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Feministische Erkenntnistheorien
ОглавлениеFeministische Erkenntnistheorien fragen nach Möglichkeiten wissenschaftlichen Wissens, zur Transformation von Geschlechterhierarchien, Geschlechterstereotypen und Geschlechternormen beizutragen. Es werden Methoden erforscht, diese in wissenschaftlichen Theorien ebenso wie in gesellschaftlichen Institutionen sichtbar zu machen und zu überwinden. Die unterschiedlichen einzelnen Ansätze verbindet eine grundsätzliche Skepsis gegenüber einer in der Annahme einer a priori postulierten Erkenntnis, die scheinbar losgelöst von einer (sozialen) Erfahrungswelt ihre Rechtfertigung allein auf logisches Schließen gründet. Demgegenüber untersuchen feministische Erkenntnistheorien die Subjekt- und Objektposition im Erkenntnisprozess und verorten diesen in sozialer Realität. Sie erörtern die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis in Zusammenhang mit herrschaftskritischen und emanzipatorischen Erkenntnisinteressen. Sie suchen nach einer epistemologischen Fundierung feministischer Wissenschaften.
Historischer Abriss. Feministische Erkenntnistheorien entstanden im Zuge der internationalen Frauenbewegung der 1970er Jahre. Im deutschen Sprachraum entwickelten sie sich zunächst an den Rändern der akademischen Philosophie. Sie bauten einerseits auf dem ideologiekritischen Impetus einer interdisziplinären feministischen Wissenschaftskritik auf. Diese bezog sich nicht nur auf den Ausschluss von Frauen aus der institutionellen Verfasstheit der Wissenschaften, sondern deckte androzentrische Elemente in vorgeblich objektiven wissenschaftlichen Theorien auf. Dies betraf die Gesellschafts- und Kulturwissenschaften ebenso wie die Natur- und Technikwissenschaften (Hausen/Nowotny 1986; Krüll 1990). Andererseits knüpften feministische Erkenntnistheorien an die feministische Vernunftkritik innerhalb der Philosophie an. Hier richtete sich die Kritik gegen androzentrische Rationalitätskonzeptionen in der Philosophiegeschichte (Bendkowsky/Weisshaupt 1983). Dabei bewegte sich die Debatte von der Gegenüberstellung einer „weiblichen“ und einer „männlichen“ Vernunft hin zu einer Diskussion der Nutzbarmachung aufklärerischer, insbesondere Kant’scher Vernunftbegriffe für Gegenentwürfe in Hinsicht eines Denkens für eine Gesellschaft ohne Diskriminierung von Frauen (Konnertz 1988; Nagl-Docekal 1990). Die in der aristotelischen und Frege’schen Logik enthaltene Abkehr von der (komplexeren) Alltagssprache wurde als Verschweigen ontologischer (androzentrischer) Vorannahmen analysiert und einer faszinationshistorischen Deutung entlang zugeschriebener binärer Geschlechternormen zugeführt (Trettin 1991). Neuere Ansätze bauen auf den im angelsächsischen Sprachraum entwickelten feministischen Epistemologien auf, welche Postulate einer an den Naturwissenschaften orientierten analytischen Epistemologie mit Methoden der marxistischen Philosophie konfrontieren (Ernst 1999; Nagl-Docekal 2000). Hier kommt der Verortung von Erkenntnisproduktion und Wissensansprüchen im soziokulturellen Sinn (Singer 2005) sowie im historischen Sinn (List 2007) eine besondere Bedeutung zu. In der Kritik an der symbolischen Ordnung eines psychoanalytisch begründeten „Phallogozentrismus“ entstanden in Frankreich und Italien eine weitere Spielart der feministischen Vernunftkritik sowie Gegenentwürfe unter dem Stichwort eines „weiblichen Denkens“ (Irigaray 1980; Liberia delle donne di Milano 1987).
