Читать книгу Die Ragulka-Bande - Gun Jacobson - Страница 10
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ОглавлениеEines Tages, als die Jungen Papa nach der Schule besuchen gingen, war die Schuhmacherei voller Leute. Niemand schien die Jungen zu bemerken, als sie hereinkamen.
»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte Kaljo und schlug mit der Faust auf den Tresen. »Das darf doch, verdammt noch mal, nicht wahr sein!« schrie er und haute noch mal zu.
Zornige Stimmen redeten durcheinander, und es war nicht zu überhören, wie aufgeregt alle waren. Nun war es soweit. Russische Truppen marschierten in das freie Estland ein. Die Regierung war gezwungen worden, dem mächtigen Nachbarn im Osten Militärbasen zur Verfügung zu stellen.
»Habt ihr das gehört«, übertönte Oskar alle anderen. »Die estnische Heimwehr wird abkommandiert, um die russischen Soldaten zu beschützen!« Oskar war bei der Heimwehr, er wußte, wovon er redete.
«Ja, ja, der russische Riese ist groß und stark, aber der scheißt sich doch in die Hosen, wenn’s drauf ankommt«, warf einer der Besucher ein.
Heino und Jaan saßen ganz still in eine Ecke gekauert. Die Männer schienen sie immer noch nicht zu bemerken. Wenn sie bloß nicht plötzlich einer sah. Dann würden sie die Diskussion sofort abbrechen.
»Zum Teufel«, fluchte Papa. »Jetzt haben wir die russischen Barbaren wieder im Nacken.«
»Ja, Barbaren – genau das sind sie!« fauchte Kaljo.
»Die russischen Barbaren«, murmelte Papa immer wieder, und zwischendurch hörte man ihn grimmig murmeln: »Ungeheuer des Satans sind sie. Teuflische Monster!«
Heino fand das alles aufregend. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er russische Teufel gesehen und auch keine russischen Monster. Das war seine Chance! Es war nicht schwer, Jaan zu überreden, sich davonzuschleichen und einen Blick auf diese Ungeheuer zu werfen, die auf dem Weg zu den Basen waren – was das nun wieder sein mochte?
Eigentlich war es verboten, sich die marschierenden russischen Truppen anzusehen. Aber kaum jemand kümmerte sich um das Verbot. Viele Leute waren auf den Straßen. Sie standen in Gruppen zusammen und warteten. Die Jungen drängten sich vorsichtig zwischen die Erwachsenen, um besser sehen zu können. Heino konnte kaum stillstehen vor Erregung.
Schritte im Takt näherten sich, und alle schienen die Luft anzuhalten. Als die fremden Soldaten vorbeimarschierten, sagte niemand ein Wort. Kein Laut kam über die Lippen der Menschen, keine Hand wurde zum Gruß erhoben.
Jetzt waren sie genau vor Heino. Eine Reihe Soldaten nach der anderen marschierte mit schwingenden Armen, trampelnden Soldatenstiefeln und starren Gesichtern vorbei. Heinos Enttäuschung war riesengroß. Das da waren doch gar keine Monster! Es waren ganz gewöhnliche Männer. Er fühlte sich reingelegt. Zorn stieg in ihm auf. Papa hatte gesagt, es seien Teufel, und da konnten die doch nicht daherkommen und so tun, als wären sie ganz normale Menschen.
Bald waren alle Soldaten vorbeimarschiert, und Heino spürte, daß er etwas tun mußte. Er konnte nicht nur einfach zusehen, wie sie davonmarschierten.
Ohne Jaan etwas zu sagen, schlich er davon. Sobald er außer Sichtweite war, wurde er schneller. Genau wie alle anderen Jungen der Stadt kannte er Abkürzungen, Ecken und Winkel, wo man sich verstecken und notfalls schnell verschwinden konnte. Er kletterte auf eine Mauer und suchte Schutz hinter einem Busch. Von dort hatte er eine ausgezeichnete Aussicht. Die Soldaten würden genau auf ihn zu marschieren.
