Читать книгу Die Ragulka-Bande - Gun Jacobson - Страница 6
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ОглавлениеAlle standen in geraden Reihen auf dem Hof. Heino reckte sich. Dies war ein großer Tag, hatte er erfahren. Er fühlte sich sehr wichtig und feierlich. Es ging um – nein, jetzt hatte er es vergessen! »Ich hab vergessen, wie es heißt«, jammerte er flüsternd.
»Still«, zischte Jaan, der neben ihm stand.
Heino war beleidigt. Er hatte doch nur geflüstert. »Wie heißt das Land? Du mußt es mir sagen.« So schnell gab er nicht auf.
»Estland, du Idiot«, fauchte Jaan.
Das hat der Lehrer nicht gesagt, dachte Heino. Außerdem wußte er sehr wohl, daß es Estland hieß. Aber heute sollte man etwas anderes sagen. Plötzlich fiel es ihm wieder ein.
»Haferland«, sagte er stolz und viel zu laut, und Jaan schnaubte noch einmal: »Idiot!« Aber plötzlich prustete er los und die anderen um ihn herum auch.
»Vaterland«, sagte Olev, der auf der anderen Seite stand. »Vaterland!«
So war es. Heute ging es um das Vaterland – und die Freiheit. Alle Pfadfinder von ganz Tallinn hatten sich vor der Residenz versammelt. Nicht nur Pfadfinder übrigens – auch Männer in Uniformen und mit Gewehren über den Schultern, Frauen mit dem roten Kreuz auf den Kleidern und andere Leute.
»Ich möchte mal wissen, ob da Kinder in der Präsidenz sind«, sagte Heino laut, und um ihn herum prustete es erneut.
»Kannst du nicht den Mund halten!« zischte Jaan.
Aber Olev beugte sich vor und flüsterte, es heiße Residenz. Das Schloß des Präsidenten werde Residenz genannt.
Heino war wütend auf sich selbst. Das hatte er ja schon mal gehört. Wirklich ärgerlich, daß er es vergessen hatte!
Sie hatten den ganzen Tag in der Schule geübt. Der Oberlehrer war auch der Anführer der Pfadfinder, und deshalb wurde er nach einem großen Freiheitshelden Estlands Lembit genannt.
Lembit hatte ihre Kleidung genau gemustert und ihnen gesagt, wie sie sich benehmen mußten. Der Präsident hatte überraschend eine Volksversammlung einberufen. Es ging um die Freiheit des Vaterlandes.
Die Lehrer hatten sie feierliche Lieder singen und Gedichte aufsagen lassen, die sie nicht richtig begriffen. Die estnische Nationalhymne konnten die Kinder natürlich auswendig: »Mein Heimatland, mein Glück und meine Freude, wie schön bist du. Niemals finde ich auf der großen weiten Welt etwas, das mir so lieb ist wie du, mein Heimatland.«
Heino dachte an die Worte aus der Nationalhymne und schämte sich ein wenig. Ihm war, als würde er lügen, wenn er sie sang. Er hatte so viel anderes auch gern. Er konnte nicht den Eid der Pfadfinder schwören, daß ihm das Heimatland das liebste sei.
Das Herumstehen war langweilig, aber niemand wagte das laut zu sagen. Heino wurde müde. Es war schwer, so lange still zu sein. Er merkte, daß der Oberlehrer ihn anschaute. Ich hab doch nichts gemacht? dachte er.
Aber Lembit lächelte und fragte ihn: »Na, Heino, du weißt doch wohl, wie der Präsident heißt?«
»Konstantin«, antwortete Heino auf der Stelle. Zum Glück fiel ihm ein, daß der Präsident genauso hieß wie der Gehilfe, der bei Papa arbeitete.
