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Die Schwestern der Anna O.
ОглавлениеHiervon war allerdings die Neurasthenie anfänglich ausgenommen. Das ist zunächst verwunderlich, läßt sich aber mit der geschlechtsspezifischen Zuweisung der Modekrankheit erklären. Denn offensichtlich gab es der Rede vom (nerven)schwachen Geschlecht zum Trotz keinen Unterschied zwischen nervösen Männlein und Weiblein. Der Historiker Joachim Radkau führt gute Gründe ins Feld: Erstens wurde das Schrifttum zur Nervosität von Ärzten erstellt, die sich selbst der erste Patient waren; da ist es folgerichtig, die männliche Neurasthenie besonders berücksichtigt zu finden. Zweitens beruhte der kulturelle Nervendiskurs darauf, Ähnlichkeiten in den Streßreaktionen beider Geschlechter aufzudecken;102 wie anders hätte es auch gehen sollen, die vielen männlichen Neurastheniker nicht in den Ruf von Memmen zu bringen.103
Frauenfeindliches ließ sich verständlicherweise am ehesten in der neuen beruflichen Perspektive von Frauen plazieren, weil hier Ursache und Wirkung weiblicher Neurasthenie grundsätzlich im Dienste der Anklage gegen jegliche weibliche Arbeit außerhalb des Hauses verwendet werden konnten, eine Möglichkeit indessen, auf die nur wenige Ärzte und Psychiater zurückgriffen104 und die sich deshalb auch kaum im literarischen Diskurs wiederfand. Ganz anders verhält es sich aber mit einer anderen Gedankenverbindung, die um die Jahrhundertwende Leitmotiv unzähliger Neurasthenikergeschichten wurde: die von vielen Zeitgenossen empfundene brisante Kombination von Neurasthenie und Sexualität. Ob die ungesunde Handhabung der Onanie besprochen, „widernatürliche“ Verhütungsmethoden diskutiert oder ob die gesundheitsschädigende Wirkung der Askese verhandelt wurden, die Frage nach normaler und abnormer Sexualität geriet in atemberaubender Geschwindigkeit zum etablierten Gesprächsstoff nervöser Patienten und interessierter Ärzte.
Ganz ähnlich – und hier gleitet der Nervositätsdiskurs sukzessive in die (mit Blick auf die Damen geführte) Hysteriedebatte – verhielt es sich mit dem Begründungszusammenhang zwischen mangelnder sexueller Befriedigung und Hysterie. Obwohl keine medizinische Abhandlung diesen seit der Antike tradierten Konnex bestätigen konnte, hielt sich die „Uterus-Hypothese“105 hartnäckig, wobei die zu befürchtenden Schäden seit Mitte des Jahrhunderts nicht mehr dem organischen Bereich, sondern der Psyche zugeordnet wurden. Dieser sich im wissenschaftlichen Kontext etablierende „pathogene psychische Spannungszustand“ sexuellen Unbefriedigtseins enthielt allerdings ein subversives Potential: In dem Maße, in dem das Leiden auftrat, mußte etwas in den Beziehungen der Geschlechter im argen liegen. Denn der Diskurs über Hysterie war ein Diskurs von Männern über weibliche Sexualität und die sollte dem herrschenden Frauenbild zufolge domestiziert sein.
In der zeitgenössischen Literatur aus männlicher Hand konvergierte die Darstellung der hysterischen Frau mit dem gängigen Diskurs. Beispielsweise adelt bei Fontane das Leiden der schönen Cécile ihre leblose Erscheinung und suggeriert ihre sexuelle Frustration in der Ehe mit St. Arnaud.106 Hysterie wird hier zur Metapher besonderer Weiblichkeit und signalisiert vor allem Verführungsbereitschaft.
Eine derartige Interpretation konnten die Damen nicht gelten lassen. Hatten die Schriftstellerinnen des Fin de siècle bereits eine eigene Interpretation nervöser Frauen geliefert, so forderte der männliche Diskurs über Hysterie ihren ganzen Widerspruch heraus. Vor allem das Schicksal mancher Romanfigur von Dohm, Kautsky und Reuter sollte denen das Wort reden, die in den hysterischen Symptomen den Widerstand gegen die Geschlechterrolle entdeckten und den Zusammenhang von Krankheit und weiblicher Lebensführung fernab geistiger und körperlicher Bedürfnisbefriedigung herstellten. Und auch in Maria Janitscheks Erzählung Hysterie lieferten Elemente des sexualwissenschaftlichen Diskurses die strukturbildende Vorgabe. Doch wie immer, so Sigrid Schmid- Bortenschlager und Theresia Klugsberger, war Janitscheks Position unentschieden: „Die Frauen mit den ausgeprägten individuellen Krankheitsbildern gewinnen ihr Ziel, die gesellschaftlich Emanzipierten scheitern größtenteils an ihrem Anspruch“ (S. 193).