Er steckte die eine Hand in die Gesäßtasche, um zu kontrollieren, ob die Ragulka noch da war. Die andere Hand glitt wie von selbst in die Hosentasche auf der Suche nach Munition. Er holte eine Handvoll Steine hervor, wählte ein paar besonders scharfkantige aus und schob die anderen Steine zurück in die Tasche. Er zielte und wollte schon einen Probeschuß auf die Straße abgeben, als ihm die Menschen einfielen, die dort unten standen und warteten. Es war nicht gut, die Aufmerksamkeit schon im voraus auf sich zu lenken.
Jetzt. Jetzt kamen sie! Das typische Geräusch von marschierenden Stiefeln näherte sich. Aufgeregt starrte er dem Zug von Menschen entgegen, die keine Menschen waren, sondern russische ... Ja, er sah es deutlich, das waren russische Monster – böse, tückische Teufel, die unaufhaltsam näher und näher kamen.
Es durfte nicht geschehen! Er, Heino, mußte sie aufhalten. Sein Herz hämmerte, seine Hände zitterten, und sein ganzer Körper wurde schlaff. Die erste Reihe war schon vorbeimarschiert, als er endlich aus der Betäubung erwachte.
Er hob die Ragulka und zielte genau, aber es war schwer. Sobald er die Augen klar auf ein Monster-Gesicht eingestellt hatte, war es schon vorbei. Erneutes Zielen und dasselbe Ergebnis. Er wurde nervös.
Da! Nun hatte er so ein Teufel-Monster-Gesicht im Blickfeld. Und er schoß ab. Er war so eifrig, daß er alle Vorsicht vergaß. Aufgeregt beugte er sich vor, um besser sehen zu können, und in derselben Sekunde ertönte ein Schrei. Er hatte getroffen. Das war der beste Schuß seines Lebens!
Vor Freude und Erschöpfung schloß Heino die Augen. Als er sie wieder öffnete, marschierten immer noch russische Soldaten vorbei. Männer von der estnischen Heimwehr gingen mit erhobenen Gewehren herum und sahen sich suchend um. Heino war es klar, daß er sich besser still verhielt, bis alle Soldaten verschwunden waren. Dann würde er vorsichtig auf einem anderen Weg nach Hause schleichen.
Niemand sah, wie er sich davonstahl. Er war allein gewesen, als er schoß. Niemand wußte, daß er es gewesen war. Er hatte auch nicht die Absicht, es jemandem zu erzählen. Aber das Gerücht verbreitete sich natürlich. Heino war kaum zur Tür herein, da überschütteten ihn die Eltern auch schon mit Fragen. Wußte er es? Hatte er es gehört? Hatte er es gesehen?
Er schüttelte den Kopf. Nein, er wußte nichts. Er war nur ein bißchen herumgelaufen. Es war ihm langweilig geworden, nur dazustehen und die Soldaten anzustarren.
Aber Mama durchschaute ihn. »Heino«, sagte sie leise, »wenn du weißt, wer da geschossen hat ...«
Papa unterbrach sie, hob den Jungen hoch und setzte ihn auf den Küchentisch. »Wenn du weißt, wer da geschossen hat«, wiederholte er, »dann kommt es darauf an, das Maul zu halten. Du darfst es niemandem sagen. Hast du das gehört? Niemandem! Sonst kann es uns allen verdammt schlecht ergehen.«
Später am Abend, als Heino mit Jaan im Doppelbett lag, konnte er nicht mehr an sich halten. Er mußte es dem Bruder erzählen. Sonst hatten sie ja auch keine Geheimnisse voreinander. »Was soll ich morgen sagen? Falls die anderen fragen?« flüsterte er.
»Daß du nichts weißt natürlich«, antwortete Jaan.
»Das ist aber schwer, wenn einen alle anstarren.«
»Wenn du nichts weißt, dann weißt du eben nichts. Ist doch ganz einfach!«
Am nächsten Abend kroch Heino sehr zufrieden mit sich selbst ins Bett. Jetzt wußte er, was er konnte. Er konnte russische »Barbaren« treffen. Er konnte den Kameraden etwas vorlügen, ohne mit der Wimper zu zucken. Er hatte sogar gelernt, Mama und Papa auszuweichen, wenn sie mit ihren Fangfragen kamen – fast jedenfalls.
