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Evolutionäre Erkenntnistheorie

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Mit der Biologie steht die Erkenntnistheorie in einem Verhältnis wechselseitiger Anregung und Kritik. Auf der einen Seite erhält die Biologie von der Erkenntnistheorie Auskunft und Orientierung über ihre eigene Stellung im Spektrum der Wissenschaften, über Gehalt und Verlässlichkeit ihrer Aussagen, über Besonderheiten biologischer Erkenntnis gegenüber anderen Bereichen menschlichen Wissens. Auf diesem Gebiet hat besonders die moderne Wissenschaftstheorie als jüngster Zweig erkenntnistheoretischer Bemühungen viele Fragen klären können. Umgekehrt hat gerade die moderne Biologie der Erkenntnistheorie wichtige Einsichten und Anregungen vermittelt. Diese lassen sich zu drei Schwerpunkten zusammenfassen, die wir nacheinander vorstellen.

Biologie als Problemfeld und Bewährungsbereich für die Erkenntnistheorie. Dass die Biologie zur Erkenntnistheorie beitragen soll, könnte auf den ersten Blick überraschen. Traditionell gilt die Erkenntnistheorie als eine Disziplin, welche die Sicherheit unseres Wissens, insbesondere unseres empirischen Wissens, überhaupt erst kritisch zu prüfen und, soweit nötig und möglich, zu verbürgen habe. Wenn nun die Biologie als Erfahrungswissenschaft ihrerseits für die Erkenntnistheorie wesentlich, ja konstitutiv sein soll, geraten wir dann nicht in einen circulus vitiosus, in einen Begründungszirkel, worin etwas als gesichert vorausgesetzt wird, was erst noch bewiesen werden muss? Kann denn Biologie zur Erkenntnistheorie und diese gleichzeitig zur Biologie beitragen? Tatsächlich besteht hier eine gewisse Rückkopplung, jedoch kein vitiöser, sondern viel eher ein virtuoser Zirkel. Das Verhältnis zwischen faktischer Erkenntnis und Erkenntnistheorie ist ein fruchtbarer, selbstkorrigierender Regelkreis, in dem das eine für das andere unentbehrlich ist und beide zusammen mehr leisten als jedes für sich allein. Eine Letztbegründung wird dabei allerdings weder angestrebt noch erreicht. Der Beitrag der Biologie in dieser Partnerschaft geht auch nicht so weit, eine bestimmte Erkenntnistheorie zu beweisen; er kann aber durchaus dazu dienen, gewisse erkenntnistheoretische Auffassungen auszuschließen oder auch zu stützen.

Zunächst einmal stellt die Biologie den Erkenntnistheoretiker vor spezifische Probleme, die in Mathematik, Physik oder Chemie gar nicht oder nur am Rande auftauchen. Beispiele seien hier der Kürze halber nur durch zentrale Begriffe charakterisiert: Definition und Kriterien für „Leben“, biologische Information als bewertete Information, Fortschritt und Höherentwicklung, Zufall und Gesetzmäßigkeit, Ordnung und Entropiewachstum, organisierte Komplexität und Individualität, kybernetische (zyklische) Kausalität und Funktion, Zweckmäßigkeit und Teleonomie, Gehirn und Geist. Man kann sich leicht klarmachen, dass diese Probleme gerade auf die Besonderheiten der Lebenserscheinungen verweisen.

Angesichts der zentralen und zugleich integrativen Rolle, welche die Evolution für die Organismen und welche daher auch die Evolutionstheorie für die Biologie spielt, sollte es nicht überraschen, dass alle diese Probleme mit der Evolutionstheorie zusammenhängen. Da eine vollständige Erkenntnistheorie für alle, also auch für biologische Erkenntnis zuständig sein sollte, darf sie die genannten Probleme nicht übergehen. Eine Erkenntnistheorie, die zwar der Physik gerecht würde, für die Biologie aber unanwendbar oder falsch wäre, könnte nicht den Anspruch erheben, allgemeingültig zu sein. Die Biologie stellt somit für den Erkenntnistheoretiker eine doppelte Herausforderung dar: Sie führt ihn auf Probleme, die sich anderswo nicht stellen; und sie macht ihm bewusst, dass sich seine Entwürfe auch an biologischer Erkenntnis bewähren müssen.