Im angelsächsischen Sprachraum, und besonders in den USA, entstand ausgehend von einigen Schlüsselpublikationen (Harding/Hintikka 1983; Alcoff/Potter 1993) schnell ein dichterer Diskurs feministischer erkenntnistheoretischer Positionen. Auch wenn die Problemstellungen, theoretischen Perspektiven und Positionen stark variierten, stand der institutionelle Bezugsrahmen einer feministischen Epistemologie – im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen Entwicklungen – nicht zur Debatte. Anders ausgedrückt: Der angelsächsische Diskurs um feministische Erkenntnistheorien errang bis heute weitaus größere materiell abgesicherte Positionen in der akademischen Philosophie als in Kontinentaleuropa – und konnte entsprechend florieren. Im Folgenden werde ich mich hauptsächlich darauf beziehen.
Bedeutung feministischer Erkenntnistheorien innerhalb der Erkenntnistheorie und für die Philosophie, die Wissenschaften und die Gesellschaft. Feministische Erkenntnistheorien verfolgen ein ideologiekritisches Erkenntnisinteresse und leisten somit einen wichtigen Beitrag zur kritischen Reflexion und Weiterentwicklung anderer erkenntnistheoretischer Ansätze. Feministische Erkenntnistheorien loten das Verhältnis von epistemischer Argumentation zu politischer und moralischer Argumentation in wissenschaftlichen Theorien aus und verbinden so wesentliche philosophische Teilgebiete. Feministische Erkenntnistheorien entwickeln und erproben sich im interdisziplinären Diskurs der Gender Studies an aktuellen wissenschaftlichen Themen aus verschiedensten Disziplinen, erörtern ihre epistemologischen Implikationen in einem wissenschaftshistorischen Zusammenhang und ermöglichen so eine tief greifende Reflexion und Begründung der Wissenschaften. Indem feministische Erkenntnistheorien die Erarbeitung und Etablierung wissenschaftlichen Wissens in umfassenden sozialen Prozessen untersuchen, leisten sie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Rolle der Wissenschaften in der Gesellschaft. Mit ihrem Fokus auf die Geschlechterverhältnisse tragen sie zur Bearbeitung und Lösung bedeutender gesellschaftlicher Probleme bei.
Analytische Präzisierung der Frage. Die Entdeckung des Skandalons, dass unter der Vorgabe objektiver Wahrheit in den Wissenschaften über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg Geschlechterhierarchien, Geschlechterstereotypen und Geschlechternormen begründet wurden, stellt den Ansatzpunkt feministischer Erkenntnistheorien dar. Daraus ergibt sich eine Vielzahl von Fragen, auf welche in verschiedenen Arbeiten unterschiedliche Thesen und Resultate erarbeitet wurden: So analysiert E. F. Keller diese Elemente zunächst als subjektive Vorbehalte einzelner männlicher Autoren und postuliert einen Zusammenhang von deren psycho-sozialer Haltung gegenüber Frauen – sowie der rechtlichen Situation von Frauen in der jeweiligen Epoche – und ihren Thesen bezüglich Erkenntnis als Transzendenz von – weiblich symbolisierter – Materie bei Platon oder Herrschaft über die – weiblich symbolisierte – Natur bei Bacon (Keller 1986). S. Bordo hinterfragt in vergleichbarer Weise den Descartes’schen Rationalismus, wonach der Körper („res extensa“ das eigentliche Hindernis menschlicher Erkenntnis darstellt und der Geist („res cogitans“) nur in der Überwindung des Körpers völlige intellektuelle Unabhängigkeit und Objektivität erlangen kann (Bordo 1987). Bordo zufolge handelt es sich hier um eine maskuline Theorie des Wissens, da der Körper wie die Materie insgesamt weiblich metaphorisiert wurden. Inwiefern diese androzentrischen Aspekte für die jeweiligen Theorien konstitutiv sind, wird bis heute lebhaft diskutiert.