Und außerdem wußte er, was Militärbasen waren: Stützpunkte mit Soldaten und Waffen für die Verteidigung oder den Angriff an wichtigen Stellen. Die Lehrerin hatte es erklärt. Und in der Pause hatte Toomas gesagt, alle Esten sollten froh sein, daß die Sowjetunion ihnen half, sich zu verteidigen. Wer auf den Soldaten geschossen hatte, sei ein verdammter Idiot, der nicht wisse, was gut für sein Land war.
Heino schlief ein. Er fühlte sich nicht wie ein verdammter Idiot. Im Gegenteil!
Der Krieg war näher, als sie dachten. Als fremde Soldaten über die Grenzen marschierten, erhob sich keine Hand zur Verteidigung. Manche hielten das für gut, denn sie dachten an die Menschenleben, die dadurch gerettet wurden. Es gab keine Chance für die Verteidiger. Alles war schon entschieden. Und das galt nicht nur für Estland, sondern auch für die beiden anderen baltischen Staaten Lettland und Litauen.
Die Länder waren bereits am 28. September 1939 verraten worden, als Stalin und Hitler einen Grenz- und Freundschaftsvertrag schlossen. Nun konnte Hitler den Krieg im Westen ungestört fortsetzen. Und Stalin erhielt dafür freie Hand in den baltischen Staaten.
Aber das erfuhren die Menschen erst viel später. Sie wurden wieder und wieder betrogen, und im Oktober war es aus mit ihrer Freiheit. Da wurde Estland gezwungen, der Sowjetunion, deren Truppen schon an der Grenze standen, Militärbasen zur Verfügung zu stellen. Truppen, die um ein Vielfaches übertrafen, was das kleine Estland hätte auf die Beine stellen können. Die estnische Regierung erkannte, daß Widerstand sinnlos war, und willigte in die sowjetischen Militärbasen im Land ein.
Stalin war zufrieden und erklärte, nun gebe es zwischen Estland und der Sowjetunion keine Probleme mehr. Er versprach dem estnischen Volk auch für die Zukunft ein Leben in Unabhängigkeit und Freiheit.
Das sagte er am 7. Dezember, als sich alle auf Weihnachten freuten. Nach einem ruhigen Herbst würden sie ein estnisches Weihnachtsfest in Frieden und Freiheit feiern!
Bei der Weihnachtsbescherung war Papa immer am aufgedrehtesten in der Familie. Er konnte sich kaum halten vor Ungeduld. Erst wenn Mama begann, ihr Päckchen zu öffnen, wurde er ruhig. Ein weiches Päckchen diesmal. Jaan und Heino drückten daran herum. Es war nicht zu erraten.
Vorsichtig schälte Mama das Papier ab. »Ein Muff«, sagte sie und steckte begeistert die Hände hinein. »Wie warm und kuschlig! Und auch noch modern.«
Der Muff war aus dickem Stoff und mit Pelz abgesetzt.
»Eichhörnchenfell«, sagte Papa. »Das hast du Heino zu verdanken.«
Wie um alles in der Welt war Papa an das Eichhörnchen gekommen?
Papa berichtete: Vello war bei ihm im Laden erschienen und wollte ein Eichhörnchen verkaufen. Papa hatte gefragt, ob es möglicherweise Heinos Eichhörnchen sei. Und Vello hatte es zugegeben und nichts bezahlt haben wollen. Papa hatte ihm angeboten, sich aus der Schublade mit den Lederresten etwas auszusuchen. »Nimm nur«, hatte er gesagt, »nimm soviel, daß es für alle reicht.« Er wußte ja, daß man für eine bestimmte Art Ragulka Lederreste brauchte.
Als alle schon zu Bett gegangen waren, lag Heino noch lange wach. Vello hatte versucht, sein Eichhörnchen zu verkaufen. Der kann was erleben, dachte er, und es war ihm ganz egal, daß man Heiligabend nett sein soll.