Biologie als Informationsquelle für erkenntnistheoretische Modelle. Darüber hinaus stellt die Biologie Tatsachenwissen bereit, das für die Erkenntnistheorie unentbehrlich ist. Ein Beispiel soll dies belegen. Die Natur der Nervensignale ist in allen Nerven dieselbe. Wie kann dann unser Bewusstsein (unser Gehirn) wissen, was ein Signal „bedeutet“? Wie unterscheidet es Impulse, die Schmerzen in einem Zeh codieren, von solchen, die Klänge eines Violinkonzertes vermitteln? Diese Frage wurde 1826 durch J. Müller beantwortet: Die verschiedenen Interpretationen von Nervenimpulsen und damit auch die qualitativen Unterschiede zwischen verschiedenartigen Empfindungen (Schmerzen, Laute, Farben, Gerüche usw.) beruhen einzig und allein auf den verschiedenen Wegen der einlaufenden Signale. Eine Aktivierung des Sehnervs führt deshalb ausnahmslos zu einem optischen Eindruck, ganz gleich, ob der auslösende Reiz tatsächlich Licht war oder aber ein elektrischer Impuls, eine Erschütterung, ein Druck auf den Augapfel oder ein mechanischer Zug am Sehnerv. Diese Entdeckung besagt, dass jedes Gefühl, jede Empfindung, jede Wahrnehmung oder Vorstellung bereits eine Interpretation von Nervensignalen darstellt, dass also schon in der Wahrnehmung eine hypothetische Rekonstruktion äußerer Objekte vorgenommen wird.

Eine zeitgemäße Erkenntnistheorie darf solche Erkenntnisse der Neurophysiologie nicht außer Acht lassen. Wie ließe sie sich sonst von leerer Spekulation unterscheiden? Wird jedoch Tatsachenwissen angemessen berücksichtigt, dann lassen sich manche erkenntnistheoretischen Positionen durchaus als falsch, manche Forderungen als unerfüllbar erkennen. So sind der strenge Empirismus („Alle Erkenntnis entstammt der individuellen Erfahrung“) und der strenge Rationalismus („Alle Erkenntnis entstammt dem reinen Denken“) empirisch widerlegbar. (↗ Empirismus) Besonders umfangreich ist der Beitrag der Biologie zu einer Theorie der Erkenntnis im Rahmen der Evolutionären Erkenntnistheorie (EE).

Biologie als Grundlage der Evolutionären Erkenntnistheorie. Die EE ist eine Auffassung, die einzelwissenschaftliche und philosophische Elemente in fruchtbarer Weise miteinander verbindet. Sie geht aus von der empirischen Tatsache, dass unsere kognitiven Strukturen – Sinnesorgane, Zentralnervensystem, Gehirn; Wahrnehmungsleistungen, Raumanschauung, Vorstellungsvermögen, Zeitsinn; Lerndispositionen, Verrechnungsmechanismen, konstruktive Vorurteile usw. –, mit deren Hilfe wir die objektiven Strukturen (der realen Welt) intern rekonstruieren, in hervorragender Weise auf die Umwelt passen, zum Teil – etwa bei der Dreidimensionalität des Raumes – sogar mit ihr übereinstimmen. Dieser Passungscharakter darf durchaus im werkzeugtechnischen Sinne verstanden werden: Wie ein Schlüssel in ein Schloss oder ein Werkzeug auf ein Werkstück passt, so passt unser Erkenntnisapparat auf den uns unmittelbar zugänglichen Ausschnitt der realen Welt. Da ohne diese Passung Erkenntnis überhaupt nicht möglich wäre, ist sie auch erkenntnistheoretisch höchst relevant.