Der Frage nach einem epistemologischen Zusammenhang zwischen Abwertungen von Weiblichkeit in der Philosophie und der Ausgrenzung von Frauen aus der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion einer Epoche ging Chr. Kulke nach und stellte die These auf, dass in einer durch formalisierte Vernunft geprägten patriarchalen Herrschaftsordnung Frauen die besonderen Opfer der Verdinglichung sind (Kulke 1988). Die Frage nach der epistemologischen Relevanz des Geschlechts des Erkenntnissubjekts macht L. Code zum Ausgangspunkt ihrer These, wonach Menschen keineswegs in gleicher Weise als Wissende anerkannt werden (Code 1991). Als „geteilte Wahrheit“ macht sich M. Singer in Ablehnung einer Korrespondenztheorie der Wahrheit und in kritischer Erweiterung einer Kohärenztheorie für eine konsenstheoretische Bestimmung von Wahrheit stark. Demnach müssen Epistemologien neben einer methodischen Begründung von Wissensansprüchen Strategien einer global orientierten Gerechtigkeit im politischethischen Sinne sein (Singer 2005). Die verbindende These der verschiedenen Ansätze lautet, dass feministische Erkenntnistheorien argumentative Mittel zur Verfügung stellen müssen, um Erkenntnisinteressen emanzipatorischer sozialer und politischer Bewegungen in wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen Geltung zu verschaffen. In diesem Zusammenhang steht die Frage nach der Bedeutung der These der „sozialen Konstruktion“ von Wissen. Die Begriffsfelder Erfahrung, Objektivität und Konstruktion bezeichnen dabei die zentralen Kristallisationspunkte der Auseinandersetzungen feministischer Erkenntnistheorien. An diesen entzündete sich eine kontroverse Debatte, die zu verschiedenen Vorschlägen für Neukonzeptionen dieser Begriffsfelder geführt hat.
Ansätze im Überblick. Der gemäßigte Relativismus („mitigated relativism“) L. Codes zeichnet sich durch eine fundierte Kritik am positivistischen Wissenschaftsverständnis aus. Code zufolge ist wissenschaftliches Wissen weder wertfrei noch objektiv noch anonym, sondern immer auch mit politischen und moralischen Fragen verbunden (Code 1991, S. 320–323). Dabei erhält das Geschlecht des Erkenntnissubjekts aufgrund seiner gesellschaftlichen Positionierung Gewicht. Sie wendet sich gegen eine epistemologische Dichotomie zwischen Subjektivität und Objektivität und zeigt auf, inwiefern Erfahrungen der am epistemischen Produktionsprozess Beteiligten, unabhängig davon, ob sie im wissenschaftlichen oder alltäglichen Zusammenhang gemacht werden, für die Entstehung wissenschaftlicher Erkenntnis unmittelbar relevant sind. Demnach wird erst durch einen Dialog mit anderen, der es ermöglicht, verschiedene Perspektiven zu einem erkannten Faktum in Betracht zu ziehen, allgemeineres Wissen entwickelt. Wie dieser Dialog genau aussehen kann, erläutert Code jedoch nicht (Ernst 1999, S. 91–93).
E. F. Keller entwickelte in ihrer umfassenden Untersuchung der psycho-sozialen Haltung des Erkenntnissubjekts gegenüber dem Erkenntnisobjekt von Plato bis zur modernen Biogenetik einen Begriff von dynamischer Objektivität. Diese besteht in einer möglichst herrschaftsfreien, offenen und authentischen Hinwendung der Forschenden zu ihrem Gegenstand. Als Beispiel nennt sie die Forschungen der Nobelpreisträgerin B. McClintock zur genetischen Transposition (Keller 1986). Keller zufolge sollte Wissenschaft weniger die Zähmung der Natur anstreben, sondern die „Zähmung der Hegemonie“ (Keller 1986, S. 191).
