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Lebenssprache – Sprachkunst

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Kaum aber eine der Schriftstellerinnen hatte Veranlassung, weitere Schritte in der Kunst der Ichauflösung mitzutun. Zwar sahen sie durchaus das Problem einer Substanzlosigkeit des Ich, verankerten die Aussichtslosigkeit, es zu konturieren, aber ausschließlich in herrschenden Strukturen. Ganz anders manche ihrer männlichen Kollegen. Sie führten den Ichverlust auf ein grundsätzliches Unvermögen des Menschen zurück: Noch während die Naturalisten die Darstellung ungeschminkter Wirklichkeit gefordert hatten, waren Stimmen laut geworden, die eine auch nur annähernde Erfassung der Wirklichkeit überhaupt anzweifelten. Genährt wurden diese durch die Philosophie Ernst Machs. Scheinbar empirischen Fakten hielt er seine Beiträge zur Analyse der Empfindungen entgegen. Erfahrungen seien Sinneserfahrungen, lehrte er, und die seien subjektiv. Rundweg leugnete er die ordnende Funktion des Geistes bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken und verneinte konsequent die Existenz einer konstanten Wirklichkeit. Statt dessen sei sie das Ergebnis fortlaufender wechselhafter Empfindungen und Sinneseindrücke, die für die Wahrnehmung der äußeren Welt und für das Ich gleichermaßen bestimmend seien:

Somit setzen sich die Wahrnehmungen sowie die Vorstellungen, der Wille, die Gefühle, kurz die ganze innere und äußere Welt, aus einer geringen Zahl von gleichartigen Elementen in bald flüchtigerer, bald festerer Verbindung zusammen. Man nennt diese Elemente gewöhnlich Empfindungen … Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen). Die Elemente bilden das Ich.58

Konsequent weitergedacht, bedeutete das die Dissoziation des Ich, die in dem spektakulären Satz Machs mündete: „Das Ich ist unrettbar.“ Die Theorie Machs fiel auf fruchtbaren Boden, erschien doch das „Ich“ des modernen Menschen, der sich im klassischen Sinne noch als selbstbestimmende Persönlichkeit verstanden hatte, zur Reaktion und Funktion verdammt und von Auflösung und Zerfall bedroht. Auch für Hermann Bahr führten die Überlegungen Machs zu einer gradlinigen Fortsetzung seiner eigenen Gedanken:

Hier habe ich ausgesprochen gefunden, was mich die ganzen drei Jahre her quält: ‘Das Ich ist unrettbar.’ Es ist nur ein Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf, den wir praktisch brauchen, um unsere Vorstellungen zu ordnen.59

Die aus diesen Gedanken folgenden Implikationen einer neuen impressionistischen Kunst60 Hermann Bahrs kamen jenen „spätgeborenen“ Künstlern entgegen, die ein grundsätzliches Unbehagen an der herrschenden Kultur quälte und für die der Naturalismus in seiner lauten Gesellschaftskritik nie eine Alternative geboten hatte. Nur zwei Dinge habe die Generation der Väter hinterlassen, klagte Hofmannsthal in einem Essay dem italienischen Décadent Gabriele D’Annunzio, „hübsche Möbel und überfeine Nerven“61. Und jene Nerven rief nun Bahr auf, Mittler einer neuen Ästhetik zu sein. Im französischen Symbolismus sah er die Lösung, die neue Kunst auch technisch umzusetzen – und fand ein wunderbares Beispiel, das auch zu verdeutlichen:

Einem Vater stirbt sein Kind. Dieser wilde Schmerz, die ratlose Verzweiflung sei das Thema. Der rhetorische Dichter wird jammern und klagen und stöhnen: „Ach, wie elend und verlassen und ohne Trost bin ich! Nichts kann meinem Leide gleichen. Die Welt ist dunkel und verhüllt für mich“ – kurz, einen genauen und deutlichen Bericht seiner Tatsachen. Der realistische Dichter wird einfach erzählen: „Es war ein kalter Morgen, mit Frost und Nebel. Den Pfarrer fror. Wir gingen hinter dem kleinen Sarg, die schluchzende Mutter und ich“ – kurz, einen genauen und deutlichen Bericht aller äußeren Tatsachen. Aber der symbolische Dichter wird von einer kleinen Tanne erzählen, wie sie gerade und stolz im Walde wuchs, die großen Bäume freuten sich, weil niemals ein junger Gipfel sich verwegener nach dem Himmel gestreckt: „Da kam ein hagerer, wilder Mann und hatte ein kaltes Beil und schnitt die kleine Tanne fort, weil es Weihnachten war“ – er wird ganz andere und entferne Tatsachen berichten, aber welche fähig sind, das gleiche Gefühl, die nämliche Stimmung, den gleichen Zustand, wie in dem Vater der Tod des Kindes zu wecken. Das ist der Unterschied, das ist das Neue.62