Rückendeckung in der weniger populären Interpretation der Hysterie bekamen die Schriftstellerinnen von deutschen Psychologen und Medizinern. Bereits 1887 veröffentlichte der Münchner Arzt Leopold Löwenfeld eine Schrift zur Neurasthenie und Hysterie, in der er die Ursachen der grassierenden Krankheit – im Gegensatz zur französischen Psychiatrie – in den „socialen und Culturverhältnissen“107 der Zeit erkannte. In einer weiteren Schrift monierte er 1894, daß gerade die Erziehung der jungen Mädchen, die sie zu Heiratsobjekten degradiere, der Neurasthenie und Hysterie den Boden bereite108. Was im Kern bereits Löwenfeld festgestellt hatte, präzisierte 1895 Josef Breuer in den mit Freud herausgegebenen Studien zur Hysterie, indem er die Hysterie als Folge der Festschreibung weiblicher Sexualität als einer ausschließlich den männlichen Bedürfnissen angepaßte beschrieb:
Es ist zu wundern, daß die Brautnacht nicht häufiger pathogen wirkt, da sie doch leider so oft nicht erotische Verführung, sondern Notzucht zum Inhalte hat. Aber freilich sind ja auch die Hysterien junger Frauen nicht selten, welche darauf zurückzuführen sind … Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, die große Mehrzahl der schweren Neurosen bei Frauen entstammen dem Ehebette.109
Neu war hier nicht der hergestellte Zusammenhang hysterischer Phänomene mit weiblicher Sexualität, sondern die Beschreibung ihrer ursächlichen Herkunft aus dem Unbewußten.110 Entgegen der landläufigen Meinung, Hysterikerinnen seien willensschwach, beeinflußbar und geistig minderbemittelt, sahen Freud und Breuer die Gefahren einer überladenen Phantasie gerade bei jenen bürgerlichen Frauen lauern, deren psychische Energie nicht in geistige Arbeit kanalisiert werden könne. Latent schien hier bereits der Zusammenhang von unterdrückter Sexualität, Kreativität und Sprache der Frau in den Diskurs über Hysterie aufgenommen und kündigte sich ebenfalls bereits die zukünftige Interpretation der Krankheit als Rebellion gegen die Geschlechterrolle an: Hysterie als Sprache der Verstummten, ihre Körpersprache als Medium des Widerstandes.111 Auf diese Weise wurde die Hysterie zu einem Geheimnis; zu einem Geheimnis freilich, das niemand lüften wollte, weil es in vehementer Form die Richtigkeit tradierter Geschlechterrollen in Frage stellte.
Mindestens ebenso wie Nietzsche gehört Sigmund Freud (und auch Josef Breuer) zu den prägenden Persönlichkeiten der Jahrhundertwende. Nicht nur die Entdeckung des Unbewußten als energiegeladenem selbständigem Bereich der menschlichen Psyche schuf willkommene Erklärungszusammenhänge für das Verständnis der eigenen Person und fiktiver Figuren. Auch umgekehrt waren für Freud die Dichtungen „Fundgruben, aus denen er sein Material bezog“112. Neidlos gestand er 1907113:
Wertvolle Bundesgenossen sind aber die Dichter, und ihr Zeugnis ist hoch anzuschlagen, denn sie pflegen eine Menge Dinge zwischen Himmel und Erde zu wissen, von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träumen läßt. In der Seelenkunde sind sie uns Alltagsmenschen weit voraus, weil sie da aus Quellen schöpfen, welche wir noch nicht für die Wissenschaft erschlossen haben.114
Allerdings standen viele männliche Dichter Freud durchaus ambivalent gegenüber und mochten das, was sie an persönlichen Erfahrungen von ihm lernen konnten, für ihr kreatives Schaffen nicht unumwunden übernehmen. Auch der hochgelobte Schnitzler empfand – wie im übrigen auch Hesse – Freuds Thesen zu theoretisch und schematisch und stellte einige seiner Grundannahmen vehement in Frage. So kritisierte er vor allem die Ableitung „normaler“ psychischer Determinanten aus der Beobachtung psychopathologischer Prozesse.
Interessanterweise war dieses Vorgehen Freuds gerade das, was die feministisch orientierten Schriftstellerinnen für ihre Argumentation reklamierten. Freuds individualpsychologische Befunde, die er aufgrund sozialpsychologischer Annahmen erstellt hatte, ließen scheinbar typisch (d.h. der Natur zuzuordnende) weibliche Krankheitsbilder auf ihre kulturellen – und eben nicht biologischen – Ursachen zurückführen. Während Freud selbst noch unsicher den „dark continent“ erforschte, sahen viele zeitgenössische Schriftstellerinnen in seinen Befunden eigene Beobachtungen bestätigt: Mußte nicht die natürliche Sehnsucht des weiblichen Menschen nach Sexualität aufgrund der kulturellen Vorstellung von „der Frau“ ins Unterbewußte verdrängt werden, um eines Tages in Form von Neurosen und Hysterie wieder ans Tageslicht zu kommen? Waren nicht Bildung und Beruf die besten Möglichkeiten, einer Frau das Tor zur Zufriedenheit zu öffnen und das drohende Gespenst der seelischen und geistigen Verkümmerung zu verscheuchen?
Bereits Leopold von Sacher-Masochs Roman Venus im Pelz hatte hier angesetzt. Er propagierte, daß die sexuelle Bedürfnisbefriedigung, ein Gebot der Natur und ehemals in Übereinstimmung mit ihr ausgelebt, in der Monogamie nicht zu finden und ohnehin aufgrund der kulturellen Disposition von schlechtem Gewissen begleitet sei. Die Konsequenz sei Liebesenttäuschung und deren Folge Hysterie. Eine Beseitigung der modernen sexuellen Pathologie sei nur durch die Wiederherstellung der Natürlichkeit auf höherer Ebene zu denken und die sei eine Ebenbürtigkeit von Frau und Mann in Bildung und Arbeit.115 Was der Roman forderte, stand 1869 zweifellos noch außerhalb des gesellschaftlich Denkbaren – ein Zustand, der sich dank engagierter Schriftstellerinnen bereits zwanzig Jahre später vehement geändert haben sollte. Durch Nietzsche ermutigt, sahen sie sich aufgerufen, die freie Persönlichkeitsentfaltung der Frau zu fordern.