Der kontextuelle Empirismus H. Longinos orientiert sich explizit an naturwissenschaftlichen empirischen Erkenntnisprozessen, die sie als kollektive Prozesse derer, die an der Wissenschaft beteiligt sind, betrachtet. Hier wird Objektivität erst durch transformative Kritik der persönlichen Idiosynkrasien und impliziten Annahmen, die die Argumentation unterstützen, durch das wissenschaftliche Kollegium hergestellt. Damit erhält die Dimension der Rechtfertigung wissenschaftlicher Aussagen („context of justification“) eine entscheidende Aufwertung gegenüber dem Entdeckungszusammenhang („context of discovery“). Da Longino davon ausgeht, dass die sozio-politische Situierung der am Forschungsprozess Beteiligten mit den eingebrachten Vorannahmen in engem Zusammenhang steht, plädiert sie für ein möglichst heterogen zusammengesetztes Kollegium (Longino 1990). Feministische Ergebnisse kommen dadurch zustande, dass eine Person Wissenschaft als Feminist/-in betreibt („doing science as a feminist“) (Longino 1990, S. 188). L. H. Nelson spricht sich für eine Neubegründung des feministischen Empirismus auf der Basis eines Naturalismus in der Kognitionstheorie aus (Nelson 1990). Nelson argumentiert dagegen, Individuen überhaupt als Träger von Wissen anzunehmen. Die epistemische Subjektposition sei vielmehr grundsätzlich als Kollektiv zu betrachten, da Evidenz immer in epistemischen Gemeinschaften („scientific communities“) hergestellt werde. Dies wirft jedoch Schwierigkeiten auf, epistemische Gemeinschaften heterogen zu verstehen sowie die Veränderung von wissenschaftlicher Evidenz epistemologisch zu fassen (Trettin 1995).
Die feministische Standpunktepistemologie argumentierte zunächst, dass die gesellschaftlich organisierte geschlechtliche Arbeitsteilung dazu führt, dass Frauen als unterdrückte Gruppe sich einen feministischen Erkenntnisstandpunkt erarbeiten können. Dieser baut nicht nur auf ihren Einsichten in ihre Unterdrückungserfahrungen auf, sondern auch auf der von ihnen ausgeübten reproduktiven, sich auf menschliche Grundbedürfnisse beziehenden Arbeit des Gebarens, Erhaltens, Pflegens und Erziehens („care“), da sie davon ausgehend eine weniger verfälschende Einsicht in die soziale Wirklichkeit erlangen können als Männer, die sich diesen Tätigkeiten prinzipiell verweigern (Hartsock 1984; 1998). Das so produzierte „bessere“ Wissen wird also gerade mit der umfassenderen Einsicht in die materiellen Bedingungen des Lebens gerechtfertigt. Damit knüpfte die feministische Standpunktepistemologie an der marxschen These an, wonach die Arbeiter als gesellschaftliche Gruppe durch die Erarbeitung von Klassenbewusstsein einen gegenüber den Kapitalisten privilegierten Erkenntnisstandpunkt erlangen können. Dieser Ansatz wird bis heute vielfach diskutiert und weiterentwickelt (Hekman 1997; Ernst 2003).
Wesentlich ist die Kritik P. H. Collins’ zu nennen, die einerseits die Verallgemeinerung von Erfahrungen von Frauen im Rahmen der weißen, bürgerlichen, geschlechtlichen Arbeitsteilung kritisierte und andererseits Unterdrückung als Ausgangspunkt für emanzipatorische Erkenntnis. Sie schlug die Orientierung an einem afrozentrischen feministischen Erkenntnisstandpunkt vor, der Erfahrungen des Empowerments von Frauen miteinander in der afro-amerikanischen Community zur Grundlage hat (Collins 1990).