Bereits 1894 hatte Bahr ein Loblied auf die Décadence gesungen, deren erstes Merkmal er in der „Romantik der Nerven“ vertreten sah: „Diese neuen Nerven sind feinfühlig, weithörig und vielfältig und teilen sich untereinander alle Schwingungen mit. Die Töne werden gesehen, Farben singen und Stimmen riechen.“63 Neben der Hingabe an das Nervöse definierte Bahr das Künstliche, in welchem alle Spur der Natur getilgt sein sollte, als Zeichen der dekadenten Kunst, und als drittes eine „fieberische“ Suche nach dem Mystischen.64 Dieser neue Mystizismus, der das Leben und die Urkräfte des Lebens verherrlichte, äußerte sich zunächst in der Suche nach der verlorengegangenen existentiellen Einheit. Ausdruck fand er in der um 1900 grassierenden Sehnsucht nach „Entgrenzung“:

Dichtung ist kein Spiegelbild des Lebens, sondern das Gegenteil, der Versuch nämlich, über die Grenzen der Wirklichkeit hinwegzuspringen zu einer visionären, eigengesetzlich strukturierten Welt, in der das nicht einmal als möglich Vorstellbare als wirklich gegeben ist.65

Dieser Definition entsprach auch Lou Andreas-Salomés Vorstellung von Entgrenzung, die ihr in zwei Aspekten möglich schien: in der Kreativität des Künstlers und in der Intensität leidenschaftlich Liebender. Beide Momente sah sie in außerordentlich glücklicher Synthese in der Person Rainer Maria Rilkes zusammengeführt – auch im Hinblick auf den eigenen Status als Mentorin des Künstlers, den sie wiederum, so zeigt uns Elke Clauss, nach Rilkes Tod in einem Autorenbuch festschrieb.

Um aufzuzeigen, wie sich gegen den herrschenden Positivismus um 1900 ein neuer Mystizismus in der Literatur entwickelte, sind auch die Ergebnisse Sigrid Schmid-Bortenschlagers und Theresia Klugsbergers, die sie in der Analyse der Werke von Maria Janitschek ermitteln, in hohem Maße aufschlußreich. „Die Texte Janitscheks“, so die Beiträgerinnen, „stellen Variationen einiger weniger grundlegender Verfahren einer Subjektwerdung dar, die den Bruch und die Negativität nicht ausschließt und oftmals ihre mystische Erfüllung im Tod oder in der unio mystica mit Gott findet“ (S. 193). Der Prozeß des Lebens offenbart sich nach Schmid-Bortenschlager und Klugsberger bei Janitschek als (lebenslange) Suche des Individuums, einer Suche, die erst dann wirklich beginnt, wenn das Ziel unbestimmt, unbenennbar wird. Erst in dieser Suche – und ihrer narrativen Präsentation – realisiert sich das Subjekt. Das Ende der Suche bedeutet dann nicht nur das Ende des Textes, sondern eben auch das des Subjekts.

In den Werken anderer Schriftstellerinnen fand die Suche nach mystischer Einheit ihren Ausdruck vor allem im emphatisch gesprochenen Wort „Leben“66. In diesem Lebensbegriff, wie Rasch formuliert, Grundwort und Grundwert der Epoche, trafen sich Wirklichkeit und Werte, „metaphysische wie psychologische, sittliche, wie künstlerische“67. Als Rezipientin Schopenhauers nahm Ricarda Huch68 die Symbolik des Meeres zum Ausgangspunkt ihres 1893 erschienenen Romans Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren: „Das Leben ist ein grundloses und ein uferloses Meer; ja, es hat wohl auch ein Ufer und geschützte Häfen, aber lebend gelangt man dahin nicht. Leben ist nur auf dem bewegten Meere, und wo das Meer aufhört, hört auch das Leben auf.“69 Und auch Franziska zu Reventlow gelang es in ihrem 1902 erschienenen Roman Ellen Olestjerne, die Geschichte ihrer freudlosen Jugendjahre mit einer Vision der Zukunft zu verknüpfen, die diesen zentralen Begriff der Epoche aufnahm. Legitimiert wird das Lebenspathos bei Reventlow im direkten Bezug auf Nietzsche – ohne daß sich Reventlow freilich von seiner „Leidenschaft der Erkenntnis“ stören ließ.70 Für sie verband sich mit dem Lebensbegriff vor allem eine pathetisch formulierte Lebensaufgabe in der Mutterschaft und – immer wieder im Symbol des ekstatischen Tanzes versinnbildlicht – die Idee des Rausches.

