Читать книгу Lexikon der Erkenntnistheorie - Группа авторов - Страница 43

2 Reliabilismus (Verlässlichkeitstheorien)

Оглавление

Angesichts der geschilderten Schwierigkeiten von reinen Kausaltheorien haben die Vertreter des E. ihren Ansatz weiter modifiziert. Goldman versucht, das durch das Scheunenbeispiel aufgeworfene Problem durch die Einführung eines Diskriminationsprinzips in den Griff zu kriegen. Dieses Prinzip besagt, dass eine Person nur dann weiß, dass ein bestimmter Sachverhalt besteht, wenn sie in der Lage ist, diesen Sachverhalt von anderen relevanten möglichen Sachverhalten, die ihre Meinung falsch machen würden, zu unterscheiden. Seine neue Einsicht drückt Goldman gerne im konjunktivischen Modus, durch kontrafaktische oder irreale Konditionale aus: Wenn S geglaubt hätte, dass p, auch wenn p falsch gewesen wäre, dann hätte S nicht gewusst, dass p. Und dieses konjunktivische und insbesondere kontrafaktische Element rückte ins Zentrum einer neuen Form des E.: des R. oder der Verlässlichkeitstheorie.

Verlässlichkeitstheorien oder, wie sie manchmal auch genannt werden, Zuverlässigkeitstheorien stimmen mit reinen Kausaltheorien darin überein, dass nicht die Rechtfertigung, sondern die Genese einer Meinung für deren epistemischen Status entscheidend ist. Aber sie orientieren sich nicht länger einseitig an den tatsächlichen kausalen Mechanismen, die die Meinungen mit den Tatsachen verbinden, sondern bereichern ihre Analyse durch die Dimension des Kontrafaktischen. Die Anhänger von Verlässlichkeitstheorien machen typischerweise geltend, dass eine Überzeugung genau dann als Wissen gilt, wenn sie sowohl wahr als auch empirisch verlässlich ist, d.h. genau dann, wenn die Überzeugung durch einen Prozess oder einen Mechanismus hervorgerufen wurde oder aufrechterhalten wird, der es objektiv wahrscheinlich macht, dass sie wahr ist. Der Begriff der Verlässlichkeit wird sonach mithilfe des Begriffs der Wahrscheinlichkeit expliziert, der natürlich selbst erläutert werden muss.

Es ist üblich, Theorien verlässlicher Indikatoren von Theorien verlässlicher Prozesse zu unterscheiden. Theorien des ersten Typs zufolge gilt eine Überzeugung genau dann als Wissen, wenn sie ein verlässlicher Indikator oder ein verlässliches Anzeichen ihrer Wahrheit ist. Armstrong, ein Vertreter dieser Theorie, zog in der oben genannten Studie im Zuge der Entwicklung seiner Theorie nichterschlossenen Wissens eine berühmt-berüchtigte Analogie zwischen einem Thermometer, das verlässlich die umgebende Temperatur anzeigt, und einer Überzeugung, die verlässlich ihre Wahrheit anzeigt. Die Relation des verlässlichen Anzeigens wird durch eine nomologische Verbindung zwischen der Überzeugung einer Person und dem Sachverhalt, der sie wahr macht, erklärt. Eine Überzeugung ist ein verlässlicher Indikator und gilt somit als Wissen, wenn das Haben der Überzeugung nomologisch hinreichend für die Wahrheit der Überzeugung ist. Es sollte jedoch erwähnt werden, dass in der einschlägigen Literatur die Prozesstheorien im Großen und Ganzen einflussreicher geworden sind als die Indikatortheorien.

Gegenüber einfachen Kausaltheorien zeichnet sich der R. im Allgemeinen durch seinen weitaus größeren Anwendungsbereich aus. Er erfasst nicht nur nichterschlossenes, direkt aus der Wahrnehmung resultierendes Wissen, sondern auch allgemeines und theoretisches Wissen, ja sogar nichtempirisches mathematisches Wissen. In allen diesen Fällen können die entsprechenden Überzeugungen nämlich das Produkt eines verlässlichen psychischen Prozesses oder der Anwendung einer verlässlichen Methode sein.

Ein wesentliches Merkmal des R. ist, dass er an Wissen nicht die Anforderung stellt, dass die betreffende Person irgendeine Art des kognitiven Zugangs zu der Tatsache hat, dass die Prozesse, die ihre Überzeugungen hervorrufen, verlässlich sind. Worauf es lediglich ankommt, ist, dass diese Prozesse tatsächlich verlässlich sind, ganz gleich, ob die betreffende Person, oder irgendeine andere Person, zu diesem Zeitpunkt, oder zu irgendeinem anderen Zeitpunkt, eine Meinung über die Tatsache der Verlässlichkeit hat oder nicht. Der epistemische Status einer Überzeugung hängt dem R. zufolge maßgeblich von externen Faktoren ab, Faktoren in der Umgebung, der Geschichte oder dem sozialen Kontext der betreffenden Person, zu denen sie überhaupt keinen kognitiven Zugang zu haben braucht.

Vor diesem Hintergrund warnen Verfechter des R. und mithin des E. vor einer Verwechslung von Stufen, der Verwechslung zwischen Wissen, dass p – Wissen erster Stufe –, und Wissen, dass man weiß, dass p – Wissen zweiter Stufe. Sie beharren darauf, dass unreflektiertes Wissen erster Stufe eben nicht verlangt, dass die betreffende Person irgendetwas über ihre eigene Verlässlichkeit weiß. Gewiss, wenn die Person kein Wissen oder keine Meinungen über die Verlässlichkeit ihrer kognitiven Mechanismen hat, dann fehlt ihr etwas. Und was ihr fehlt, ist just Wissen zweiter Stufe: Sie weiß nicht, dass sie weiß, dass p. Es nimmt also nicht wunder, dass der R. die WW-These – die These, dass Wissen immer auch Wissen, dass man weiß, impliziert – im Allgemeinen ablehnt. (↗ K2-Prinzip) Allerdings ist diese These, obwohl sie von vielen Philosophen seit Platon und Aristoteles akzeptiert wurde, ohnehin nicht sonderlich plausibel. Schließlich führt sie zu einem Wissensregress: Um etwas zu wissen, müssten wir wissen, dass wir wissen, dass wir wissen … Und das können wir selbstverständlich nicht.

Während Goldman zunächst, im Einklang mit vielen anderen Externalisten, die Rechtfertigungsbedingung und damit die traditionelle Analyse des Wissens fallen gelassen hatte, ist er später zu der alternativen Auffassung gelangt, dass Verlässlichkeit nicht als ein Ersatz für Rechtfertigung verstanden werden sollte, sondern als eine neue Analyse, eine naturalistische Reduktion, von Rechtfertigung. Eine gerechtfertigte Meinung ist seiner neuen theoretischen Perspektive zufolge just eine auf eine verlässliche Art und Weise entstandene Meinung (Goldman 1979).

Lexikon der Erkenntnistheorie

Подняться наверх