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Nerven! Nerven!

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Hatte das Image als Muse berühmter Männer, an deren Überlieferung Lou Andreas-Salomé kräftig mitwirkte, sie mit der Aura sprühender Intellektualität und reizvoller Weiblichkeit umgeben, die kaum ein Kritiker zu stören wagte, so gerieten andere schreibende Frauen ins Kreuzfeuer der Kritik, deren Ziel „weniger (von der) Durchsetzung der Persönlichkeit als (von der) Erforschung der weiblichen Seele in ihrem besonderen Ausdruck“ geprägt sein sollte. Sie folgten zwar einem allgemeinen Trend in der Literatur, handelten sich damit aber gleich jenen Tadel ein, der von weniger aufgeschlossenen Kritikern als Hermann Bahr auf sie ausgeschüttet wurde: „Nervosität – um es zu wiederholen – ist das gemeinsame Kennzeichen dieser Werke.“46

Bereits die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte unter dem Zeichen bürgerlicher Selbstbeobachtung gestanden.47 Diese Bereitschaft zur Ich-Analyse und rasante Veränderungen in den tatsächlichen Lebensbedingungen gingen nun eine eigenartige Allianz ein, die sich in einem psychosomatischen Krankheitsbild zeigte: Neurasthenie. Als zeittypisches Leiden an sich und der Zeit war sie nicht nur Folge eines gesellschaftlichen Wandels, sondern auch ihr Motor, der in seiner Wechselwirkung von Leidenserfahrung und Zeitbewuβtsein die Epoche erheblich mitprägte.

Wie weitgehend die Neurasthenie den medizinischen und populären Diskurs zwischen 1880 und 1914 bestimmt, ja in der Verbindung von kulturellem Konstrukt und tatsächlicher Erfahrung das Fin de siècle zum Zeitalter der Nervosität werden läßt, belegt Radkau in einer eindrucksvollen Studie. Die „Nerven“ beschäftigten über drei Jahrzehnte nicht nur den einzelnen Menschen und veranlaßten ihn zu übertriebener Selbstbeobachtung, sondern sie machten ein Heer von Ärzten und Psychiatern mobil, die die Betroffenen kurieren und die Krankheit wissenschaftlich ergründen wollten. Nervosität wurde zum Signum der Zeit, beeinflußte Mentalität und Lebensstil großer Teile der Gesellschaft und wurde selbst zum Wirtschaftsfaktor – Badeorte expandierten, Kurkliniken und Sanatorien florierten. So ist es letztlich unerheblich, ob das Phänomen der Nervosität als modische Neurose oder ernstzunehmende Krankheit zu beurteilen ist, „entscheidend ist, daß sie ein kulturelles Phänomen ersten Ranges war, das auf einer breiten emotionalen Grundlage eine heftige Dynamik entwickelte und eine neue Welt- und Zeiterfahrung schuf, mit der sich einiges anstellen ließ“48.

Waren die „[k]ausalen Wirkungen des Zivilisationsmilieus“49 auf die Nerven auch unumstritten, so konnte man doch verwundert feststellen, wie die Nervosität bald ein Eigenleben entfaltete, das durchaus angenehme Seiten anbot. Ganz abgesehen von luxuriösen Klinikaufenthalten, die sich der reiche Neurastheniker, wie er sich ohne Beschämung im Gegensatz zum bloßen Nervenkranken nennen konnte, gönnen durfte, hob die um sich greifende Nervenschwäche eine ihrer Ursachen scheinbar wieder auf und schuf dort, wo Individualisierung Einsamkeit produzierte, ein Gefühl der Gemeinsamkeit.50 Da nahezu die gesamte Bevölkerung eine besondere Empfänglichkeit für die Schwingungen ihres Nervensystems besaß, entwickelte sich die Neurasthenie, vielmehr das Wissen über neurasthenische Zustände, zu einem allgemein verfügbaren medizinischen Wissensschatz. Mehr und mehr geriet zur Jahrhundertwende der Neurastheniebegriff der Wissenschaft in den Sog des populären Nervositätsbegriffs und führte schließlich im allgemeinen Sprachgebrauch zu einer freigebigen Handhabung des Wortes „nervös“: „Man konnte bei den ‘Nerven’ an das Gehirn oder die Genitalien denken: Der Begriff ließ beide Möglichkeiten dezent in der Schwebe.“51 Auch eine dritte Variante war durchaus denkbar: Man konnte Genitalien meinen und deren Gebrauch in taktvolle Bezeichnungen kleiden, wenn es galt, das Wort „Sexualität“, Schreck- und Lieblingswort des wilhelminischen Bürgertums, zu vermeiden. Manch liederlicher Lebensführung gelang es auf diese Weise, die Kosten der Nervenschwäche in Rechnung zu stellen.