Bald waren die Grenzen erreicht, der Sehnsucht nach Entgrenzung sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Zweifler erhielten in der Theorie Fritz Mauthners Unterstützung, der nicht an eine Vermittlung dieser Welt durch die Sprache glaubte, sondern behauptete, Sprache sei nur ein soziales Phänomen, eine willkürliche Regel, um die Kommunikation des Menschen zu organisieren.71 Unmöglich sei es, den Begriffsinhalt der Worte auf Dauer festzuhalten: „Darum ist Welterkenntnis durch Sprache unmöglich.“72 Wohl aber ließe sich „Stimmungsgehalt“ durch Sprache wiedergeben: „Darum ist Kunst durch Sprache möglich, die Wortkunst, die Poesie.“73 So ungebrochen positiv sahen viele Schriftsteller die Verbindung von Kunst und Sprache keineswegs. Bereits 1899 hatte Rilke seine Zweifel, die im übrigen von den Expressionisten wieder aufgegriffen und weitergeführt wurden, ins Wort gesetzt:

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.

Sie sprechen alles so deutlich aus:

Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,

und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,

sie wissen alles, was wird und war;

kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;

ihr Garten und Gut grenzt gerade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren bleibt fern.

Die Dinge singen hör ich so gern.

Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.

Ihr bringt mir alle die Dinge um.74

Hatte noch 1884 Hofmannsthal im Weltgeheimnis den Ästhetizismus als Gegengewicht zum drohenden Ich-Zerfall heraufgeschworen, so formulierte er 1902 im berühmt gewordenen (fiktiven) Brief des Phillip Lord Chandos an seinen Freund Francis Bacon nun seine Absage an die Sprachmagie. In das Zentrum seiner Sprachkritik setzte er die seiner Meinung nach sinnentleerten Abstrakta wie „Geist“, „Seele“ und „Körper“. Mit dieser Erkenntnis geht ein Sprachverlust einher, der die grundsätzliche Abbildung der Wirklichkeit in Frage stellt bzw. als sinnloses Unterfangen bewertet:

Mein Geist zwang mich, alle Dinge … in einer unheimlichen Nähe zu sehen … Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.75

Entweder erschaffe die Sprache also eine Einheit, die nicht existiere, oder sie könne die zerfallene Wirklichkeit nicht mehr „mit einem Begriff umspannen“, d.h. zu einer neuen Einheit zusammenfügen. Das sei nun um so problematischer für die Kunst, als es ihr nicht – wie im Sinne Mauthners – um den Bezug der Wörter zueinander, sondern um eine Darstellung des Inneren gehe. Sprachkritik führte hier zur Verzweiflung über die Grenzen der Kunst, da „das Tiefste, das Persönliche“ ausgeschlossen bleiben müsse und zu einem „Gefühl furchtbarer Einsamkeit“ führe.76

Ganz andere Akzente setzte Ricarda Huch. So konzipierte sie in ihrer Kritik an Maeterlincks Schatz der Armen einen poetologischen Ansatz, der sich gegen die weitverbreitete Meinung richtete, „das Kennzeichen des wahren Dichters sei, wenig zu denken, immer in einem traumhaften Zustande umherzuwandeln und aus diesem heraus dunkle, ahnungsvolle Dinge zu stammeln“77. Während Maeterlinck die allgemeine sprachkritische Bewußtseinslage artikulierte, spürte Huch die Sprachskepsis in ihren geschichtlichen Ursprüngen der Romantik auf. Zwar erkannte sie an, daß im „Wunderbaren“, „Unbewußten“ und in der „Mystik“ der „Urquell des Lebens und der Kunst“ zu suchen sei, verwies die Aufgabe des Dichters jedoch gerade darauf, dieses Dunkle aufzuhellen.78 Als poetologisches Postulat, das, gegen die Mystik gerichtet, zur Jahrhundertwende eine ganz eigene Leistung darstellt, formulierte sie: „Dichten ist ja … verdichten, das Bewußtmachen des Unbewußten, das Gestaltmachen des Ungreifbaren, Zerflatternden, das Aussprechen des Unsäglichen.“79 Bereits die Romantiker, so zeigte Huch in ihrer zweibändigen Romantikstudie, hatten die Sprache „als drückende Fessel“ empfunden,80 aber auch weiterentwickelt und in eine Perspektive des Fortschreitens überführt: „In Zeiten, wo große Massen von Unbewußtem sich ablösen und das Bewußtsein zu erfüllen beginnen, muß die Sprache mitwachsen.“ Für ihr Zeitalter hob Huch die absolute Sprachskepsis auf und forderte statt dessen eine Sprache der Zukunft: „Wenn nun das Ideal der Zukunft Einswerden von Instinkt und Geist, Trieb und Absicht ist, so muß die Sprache der Zukunft Prosa-Poesie, das heißt eine poetische Prosa oder prosaische Poesie sein.“81