»Richtig. Konstantin Päts.«
Plötzlich ging ein Raunen durch die Menschenmenge. Die Balkontüren der Residenz wurden geöffnet, und einige Männer kamen heraus. Es war nicht schwer zu raten, wer von ihnen der Präsident war. Er stand in der Mitte und hielt ein Blatt Papier in der Hand. Als die Menge verstummte, begann er zu sprechen.
Er sah nett aus. Und feierlich. Mama hatte die Jungen gebeten, gut zuzuhören, damit sie alles erzählen konnten, wenn sie nach Hause kamen.
»Estland«, sagte der Präsident, »unser Heimatland! Vaterland ... Freiheit und Friede ... und stolz auf unser Land ...«
Heino sog die Worte ein. Er durfte sie nicht vergessen.
Der Präsident sprach auch von Krieg. Immer wieder nannte er das Wort. Offenbar hatten irgendwelche Leute Krieg angefangen. Aber die Menschen in Estland wollten in Frieden leben.
Heino hörte nicht mehr zu. Er betrachtete die Residenz. Wenn man in so einem Haus wohnen dürfte! Dann könnte man auf den Balkon gehen und zum Volk sprechen. Vielleicht sollte er Präsident werden, wenn er groß war? Dann könnte er allen Freunden ein Fest geben in der Residenz.
Kadriorg! Ja, so nannte Papa das Schloß. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Mama sagte Katrinedal, so hieß das auf schwedisch. Darüber zankten Mama und Papa sich manchmal.
»Heute machen wir einen Ausflug nach Kadriorg«, sagte Papa.
»Nein, nach Katrinedal«, sagte Mama dann. »Und die Jungen kommen mit«.
Natürlich wurden sie nicht eingelassen in den Präsidentenpalast. Er war von einem hohen Zaun aus Eisen umgeben, und an den Eisenpforten standen uniformierte Wachen. Aber davor war ein großer herrlicher Park mit einem Vogelteich.
Heute waren sie eingelassen worden. Und plötzlich sprach der Präsident direkt zu den Pfadfindern, die unter seinem Balkon aufgereiht standen. Jaan stieß Heino an, um ihn aus seinen Gedanken zu wecken.
Die, die jetzt jung waren, dürften niemals vergessen, daß sie ein Heimatland hatten, sagte der Präsident. Sie sollten Estland immer lieben und es gegen jeden Feind verteidigen.
»Seid bereit!« rief er.
»Allzeit bereit!« antworteten eifrig die estnischen Pfadfinder.
Jaan und Heino gingen zusammen mit Toomas und ein paar anderen nach Hause. Heino war froh, daß er sich endlich bewegen durfte, und redete ununterbrochen. Wie groß die Residenz war, was für eine schöne Rede der Präsident gehalten hatte und wie toll es war, daß er die Pfadfinder aufgerufen hatte, Estland zu verteidigen.
Aber Toomas lächelte höhnisch. Ja ja. Reden konnte er, der Präsident. Aber wer Estlands wirkliche Feinde waren, das wußte er nicht.
»Papa sagt aber, wir haben den besten Präsidenten der Welt«, sagte Heino erstaunt.
»Du bist noch zu klein, um das zu verstehen«, antwortete Toomas. »Aber natürlich«, fügte er hinzu, »natürlich darfst du diesen Päts gut finden. Du bist ja noch so klein. Du verstehst es eben nicht besser.«
Als sie sich trennen wollten, packte Toomas Heino am Arm. »Du«, sagte er drohend, »nimm dich bloß in acht.«
Heino nickte erschrocken. Er wußte nicht, wovor er sich in acht nehmen sollte. Aber es war das beste, Toomas zuzustimmen. Soviel hatte er begriffen.
»Du sagst kein Wort. Kapiert?« fuhr Toomas fort.
Heino nickte eifrig. »Kein Wort. Zu niemandem!«
»Was wir so in der Bande reden«, sagte Toomas mit seiner befehlenden Stimme, »darüber reden wir nicht zu Hause mit den Eltern. Paß bloß auf, daß dir nichts rausrutscht!«