstsein zu formen. Im Gegensatz dazu ist Bewusstsein für James in Die Unsterblichkeit des Menschen ein überindividuelles geistiges Prinzip, ein „Urozean des Bewusstseins“ – auch wenn er im Vorwort eine individualisierende Interpretation verteidigt hatte.31 Die Existenz eines höheren, umfassenderen Selbst beschreibt die „eigentliche“ Realitätssphäre, während die Individualisierung des Bewusstseins letztlich daraus abgeleitet ist. Selbst in einer, wie er schreibt, „extrem individualistischen Sicht“ wäre „das endliche Bewusstsein einer Person eine Art Auszug aus einer größeren, wahreren Persönlichkeit“, die irgendwo hinter den Kulissen anzusiedeln ist (S. 151, Kursivierung der Verfasserin, FK). Das individuelle Bewusstsein ist im Bild des Urozeans lediglich verstehbar als ein marginaler Ausläufer eines größeren, umfassenden Bewusstseins. Aus diesem entspringt es, und in dieses kehrt es letztlich nach dem Erlöschen der Gehirnprozesse zurück.32

Der zweite Einwand: Die Schreckensvision des überbevölkerten Himmels

Der zweite Einwand, der laut James gemeinhin gegen die menschliche Unsterblichkeit erhoben wird, ist ein normativer. Dieser Einwand behauptet, anders als der erste, nicht, dass menschliche Unsterblichkeit unmöglich sei, sondern dass sie nicht wünschenswert sei. Die meisten Menschen empfinden nach James regelrecht Angst und Unbehagen angesichts der Idee eines übervölkerten Himmels, in dem wir vielleicht diejenigen wiedertreffen, die uns bereits zu Lebzeiten geplagt haben. Gegen dieses Ressentiment gegen die Unsterblichkeit aller appelliert James an ein allgemeines Gefühl der menschlichen Solidarität und die Hoffnung auf die unerschöpfliche Größe des göttlichen Geistes.33 Die Tatsache, dass wir uns vor einem Jenseits fürchten, in dem alles, auch der kleinste Grashalm, aufgehoben und bewahrt ist, ist für James einzig ein Zeichen unserer intellektuellen Kleinlichkeit und der Tatsache, dass wir nicht in göttlichen Größenordnungen denken können. In seinem egalitären, „demokratischen Universum“, das er in Swedenborgianischer Tradition auch in seiner Schrift A Pluralistic Universe darstellt, soll kein Einzelner von der Unsterblichkeit ausgeschlossen sein. In einer, wie McDermott schreibt, romantisch inspirierten, allinklusiven Geste deklamiert James schließlich, wenn es nach ihm gehe, sollten alle Individuen, selbst alle einzelnen Blätter aller Bäume, ihren Platz in der transzendenten Welt haben und in ihr für alle Zeiten aufgehoben sein.34 Gottes Geist beziehungsweise das größere Selbst ist unendlich, und das Universum muss dementsprechend unendlich groß sein – auch, wenn wir Sterbliche es nicht denken können. Religiös gesprochen, ist es bereits ein Wunder, dass der großzügige Gott unsere fehlerhafte Existenz hier auf Erden erträgt. Warum sollte er ein Weiterleben aller dann nicht auch noch in seine Unendlichkeit aufnehmen können?35 Festzuhalten ist, dass es sich bei dieser Überlegung um den Ausdruck eines Wunsches handelt. James kontert den evaluativen Einwand, es könne nicht sein, was nicht sein dürfe (ein überbevölkerter Himmel wäre abzulehnen), ebenfalls mit einer Berufung auf Werte, nicht auf Fakten. Einen Beweis für das Überleben aller Individuen kann James selbstverständlich nicht erbringen. Er beschränkt sich auf eine persönliche Wertaussage.

Die Konsequenzen: Die überindividuelle Unsterblichkeit

Tatsächlich vertritt James in Die Unsterblichkeit des Menschen die Auffassung, dass auch nach dem Tod der Person und damit dem Erlöschen der Gehirnaktivität noch ein Weiterleben des Bewusstseins möglich ist.

Wie bereits erwähnt, lässt der Text allerdings Deutungsmöglichkeiten hinsichtlich dessen offen, ob es tatsächlich ein individuelles Bewusstsein ist, das nach James nach dem Tode des Organismus weiterleben könnte, oder aber ob nicht doch eher ein Eingehen in einen allgemeinen Urozean des Bewusstseins erfolgt. Zum einen betont James vor allem im Vorwort zur zweiten Auflage, dass selbst persönliche Erinnerungen noch nach dem Tode in einer Art „Gedächtnis“ weitergespeichert werden könnten. Doch zum anderen macht er im Essay selbst deutlich, dass er, bei aller Abwehr einer zu deutlichen monistisch-pantheistischen Vereinnahmung, doch auch nicht einfach als ein Vertreter des christlichen persönlichen Unsterblichkeitsglaubens verstanden werden möchte. „Diese Überlegungen stehen Lehren der Präexistenz der Seele und der Wiedergeburt näher als der christlichen Unsterblichkeitslehre“ (S. 151). Nicht alle der im Zitat angespielten Religionen vertreten wiederum einen starken Individualismus. Zudem legen Parallelen zur Vielfalt religiöser Erfahrung nahe, dass es sich bei dem Bewusstseinsreservoir um eine göttliche Macht handeln könnte, die sicherlich überindividuell zu verstehen ist.