Während Huch als Literaturhistorikerin und -theoretikerin einen unumstrittenen Platz in der Literaturgeschichtsschreibung erwarb, blieb ihr umfangreiches Prosawerk lange Zeit nahezu unerschlossen. Ein eigenwilliges Dichtungsverständnis zeigte sich hierfür verantwortlich. Denn „trotz ihres Plädoyers für die psychologische Innensicht und impressionistische Stimmungsschilderungen“, so Ortrud Gutjahr in diesem Buch, „hat sich Huch mit ihrem Schreiben nicht nur dezidiert vom Naturalismus abgesetzt, sondern sie hat auch die Entwicklung der sogenannten Gegenströmungen kritisch betrachtet und sich insbesondere gegen die sogenannte Nervenkunst verwahrt“ (S. 252). Weisen ihre frühen Romane und Gedichte wesentliche Merkmale des neuromantischen Stils auf, so Ortrud Gutjahr, so verknüpfte Huch in ihrem weiteren Schaffen Denkmodelle und Stilformen der Romantik mit Grundannahmen des Historismus zu einer neuen poetologischen Position, die Gutjahr den „‘romantischen Historismus’“ nennen möchte.

Mit ihren sprachtheoretischen Überlegungen zur Kunst blieb Ricarda Huch in den Reihen schreibender Frauen eine singuläre Erscheinung, was heißen soll: Zur Sprache hatten die meisten ihrer Kolleginnen ein weitgehend unkompliziertes Verhältnis und nutzen sie zur Entfaltung der ihnen am Herzen liegenden Themen ungeniert so, wie sie sie vorfanden.

Auch jener strenge Ästhetizismus82 wurde offenbar für keine Frau zu einer Alternative künstlerischen Schaffens. Vielleicht darum gingen die Schriftstellerinnen eben diesen Weg nicht mit: Nur oberflächlich scheint der um 1900 herrschende Kunstenthusiasmus der Verherrlichung des Lebens zu widersprechen. „Das Interesse gilt dem ‘Leben’ – aber zugleich damit der Kunst, die allein, wenn auch mit letztlich unzulänglichen Mitteln, das Leben einfangen kann … So führte, scheinbar paradox, die Suche nach dem Leben zur Intensivierung der Kunstmittel.“83 Von hier ging ein direkter Weg in die Welt des Ästheten, für den die Kunst noch eines bedeuten konnte: Surrogat des Lebens.84 Und so fand sich zur Persönlichkeit Georges zum Beispiel, mit dem sich neben der Vorstellung eines persönlichen Kultes die eines auserlesenen Kunstbegriffs verknüpft, der, „alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend“, Dichtung frei von allen Bezügen zur Wirklichkeit als L’art pour l’art propagierte, zur Jahrhundertwende kein weibliches Pendant. Die meisten der Schriftstellerinnen, die die Literatur ihrer Zeit mitprägten, taten es als Frauen für Frauen. Entscheidend blieb ein sozialpsychologisch geschulter weiblicher Blick, der als Deutungsmuster von Wirklichkeit nicht nur die Themenwahl bestimmte, sondern auch struktur- und formbildend für eine Literatur aus weiblicher Hand wirkte. Entsprechend widmeten sich die Schriftstellerinnen den spezifisch weiblichen Fragestellungen der Jahrhundertwende: Sexualität, Ehe, Mutterschaft, Bildung und Beruf. Sämtlich wurde diese frauenspezifische Ausrichtung der Literatur allerdings von einem entscheidenden Diskurs der Zeit überlagert: War „Weiblichkeit“ eine naturgegebene Eigenschaft der Frau oder eine kulturelle Konstruktion?

Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle

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