Читать книгу Organisation gestalten – Stabile und dynamische Unternehmensstrukturen - Götz Schmidt - Страница 8
1.2 Beziehung zur Prozessorganisation
Оглавление1.2.1 Primat der Prozessorganisation – wer folgt wem?
Ehe wir uns mit den Zusammenhängen zwischen der Aufbau- und der Prozessorganisation auseinandersetzen, soll eine Definition für einen Prozess vorangestellt werden (nach FISCHERMANNS, 2013).
Ein Prozess ist eine Struktur, deren Elemente Aufgaben, Aufgabenträger, Sachmittel und Informationen durch logische Folgebeziehungen verknüpft sind. Darüber hinaus werden deren zeitliche, räumliche und mengenmäßige Dimensionen konkretisiert. Ein Prozess hat ein definiertes Startereignis (Input) und Ergebnis (Output) und dient dazu, einen Wert für Kunden zu schaffen.
Prozessorganisation bedeutet dann, die Strukturen solcher Prozesse zu bestimmen.
In der klassischen Organisationslehre wie auch in der Wirtschaftspraxis wurde von folgendem Modell ausgegangen: Bei Unternehmen oder Verwaltungen gibt es – eine gewisse Mindestgröße vorausgesetzt – wichtige oder dominierende Personen, die sich hinsichtlich ihrer Ausbildung, ihrer beruflichen Erfahrungen, ihrer Interessen und Neigungen unterscheiden. Oft handelt es sich um klassische Berufsbilder wie z. B. den Kaufmann, den Fertigungsspezialisten, den Entwickler, oder bei einer Bank den Kreditspezialisten, den Wertpapierfachmann, den Experten für Außenhandel usw. Diese obersten Führungskräfte verteilen untereinander die insgesamt im Unternehmen wahrzunehmenden Aufgaben – sie legen ihren Geschäftsverteilungsplan fest. Dabei entstehen in aller Regel spezialisierte Einheiten wie der Einkauf, das Rechnungswesen, die Entwicklungsabteilung, der Vertrieb oder die Kreditabteilung, die Wertpapierabteilung, der Zahlungsverkehr usw.
Die Struktur der Aufbauorganisation beginnt also an der Spitze und setzt sich über mehrere Ebenen von oben nach unten fort. Dieses Vorgehen hat einen theoretischen und einen praktischen Hintergrund:
In der klassischen Organisationstheorie wurde die Auffassung vertreten, dass der organisatorische Aufbau aus einer hierarchischen Analyse der Aufgaben abgeleitet wird. Die Oberaufgaben in einem produzierenden Unternehmen, wie z. B. forschen, entwickeln, einkaufen, fertigen, verkaufen, verwalten, oder in Banken Passivgeschäfte, Aktivgeschäfte, Dienstleistungen, in Versicherungen Lebensversicherungen, Sachversicherungen usw., werden in immer kleinere Teilaufgaben hierarchisch zerlegt, bis sie schließlich Stellen übertragen werden können. Aus diesem Denkansatz folgt, dass nicht übergreifende Prozesse etwa vom Kunden zum Kunden für die Aufbauorganisation maßgeblich waren, sondern spezialisierte Funktionen mit entsprechend spezialisierten Berufsbildern. Nach dieser Abgrenzung waren dann die Vorgesetzten der so gebildeten spezialisierten Einheiten (Dezernate, Hauptabteilungen, Abteilungen, Gruppen etc.) dafür zuständig, dass innerhalb der Einheiten die dort zu erledigenden Prozesse möglichst gut bewältigt werden konnten. Die Optimierung der Prozesse begann und endete an den Grenzen der Organisationseinheiten. Dieser Ansatz förderte die Dominanz der Aufbau- über die Prozessorganisation, die Reihenfolge hieß also Aufbau- vor Prozessorganisation.
Abb. 1.03: Aufbauorganisation durch Zerlegung
Praktische, ja sogar sehr menschliche Gründe führten zu dem gleichen Resultat. Aus der Sicht der Beteiligten auf der obersten Ebene kann die Aufbauorganisation auch als ein Nullsummenspiel der Macht angesehen werden. Eine Zuständigkeit kann prinzipiell nur einmal vergeben werden. Je mehr Zuständigkeiten ein Mitglied erhält, desto weniger bleibt für alle anderen übrig. Aus der Menge und Qualität der Zuständigkeiten eines Mitglieds leitet sich sein Einfluss bei allen folgenden Entscheidungen ab. Also versucht jeder in einem ersten Schritt, einen möglichst großen Teil des Kuchens zu erhalten. Die so gewonnenen Einflussbereiche werden in weiteren Schritten sorgfältig abgesichert und verteidigt. Auf der darunterliegenden Ebene wiederholt sich das Ganze. Auch hier wird wieder verteilt, abgegrenzt und verteidigt, bis hin zu der untersten Ebene. Innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs versucht jeder, eine möglichst gute Organisation – auch mit möglichst guten Prozessen – aufzubauen. Die Interessen der zusammenarbeitenden Einheiten unterscheiden sich jedoch oft deutlich voneinander. So verspricht der Vertrieb jedem Kunden eine individuelle Lösung, während die Fertigung ein „Einheitsmodell“ herstellen möchte. Ohne Rücksicht auf andere Einheiten wird der eigene Bereich optimiert und das Unternehmensoptimum zugunsten des Bereichsoptimums geopfert. Auch diese „menschliche“ Erklärung führt zu einer eindeutigen Reihenfolge: Aufbauorganisation vor Prozessorganisation.