S. Harding entwickelte die feministische Standpunktepistemologie wesentlich in zwei Punkten weiter: Nicht die Unterdrückungserfahrungen selbst stellen unmittelbar wissenschaftliche Aussagen dar, vielmehr soll das Leben von Frauen oder anderer Unterdrückter der gedankliche Ausgangspunkt („thinking from women’s lives“) von wissenschaftlicher Forschung sein (Harding 1991). Harding entwickelt als Alternative zum „schwachen“ positivistischen Objektivitätsbegriff ein Ideal von starker Objektivität („strong objectivity“). Diese wird durch das systematische und kritische Erforschen und Aufzeigen des gesellschaftlichen Entstehungskontextes sowie des Forschungsinteresses, in dem wissenschaftliches Arbeiten steht, erst hergestellt. Wissenschaftliche Erkenntnis – in den Naturwissenschaften genauso wie in den Sozialwissenschaften – ist demnach grundsätzlich nicht frei von soziopolitischen Einflüssen, es gehört vielmehr zum Wesen aller wissenschaftlicher Fakten, kulturell bedingt zu sein. Harding verknüpft mit der starken Objektivität eine Forderung nach starker Reflexivität, d.h., alle am Forschungsprozess Beteiligten sollen einer kritischen Reflexion unterzogen werden, indem die Objekte von Forschung auf die Subjekte im Erkenntnisprozess „zurückblicken“ und eventuell widersprechende Deutungen von Daten und Theorien wissenschaftlicher Definitionsmacht entgegensetzen. Mit diesem Modell von Reflexivität bringt Harding ein Element der Reziprozität in den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess, der in entscheidender Weise über die von Longino geforderten Aushandlungsprozesse im Forschungskollegium hinausgeht. Mittels der Beteiligung von „Outsidern“ des Kollegiums zur Erforschung der soziokulturellen Situiertheit der Erkenntnissubjekte ist es erstens möglich und zweitens objektivitätsstiftend, wissenschaftliche Theorien auf soziale und politische Standpunkte zurückzuführen. Problematisiert werden kann hier allerdings, dass eine starke Reflexivität nur bei menschlichen Forschungsobjekten angewandt werden kann. So steht dieser normative Aspekt der Erkenntnistheorie S. Hardings in einem gewissen Spannungsverhältnis zu ihrem realistischen Erkenntnisanspruch (Ernst 1999, S. 131–137).
D. Haraway entwickelt ausgehend von ihren umfassenden Untersuchungen über die Relevanz der Kategorie Geschlecht in historischen und zeitgenössischen Entwicklungen der Primatologie und der Molekularbiologie eine Theorie situierten Wissens. Danach ist erstens Wissen grundsätzlich zu historisieren und für Veränderung offen, zweitens sind eigene Zuschreibungspraxen von Bedeutungen kritisch zu untersuchen und drittens gilt es, sich um glaubwürdige Auffassungen von Wirklichkeit zu bemühen (Haraway 1991). Damit geht Haraway über Th. Kuhns Vorstellung umfassender Paradigmenwechsel in wissenschaftlichen Theorien bzw. Weltbildern weit hinaus. Wissenschaftliche Wahrheit sowie die Gültigkeit von Theorien werden zu temporären Aushandlungsprozessen. Das heißt, Wissen wird nicht einfach, wie im JTB-Modell des Wissens (↗ Wissenstheorien nach Gettier) in einer von sozialen und historischen Zusammenhängen abstrahierten Weise, als gerechtfertigte, wahre Überzeugung verstanden, sondern immer in herrschaftskritischer Weise hinterfragt: „Wer profitiert davon?“ Gegen den Relativismus als epistemologischer Perspektive des Konstruktivismus in der Wissenschaftsforschung plädiert Haraway für einen engagierten epistemologischen Partikularismus, der globale feministische Netzwerke von politischer Solidarität und epistemologische Diskussionszusammenhänge erfordert. Sie entwickelt einen Begriff der verkörperten Objektivität („embodied objectivity“), wobei sie Körper als materiell-semiotische generative Knoten versteht, deren Grenzen durch soziale Interaktion materialisiert und (geschlechtlich) gedeutet werden. Indem Haraway einerseits die Realitätswirksamkeit wissenschaftlicher Konstrukte aufzeigt und andererseits die soziale Situiertheit wissenschaftlicher Erkenntnis, kann Haraways Ansatz auch als Spielart eines feministischen Konstruktivismus bezeichnet werden (Ernst 1999, S. 190–202; Campbell 2004).