Wie kommt es zu dieser Passung? Gegenüber den vielen, oft spekulativen Lösungsversuchen der philosophischen Tradition gibt die EE eine neue und vor allem empirisch fundierte Antwort: Unser Erkenntnisapparat mit seinen Strukturen und Leistungen ist ein Ergebnis der biologischen Evolution. Die (subjektiven) Erkenntnisstrukturen passen auf die (objektiven) Strukturen der Welt, weil sie sich in Anpassung an diese Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte. „Um es grob, aber bildhaft auszudrücken: Der Affe, der keine realistische Wahrnehmung von dem Ast hatte, nach dem er sprang, war bald ein toter Affe – und gehört daher nicht zu unseren Urahnen“ (Simpson 1963). Unsere vergleichsweise gute räumliche Wahrnehmung verdanken wir also unseren baumbewohnenden greifkletternden Vorfahren. So können wir auch andere kognitive Leistungen erklären. Aber warum ist unser Erkenntnisvermögen dann nicht noch besser? Auch hier ist die Antwort einfach: Biologische Anpassung ist nie ideal – und unser Erkenntnisvermögen deshalb auch nicht. Für evolutiven Erfolg maßgebend ist nicht pure Qualität, sondern ein vertretbares Kosten-Nutzen-Verhältnis. Es geht nicht darum, die bestmögliche Lösung zu finden, sondern besser zu sein als die Konkurrenz. Dabei ist freilich nicht nur an zwischenartliche, sondern auch an innerartliche Konkurrenz zu denken.

Nach der EE ist unser Gehirn nicht als Erkenntnisorgan, sondern als Überlebensorgan entstanden. Zwar ist klar, dass besseres Erkennen auch das Überleben fördert, aber evolutionär gesehen steht eben nicht das Erkennen im Vordergrund, sondern das Überleben unter Konkurrenz, insbesondere das Erzeugen überlebensfähiger Nachkommen bzw. Träger meiner Gene. Unser Gehirn, seine Funktionen, Leistungen, Mechanismen, Algorithmen usw., ist, wie man gerade an seinen Fehlleistungen feststellen kann, auf den Mesokosmos zugeschnitten, also auf eine Welt der „mittleren Dimensionen“: mittlere Entfernungen und Zeiten, kleine Geschwindigkeiten und Beschleunigungen, mittlere Kräfte und Temperaturen, auf eine Welt geringer Komplexität. Unsere Intuition, unser „ratiomorpher Apparat“, ist auf diesen Mesokosmos geprägt. Hier ist die Intuition brauchbar; hier sind unsere spontanen Urteile zuverlässig; hier fühlen wir uns zu Hause. In diesem Bereich arbeiten unsere kognitiven Strukturen auch durchaus zuverlässig (s. Gigerenzer 2007). Außerhalb des Mesokosmos können sie dagegen versagen. Tatsächlich stoßen wir bei der Erforschung des Mikrokosmos, des Megakosmos und komplizierter Systeme regelmäßig auf Schwierigkeiten (Penrose 1998). Die EE ist in der Lage, diese Leistungen und Fehlleistungen unseres Erkenntnisapparates zu erklären. Die mesokosmische Passung unserer kognitiven Strukturen bedeutet nicht, dass unser Erkenntnisvermögen unhintergehbar auf den Mesokosmos beschränkt wäre. Neben Wahrnehmungs- und Erfahrungserkenntnis, die in der Tat mesokosmisch geprägt sind, gibt es noch eine weitere Erkenntnisstufe, die theoretische (oder wissenschaftliche) Erkenntnis. Sie wurde erst möglich durch die Erfindung und den Gebrauch einer deskriptiven und argumentativen Sprache.