Die Dominanz der Aufbau- über die Prozessorganisation war lange Zeit relativ unproblematisch, weil die Märkte die damit verbundenen Nachteile toleriert haben. Diese Zeiten sind vorbei. Die Nachteile des „klassischen Ansatzes“, wie z. B. lange Durchlaufzeiten aufgrund der vielen Schnittstellen, zeigen sich in hart umkämpften, dynamischen Märkten immer deutlicher. Deswegen kann die These gewagt werden, dass nur solche Unternehmen auf Dauer überleben werden, die bei der Gestaltung der Aufbauorganisation von den zentralen Prozessen ausgehen, die also die Dominanz der Prozesse über die Aufbauorganisation akzeptieren und umsetzen. Insofern kann wohl zu Recht von einem grundlegenden Wechsel im gedanklichen Ansatz der Aufbauorganisation – in der Sprache der Theorie von einem Paradigmenwechsel – gesprochen werden.
1.2.2 Trennung als Kunstgriff
Es wird gelegentlich gefordert, auf die Trennung in Aufbau- und Prozessorganisation ganz zu verzichten, da diese Aufspaltung zu den gerade angedeuteten Problemen wie Bereichsdenken, Suboptimierung, viele Schnittstellen usw. geführt habe. Diese Argumentation übersieht im Wesentlichen zwei Sachverhalte:
Die Trennung ist ein methodisch notwendiger Kunstgriff bei der Gestaltung komplexer Lösungen, und die Neugestaltung einer Organisation ist in aller Regel ein sehr komplexes Vorhaben.
Der mangelhafte Umgang mit diesem gedanklichen Modell sollte nicht zur Ursache für nachteilige Folgen gemacht werden. (Es wird kaum jemand auf den Gedanken kommen, die Gesetze der Fliehkraft dafür verantwortlich zu machen, dass ein Auto aus der Kurve fliegt. Die Verantwortung liegt doch wohl eher beim Fahrer, der die Auswirkungen dieser Gesetze kennen muss.)
Die Trennung zwischen Aufbauorganisation und Prozessorganisation soll die gedankliche Auseinandersetzung mit organisatorischen Fragen erleichtern. Kehren wir noch einmal zu dem Beispiel von Herrn Buch zurück.
Wenn Herr Buch gemeinsam mit dem Berater über eine neue Aufbauorganisation spricht, so denken beide in vereinfachten Zusammenhängen. Sie beschäftigen sich mit der Stellenbildung (etwa ob die Stellen eher spezialisiert oder eher generalisiert werden). Wenn Herr Buch sich dafür entscheidet, einen Mitarbeiter ganzheitlich für den Kunden zuständig zu machen, dann denkt er in diesem Augenblick an ein Teilgebiet der Aufbauorganisation. Dazu hat er sich vorher vermutlich den Kopf darüber zerbrochen, bei welchen zentralen Prozessen Schnittstellen zu minimieren sind. Dabei dachte er in den Kategorien der Prozessorganisation. Wenn er dann mit dem Berater darüber diskutiert, welche Informationen der Mitarbeiter benötigt, denken sie an ein weiteres Teilgebiet der Aufbauorganisation. Schon dieses einfache Beispiel macht deutlich, dass es gar nicht möglich ist, alle diese Sachverhalte gleichzeitig im Auge zu behalten.
Die Trennung in Aufbau- und Prozessorganisation ist ein Kunstgriff, der dem Systemdenken entspringt. Bei der Neugestaltung komplexer Systeme werden diese nach außen abgegrenzt und im Inneren in kleinere, gedanklich beherrschbare Fragestellungen oder Teilprojekte (Unter- bzw. Teilsysteme) zerlegt. Sie werden zwar nacheinander durchdacht und bearbeitet, dann aber integriert, d. h. auf Verträglichkeit überprüft und aufeinander abgestimmt.
Zur Vertiefung des Themas Prozessorganisation siehe Band 9 „Praxishandbuch Prozessmanagement“ dieser Schriftenreihe.