Feministischer Konstruktivismus versteht weder die Subjekt- noch die Objektposition von Erkenntnis noch den Erkenntnisprozess selbst als etwas Isoliertes oder Statisches, sondern reflektiert seine multilaterale Verwobenheit mit Veränderungsprozessen, denen er immerwährend unterliegt (Ernst 1999). Der Erkenntnisprozess ist in dieser Hinsicht ein changierender, unabgeschlossener sozialer und epistemischer Erfahrungsprozess, an dem immer auch Personen beteiligt sind. Darin können Komponenten Bedeutung gewinnen, die zuerst nicht beachtet wurden bzw. erst im Laufe des Prozesses entstanden sind. Es werden nicht Entitäten (sozial) konstruiert – das ist ein weit verbreitetes Missverständnis (Hacking 1999) –, sondern epistemische Verhältnisse, die allerdings immer auch politische und moralische Verhältnisse definieren. Statt objektiver Beschreibungen der Welt stehen in einem konstruktivistischen Ansatz feministischer Erkenntnistheorie die Artikulation und Rezeption von Wirklichkeitskonstruktionen zur Debatte, die aufgrund der gesellschaftlichen Autorität der Wissenschaften und anderer sozialer Prozesse Effektivität erlangen. Die Produktion feministischen Wissens, d.h. eines Wissens, das nicht die Abwertung von Personen aufgrund des Geschlechts begründet, sondern zur Herstellung von Chancengleichheit und Gleichberechtigung aller Geschlechter beiträgt, ist in diesem Ansatz also nur im Zusammenhang mit persönlichen und gesellschaftlichen (Bewusstseins-)Prozessen erfolgreich, die schließlich zur Umsetzung führen (Ernst 1999, S. 245, 257–259).
Die Epistemologies of Ignorance stellen eine aktuelle Auseinandersetzung mit Fragen des Nichtwissens, Unwissens oder Nicht-mehr-Wissens dar (Sullivan/Tuana 2007). Sie gehen davon aus, dass Wissen über natürliche Fakten und historische Zusammenhänge nicht nur nach besten Kräften akkumuliert und verbessert wird, sondern bereits bestehendes Wissen in komplexen epistemisch-politischen Prozessen aus dem Bereich des verfügbaren Wissens entfernt und sogar gezielt unterdrückt werden kann, wenn es dem Interesse der jeweilig Herrschenden dient. Diese komplexen Praktiken des Erzeugens und Erhaltens von Nichtwissen oder Unwissen gilt es in den Epistemologien der Ignoranz aufzudecken und herauszuarbeiten. So zeigt N. Tuana (2004), wie das Wissen über die Bedeutung der Klitoris für die Lust von Frauen, die 1559 von Renaldus Columbus „entdeckt“ worden war, über Jahrhunderte hinweg aus dem (akademischen) biologischen Wissen über menschliche Körper ausgeklammert wurde, als die These über den Zusammenhang von weiblichem Orgasmus und Befruchtung fallen gelassen worden war. Sie knüpft damit einerseits methodisch an die Arbeit Ch. Mills’ (1997) an, der aufzeigte, wie das Privileg der Weißen in den USA gerade aufgrund des konsequenten Unwissens über ihre eigene Geschichte der Versklavung anderer aufrechterhalten werden kann; d.h., es wird in Kauf genommen, die Welt nicht oder zumindest nicht vollständig zu erfassen. Andererseits knüpft dieser Ansatz an die vielzitierte frühe erkenntnistheoretische Arbeit M. Fryes über „Wirklichkeitspolitiken“ (politics of realities) an, in der sie den epistemischen Ausschluss jener Personen aus der patriarchalen Ordnung erörterte, die aufgrund ihrer lesbischen Orientierung dem Vorstellungs-, Verwendungs- und damit Betrachtungshorizont des Patriarchen entgingen (Frye 1983). Die Epistemologien der Ignoranz sind ein gutes Beispiel für eine Entwicklung feministischer Erkenntnistheorien, in denen die Kritik an patriarchalem Herrschaftswissen mit der Kritik an anderen epistemischen Privilegien bzw. Ausschlüssen verknüpft und so zu einer umfassenden Methodologie herrschaftskritischer Wissensproduktion verdichtet wird.