Strukturen, die wir nicht unmittelbar erleben und uns vielleicht nicht einmal vorstellen können, z.B. vierdimensionale Gegenstände, nichteuklidische Räume, akausale Vorgänge oder Zufallsfolgen, können wir doch begrifflich erfassen, sprachlich formulieren, hypothetisch entwerfen, mathematisch modellieren und an ihren Folgerungen auch empirisch überprüfen. So ist es durchaus möglich, eine gänzlich kontraintuitive Behauptung wie die von der Erddrehung (oder eine nichteuklidische Theorie wie die allgemeine Relativitätstheorie oder eine akausale Theorie wie die Quantentheorie) mit mesokosmischen (euklidischen, kausalen) Mitteln zu überprüfen und zu bestätigen. Ebenso ist es möglich, eine Theorie, die probeweise von der Vierdimensionalität der Welt ausgeht, mit dreidimensionalen Mitteln empirisch zu überprüfen und zu widerlegen. In der Theorienbildung sind wir also wesentlich freier als in der Wahrnehmung und in der Erfahrung. Wir sind zwar zunächst auf den Mesokosmos geprägt, können ihn aber mit Hilfe von Werk- und Denkzeugen auch verlassen.

Betrachtungen über die Evolutionäre Erkenntnistheorie. Wer hat die EE entwickelt? Dass unser Erkenntnisvermögen ein Ergebnis der biologischen Evolution und damit Ergebnis eines Anpassungsprozesses sein könnte, hat schon Darwin (1809–1882) selbst in seinem Notizbuch erwogen und haben nach ihm Philosophen wie H. Spencer (1820–1903), Biologen wie E. Haeckel (1834–1919) und Physiker wie L. Boltzmann (1844–1906) immer wieder angedeutet. Weil die EE jedoch Biologie und Erkenntnistheorie verbindet, gab es kaum ausführliche Arbeiten dazu, wohl deshalb, weil sich Biologen wie Philosophen nicht zu weit in das jeweils andere Gebiet vorwagen wollten. Die entscheidende Verknüpfung hat erst K. Lorenz (1903–1989) vollzogen, und zwar zunächst in zwei Aufsätzen 1941 und 1943, die wegen des Krieges nur wenig Widerhall fanden, später in weiteren Arbeiten und vor allem in seinem Buch Die Rückseite des Spiegels (Lorenz 1973). Hier übernimmt er bereitwillig den Ausdruck „Evolutionäre Erkenntnistheorie“ von D. T. Campbell, der die frühen Arbeiten von Lorenz zwar kannte, mit diesem Titel jedoch Poppers Methodologie charakterisieren wollte (Campbell 1974). Nun wurde die EE bekannt und vielfach vertreten (Vollmer 1975, 1985) oder kritisiert (Engels 1989).

Da auch Popper sich durch Campbell bestens verstanden fühlte, entstand der falsche Eindruck, dass Popper und Lorenz dasselbe meinten. So wurden Poppers wissenschaftstheoretischer und Lorenz’ evolutionsbiologischer Ansatz vielfach in denselben Topf geworfen, und es wurde eine umfassende Theorie des Erkenntnisvermögens, des Erkennens (der Kognition) und der Erkenntnis (der Ergebnisse) ins Auge gefasst (Riedl 1981). Die Unterschiede sind jedoch gewaltig (Vollmer 1987). Um Verwechslungen vorzubeugen, empfiehlt es sich, den Lorenz’schen Ansatz Evolutionäre Erkenntnistheorie, den Popper’sehen Ansatz dagegen Evolutionäre Wissenschaftstheorie zu nennen. Gerade dann kann man – und zwar durchaus erfolgreich – nach Gemeinsamkeiten suchen (Oeser 1987).

Die EE arbeitet mit einzelwissenschaftlichen Entdeckungen aus Physik, Biologie, Psychologie, Linguistik, Anthropologie. Vor allem stützt sie sich auf die Darwin’sche Selektionstheorie in ihrer heute anerkannten Form. Dabei hängt sie nicht von jedem Detail der Evolutionstheorie ab; sollten sich aber einige der evolutionstheoretischen Grundprinzipien, insbesondere die Prinzipien der natürlichen Auslese und der Anpassung, als falsch erweisen, so wäre dadurch auch die EE ernsthaft in Frage gestellt.