Wie deutlich James’ Individualismus in seiner Schrift Die menschliche Unsterblichkeit letztlich hervortritt, oder wie weit er nur dem Wunsch entspringt, seinen Kritikern nicht zu viel Angriffsfläche zu bieten, ist letztlich auf der Textgrundlage nicht eindeutig zu entscheiden.

Denkt man James’ Bild eines Urozeans des Bewusstseins weiter, so lassen sich auch in unserem Leben individuelle Bewusstseine als Teile davon wahrnehmen. Einige Autoren der Neurophilosophie wie beispielsweise Thomas Metzinger vertreten die These, dass es nicht erst nach dem Tod kein individuelles Bewusstsein mehr gibt, sondern dass Individualität und Selbstsein bereits zeit unseres Lebens nur eine vom Gehirn produzierte Fiktion sind. Das Selbst ist in dieser Sicht nichts als eine notwendige Illusion, die sich das Gehirn selber vorgaukelt.36

Folgt man hingegen, entgegen James’ Beteuerungen des Vorworts und eher der Bildersprache der Vorlesung selbst entsprechend, einer pantheistischen Lesart, kann der Gedanke eines Urozeans des Bewusstseins eine verstörende Wirkung haben. Ginge unser Geist nach dem Tode wirklich in ein solches Überbewusstsein ein, in dem sich individuelle Züge letztlich verwischen würden, verlören wir unwiederbringlich all das, was uns als Individuen ausmacht: unsere Persönlichkeit und unsere individuelle Lebensgeschichte. Wir würden keine individuellen Spuren im Universum hinterlassen; wären nur Gefäße, die dem Allbewusstsein für kurze Zeit, während unseres Lebens, eine individuelle Form gäben. Nach unserem Tod gäbe es nichts mehr, was von uns als Personen bliebe. Diese Idee steht dem christlichen Glauben an einen persönlichen Gott und der Auferstehung des Individuums radikal entgegen.

Unter einer anderen Perspektive aber würde selbst eine solch radikalpantheistische Lesart wiederum neue Denkmöglichkeiten eröffnen: Zum einen bedeutet der Eingang in ein Überbewusstsein nicht nur einen Verlust, sondern auch eine Entlastung. Nicht nur unsere persönlichen Leistungen und Triumphe werden weggewischt und zerrinnen, sondern auch unsere Mängel und Misserfolge und vor allem auch unsere moralischen Verfehlungen. Zum anderen sind menschliche Eigenschaften wie Intelligenz und Güte unter den Menschen ungleich verteilt. Wenn wir nun alle nach dem Tode in ein unterschiedsloses, überindividuelles Allbewusstsein eingehen, haben alle Anteil an diesen Wesenszügen, um die wir zeit unseres Lebens als Individuen oft so schmerzhaft ringen und wetteifern. Wäre es nicht schön, Intelligenz und Güte mit allen teilen zu können und paritätisch an den geistigen und moralischen Errungenschaften und Einsichten der wenigen teilzuhaben, von denen uns zu Lebzeiten das principium individuationis trennt? So könnte man selbst eine Idee nur überindividueller Unsterblichkeit letztlich als egalisierend und versöhnlich verstehen. In der Vorstellung eines pantheistischen Allbewusstseins würden wir die Verstorbenen nicht nur, wie der christliche Glaube es annimmt, wiedersehen, sondern hätten an ihrem Dasein sogar noch inniger Anteil als in diesem Leben, da wir ein Allbewusstsein mit ihnen teilen würden. So betrachtet, ist selbst die Idee einer überindividuellen Unsterblichkeit letztlich weniger verstörend als die kalte Vision eines Materialismus, in dem mit dem Hirntod alles Leben des Geistes unwiederbringlich vernichtet wird.

Und darin liegt denn auch die Pointe von James’ Reflexionen zur menschlichen Unsterblichkeit: Was James in letzter Konsequenz ablehnt, ist die physikalistische Vorstellung, dass ein materielles Prinzip letztlich über den Geist triumphiert. Ob das Ur-Bewusstsein nun eine eher individualisierte oder doch überindividuelle Form haben möge – was für ihn zählt ist: Die letzte Wirklichkeit besteht in einer immateriellen Größe, einem Bewusstsein anderer Art, das selbst dann noch fortdauert, wenn das materielle Leben erloschen ist.

Der Sinn des Lebens

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