Eine weitere, rasch an Einfluss gewinnende, aktuelle Richtung feministischer Erkenntnistheorie ist der Agential Realism K. Barads. In Auseinandersetzung mit theoretischen Einsichten der Quantenphysik von N. Bohr und der Theorie der Performativität von Geschlecht von J. Butler (↗ Postmoderne Erkenntnistheorie) versteht sich der Agential Realism als Alternative zum Repräsentionalismus I. Hackings, insofern die Vorstellung einer Abbildbarkeit der Wirklichkeit stark hinterfragt wird, und macht sich stattdessen für ein Verständnis wissenschaftlichen Wissens stark, das erstens die Veränderung der Welt durch die Produktion von Wissen (über die Veränderung des gemessenen Gegenstands durch die Messung hinaus) ins Zentrum der Betrachtung rückt, zweitens die scharfe Grenze zwischen Subjekt und Objekt des Wissens in Frage stellt und drittens den erkenntnistheoretischen Anthropozentrismus im Anschluss an Descartes zu überwinden sucht. Als weiteres Element rückt die ethische Verantwortung wissenschaftlicher Forschung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, insofern die industrielle und militärische Verwertung wissenschaftlichen Wissens nicht als Ausnahme betrachtet wird, sondern als Regel bzw. epistemische und materielle Motivation. Wem nützt welche Erkenntnis und wer bezahlt dafür in welchem Sinne, wird hier im Anschluss an D. Haraway zur bedeutsamen Forschungsfrage, die feministische Erkenntnistheorie zu stellen hat und in Zusammenarbeit mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zu Naturund Technikforschung immer aktuell beantworten muss. Das Geschlecht steht hierbei im Fokus der Untersuchung, jedoch nicht als isolierte Kategorie oder in einem essentialistischen Sinne einer heteronormativen binären Geschlechterordnung. Vielmehr wird die Herstellung der Geschlechterkategorie als binäre selbst in Frage gestellt und einerseits mit der vielfältigen Wandelbarkeit geschlechtlicher Existenz in einer artenreichen Natur begründet und andererseits mit der (medizin-)technologischen Veränderbarkeit geschlechtlicher Körper. Hierbei steht das Verhältnis von Materie bzw. Materialität und diskursivem Raum bzw. sozialer Umwelt erneut zur Diskussion, denn Barad wendet sich ebenso gegen einen (Sozial-)Konstruktivismus, der davon ausgeht, dass sich kulturelle Vorstellungen in eine passive Materie einschreiben, wie gegen den Repräsentionalismus, der behauptet, diese abbilden zu können. Materie, Natur, epistemische, technologische bzw. kulturelle wie individuelle Praktiken werden als aufs Engste miteinander verwoben („intra-active entanglements“) betrachtet – in einem Prozess des ständigen Werdens und Sichveränderns von Wirklichkeit. Daraus ergibt sich ein dynamischer Begriff von Wirklichkeit, der mit der Idee einer fortschreitenden Erkenntnis einer statischen Natur klassischer erkenntnistheoretischer Positionen nur noch wenig gemeinsam hat.
Dieser Ansatz reiht sich ein in eine aktuelle, breitere Strömung eines material feminism (Alaimo/Hekman 2008), der sich weder marxistisch noch empiristisch versteht, sondern die Materialität menschlicher Körperlichkeit und nichtmenschlicher Natur, aufbauend auf den Erkenntnissen des feministischen Konstruktivismus, als aktives Moment der Erkenntnisproduktion denkt und sowohl die androzentrische Fixierung der Zweigeschlechtlichkeit als auch die anthropozentrische Fixierung eines aus seiner Umgebung isolierbaren menschlichen Erkenntnissubjekts zu überwinden sucht.
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W.E.