Ihre enge Bindung an empirisches, vor allem an biologisches Faktenwissen bedeutet freilich nicht, dass die EE auf beschreibende und erklärende Elemente beschränkt wäre. Vielmehr dient sie auch der Begriffsverschärfung (Explikation) und der Untersuchung von Geltungsansprüchen. In dieser ihrer normativen Funktion beantwortet sie unter anderem folgende Fragen: Kann die Anschaulichkeit einer Theorie Wahrheitskriterium sein? (Nein!) Gibt es objektive Erkenntnis? (Ja!) Kann Intersubjektivität bereits Objektivität verbürgen? (Nein!) Gibt es Kriterien für Objektivität, die über Intersubjektivität hinausgehen? (Ja, etwa Invarianzforderungen!) Ist Invarianz ein hinreichendes Objektivitätskriterium? (Nein!) Diese Beispiele zeigen jedenfalls, dass die EE mehr ist als eine rein naturwissenschaftliche Teildisziplin. Sie setzt die Evolutionstheorie, insbesondere das Prinzip der natürlichen Auslese voraus, ist aber keine bloße Folgerung der Evolutionsbiologie.

Trotz ihrer Verkopplung von formalen, faktischen und normativen Elementen ist die EE keine vollständige oder gar abgeschlossene Theorie. Vielmehr setzt sie schon in Fragestellung und Formulierung einige erkenntnistheoretische Probleme als (wenigstens vermutungsweise) gelöst voraus, so einen hypothetischen (oder kritischen oder wissenschaftlichen) Realismus, eine systemtheoretisch orientierte Identitätstheorie und ein projektives Erkenntnismodell – Positionen, die sie dann ihrerseits wieder stützt, indem sie auf dieser Basis Probleme löst und neue Probleme erkennen und formulieren hilft. Dass all unser Wissen fehlbar ist, dass wir uns irren können und tatsächlich oft irren, ein konsequenter Fallibilismus (↗ Fallibilismus) also, ist eine Grundvoraussetzung der EE, wird aber durch sie auch erklärt und eben dadurch wiederum gestützt (Vollmer 2007a).

Die EE ist eine naturalistische Theorie (↗ Naturalisierung der Erkenntnistheorie). Der Naturalismus ist eine naturphilosophisch-anthropologische Position, nach der es überall in der Welt mit rechten Dingen zugeht, auch beim Sprechen, Erkennen, Forschen, moralischen Handeln, ästhetischen Urteilen (Vollmer 1994). Diese Auffassung zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: durch ihren universellen Anspruch und durch die Beschränkung der Mittel, die zur Beschreibung und Erklärung der Welt zugelassen werden. Ist der Naturalismus, ist insbesondere die Evolutionäre Erkenntnistheorie metaphysikfeindlich? Nein. Mit Metaphysik meinen wir die Lehre von den Grundvoraussetzungen unseres Denkens, Handelns, Urteilens – Voraussetzungen, die wir machen oder sogar brauchen, die wir aber nicht empirisch überprüfen können. So setzen wir als Realisten voraus, dass die reale Welt existiert, dass sie strukturiert und zusammenhängend ist, dass wir Zugang zu dieser Welt haben, dass wir sie in Wahrnehmung, Erfahrung und Wissenschaft teilweise und näherungsweise rekonstruieren, also erkennen können, dass wir wach sind – obwohl wir das alles nicht beweisen können. Metaphysik in diesem Sinne ist unentbehrlich. Allerdings unterscheiden wir gute und schlechte Metaphysik: Gute Metaphysik ist kritisierbar, schlechte nicht. Die Maxime des Naturalisten lautet also nicht „keine Metaphysik!“, sondern „nur so viel Metaphysik wie nötig!“ (Vollmer 2007b).