Zweifellos war aber das Erscheinungsbild der Krankheit selbst ambivalent. Ursprünglich mit Symptomen wie Antriebslosigkeit und Schwäche in Verbindung gebracht, rangierte bald die Reizbarkeit, bzw. die reizbare Schwäche, zum charakteristischen Indiz. Einigkeit herrschte in einem Punkt: Neurasthenie war nicht in erster Linie ein medizinisches, sondern ein Kulturproblem, „im Kern“ hervorgerufen durch „Technik und Tempo, Akkord und Lärm“52 des nervösen Zeitalters.53 Gerade aber die kulturelle Tragweite der Neurasthenie führte vor allem außerhalb der Medizin dazu, ihre potentielle Bedeutung nicht in der Krankengeschichte der Gesellschaft, sondern in einer notwendigen Überlebenstaktik des menschlichen Organismus festzulegen. Vorwiegend als Anpassungsleistung an großstädtisches Leben definiert, wurde das gestreßte Nervenleben aus dem pathologischen Diskurs entlassen und als Steigerung der Empfindungsmöglichkeiten des Menschen entdeckt. Das war nun in der Tat eine neue Richtung, die das Zeitalter der Nervosität von seinem geschwächten Modus als Degenerationsprozeß54 in eine Epochenqualität mit Fortschrittsglauben und „innovatorische[r] Potenz“ transferieren konnte.55

Besonders angetan von dieser Auslegung nervöser Unruhezustände zeigten sich die Angehörigen der literarischen Zunft. „Bedenken Sie“, schrieb Goncourt an seinen Freund Zola, „daß unser Werk – und das ist vielleicht seine Originalität, seine teuer bezahlte Originalität – auf der nervösen Krankheit beruht.“56 Ausgestattet mit einem hochsensiblen Nervengerüst und entfremdet von der als bedrohlich empfundenen Gesellschaft, sah der sich selbst beobachtende Künstler nur eine adäquate Position: als Außenseiter. In einem offenen Brief bekannte der junge Thomas Mann der berühmten älteren Kollegin Gabriele Reuter:

Mag er (der Künstler) auch seine Leiden, die seine schöne und empfindliche Seele in dieser Welt zu erdulden hat, in noch so beweglicher Anklage schildern: einmal, sofern er die schmerzliche Tugend der Ehrlichkeit besitzt, einmal im Jahre wird er zu sich selber sagen: „Wir Poeten und Artisten sind bei Tage besehen eine ziemlich zweifelhafte Sippe. Wir würden uns schon mit fünfzehn Jahren auch auf der reformiertesten Schule schlecht benehmen, wir würden auch in einer bis zum Ideal verbesserten Welt immer voll Opposition, Protest, Ironie stecken, immer fremd, anders, ‘besser’, bürgerlich untauglich sein und uns im Kampf mit dem Seelenvoll-Bestehenden befinden. Diejenigen, welche die menschliche Gesellschaft nicht durch die Ergötzlichkeit ihres Talentes für ihrer totale Unbrauchbarkeit zu entschädigen vermögen, täten gut, möglichst rasch zugrunde zu gehen, anstatt durch allerlei ausschweifende Forderungen den Bürger in verständnisloses Staunen zu versetzen! … Und wenn er seinen Typus vollkommen darstellt, wird er obendrein eine Schwäche für sein Gegenteil haben, eine kleine perverse Liebhaberei für das Leben, die ihn zum ernsthaften Weltverbesserer vollends untauglich macht.“57

Gabriele Reuter, die nach der überraschenden Hommage Thomas Manns in ihren sensiblen Frauengeschöpfen die Künstlerin per se zu entdecken glaubte, entwickelte im Laufe ihres Schaffens einen weiblichen Typus des kunstschaffenden Menschen, in dessen Natur Feinnervigkeit, Schönheitssinn und Leidensfähigkeit gleichermaßen vertreten waren. Ohne sich mit dem Nimbus des Nervenkünstlers zu schmücken, ließen sich auch andere Schriftstellerinnen zur Nervenkunst inspirieren. Auf diese Weise entstanden Frauenfiguren, die im Trend der Zeit vor allem eines spürten: ihre Nerven. Ohne den Sitz des quälenden Übels genauer beschreiben zu können, beobachteten Hedwig Dohms Sibilla Dalmar, Franziska zu Reventlows Ellen Olestjerne, Gabriele Reuters Ellen von der Weiden und Lou Andreas-Salomés Ruth sich in ihrer hypersensiblen psychischen Labilität und zeichneten ein schönes Bild der „Zeitkrankheit“. Buchstäblich diagnostizierten sie die Ursache aber als Ausdruck einer „kranken“ Zeit, die der Frau jegliche Entfaltung zur Persönlichkeit absprach. Entsprechend ließ im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen kaum eine Schriftstellerin Zweifel an den möglichen Heilmitteln. So wie sie übereinstimmend den Grund des Leidens eindeutig im herrschenden Diskurs von Weiblichkeit sahen, so einig waren sie sich im empfohlenen Rezept: Selbständigkeit und Selbstbewußtsein – Leib und Seele betreffend.

Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle

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