Die Evolutionäre Erkenntnistheorie ist also auch realistisch orientiert. Zwar könnte man sich vorstellen, dass kognitive Systeme die vermeintliche Außenwelt nur intern und ganz willkürlich konstruieren, wie das der radikale Konstruktivismus annimmt. Dagegen spricht jedoch ein schlagendes Argument: Wenn es genügte, sich die Welt irgendwie vorzustellen, zu denken, zu konstruieren, dann wären solche Weltmodelle alle gleich viel wert; keines wäre wahrer oder richtiger, und deshalb hätte keines gegenüber einem anderen einen Vorteil. Warum aber sind dann so viele kognitive Systeme ausgestorben? Der Konstruktivist hat auf diese Frage keine Antwort. Die Antwort des Realisten ist dagegen bestechend einfach: Kognitive Systeme und Weltmodelle können die reale Welt treffen oder sie verfehlen. Im Allgemeinen überleben sie desto leichter, je richtiger sie die reale Welt abbilden. Das beste Argument für den Realismus ist also nicht der Erfolg einiger realistischer Theorien, sondern das Scheitern so vieler Theorien! Und das beste Argument für das Wirken der natürlichen Auslese ist nicht das Überleben einiger Arten, sondern das Scheitern so vieler Arten! (Vollmer 1998).

Offenbar ist die EE in vieler Hinsicht noch Forschungsprogramm. Welche kognitiven Strukturen tatsächlich genetisch bedingt sind, auf welchen Wegen sie sich in der Evolution herausgebildet haben und wie sie sich im Zusammenspiel von genetischer und individuell erworbener Information entwickeln, das sind Fragen, die noch nicht zufriedenstellend beantwortet sind, die aber gerade im Lichte der EE zu einer engeren Zusammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaften herausfordern.

Lit.: Campbell, Donald T.: „Evolutionary epistemology“, in: Paul A. Schilpp (ed.): The philosophy of Karl Popper, La Salle: Open Court, 1974. S. 413–446.

– Engels, Eve-Marie: Erkenntnis als Anpassung? Eine Studie zur Evolutionären Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989.

Gigerenzer, Gerd: Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, München: Bertelsmann, 2007.

Lorenz, Konrad: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München: Piper, 1973 (siehe auch: Lorenz, Konrad/Wuketits, Franz M. [Hg.]: Die Evolution des Denkens, München: Piper, 1983).

Oeser, Erhard: Psychozoikum. Evolution und Mechanismus der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, Berlin/Hamburg: Parey, 1987.

Penrose, Roger: Das Große, das Kleine und der menschliche Geist, Heidelberg: Spektrum-Verlag, 1998 (englisch 1997).

Riedl, Rupert: Biologie der Erkenntnis. Die stammesgeschichtlichen Grundlagen der Vernunft, Berlin/Hamburg: Parey, 1981.

Simpson, George G.: „Biology and the Nature of Science“, in: Science 139, 1963. S. 84.

Vollmer, Gerhard: Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart: Hirzel, 1975, 82002.

Vollmer, Gerhard: Was können wir wissen?, Band 1: Beiträge zur Evolutionären Erkenntnistheorie, Stuttgart: Hirzel, 1985, 32003.

Vollmer, Gerhard: „Was Evolutionäre Erkenntnistheorie nicht ist“ (1987), in: ders.: Biophilosophie, Stuttgart: Reclam, 1995. S. 133–161.

Vollmer, Gerhard: „Was ist Naturalismus? Eine Begriffsverschärfung in zwölf Thesen“ (1994), in: ders.: Auf der Suche nach der Ordnung, Stuttgart: Hirzel, 1995.S. 21–42.

Vollmer, Gerhard: „Woran scheitern Theorien? Zum Gewicht von Erfolgsargumenten“(1998), in: ders.: Wieso können wir die Welt erkennen?, Stuttgart: Hirzel, 2003. S. 89–120.

Vollmer, Gerhard: „Wir irren uns empor“, in: Konrad Sandhoff u.a. (Hg.): Vom Urknall zum Bewusstsein – Selbstorganisation der Materie (GDNÄ 2006), Stuttgart: Thieme, 2007a. S. 357–366.

Vollmer, Gerhard: „Wie viel Metaphysik brauchen wir?“, in: Astrid von der Lühe/Dirk Westerkamp (Hg.): Metaphysik und Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007b. S. 67–81.

G.V.

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