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Jaan war stinkwütend, als er nach Hause kam. So was durfte man einfach nicht machen. Das mußte Heino endlich kapieren. Sich überhaupt nicht um die Steine zu kümmern! Auf die Befehle des Anführers zu pfeifen! Jaan war so aufgebracht, daß er kaum reden konnte. Er hatte sich so wegen seines dämlichen kleinen Bruders schämen müssen.

»Warum hast du das gemacht?«

»Sag ich nicht.«

Mama griff ein. Sie war verärgert und besorgt zugleich, wenn die Jungen sich zankten. Worüber sie sich eigentlich stritten, wollte sie wissen. Die beiden wanden sich. Keiner wollte als erster antworten.

In dem Augenblick hörten sie Schritte auf der Treppe. Papa kam nach Hause. Die Tür wurde aufgerissen, und auf der Schwelle stand eine schwankende Gestalt.

Mama erstarrte, und sie sagte nur ein einziges Wort: »Juhan!«

Heino schauderte. In Mamas Ton war etwas, das er nicht verstand. Aber er fühlte, daß sie böse war. Sehr böse. Er wußte auch, warum. Es war Papa anzusehen, daß Freunde ihn auf der Arbeit besucht hatten und daß die Flasche herumgegangen war. Aber Heino begriff nicht, warum Mama sich so darüber aufregte. Soweit er sehen konnte, war Papa nur laut und fröhlich. Er machte Späße und hob seine Söhne einen nach dem anderen hoch, wirbelte sie herum und kitzelte sie am ganzen Körper. Sie quietschten vor Lachen.

Papa fand nichts Besonderes daran, daß die Jungen sich zankten. Er strahlte vor Stolz, als er erfuhr, daß sein Jüngster ein Eichhörnchen geschossen hatte. Der Junge hatte Schneid!

Hastig und erregt erzählte Jaan, wie es weitergegangen war. Wie er sich wegen Heino hatte schämen müssen, weil der einfach auf den Befehl des Anführers gepfiffen hatte.

»Gut so, Heino«, sagte Papa. »Estland ist ein freies Land. Wir tun, was wir für richtig halten, und lassen uns nicht zwingen.«

Heino wagte nicht zu zeigen, wie sehr er sich über Papas Antwort freute. Er spürte, daß beide, Mama und Jaan, sehr böse waren.

Mama regte sich darüber auf, daß ihre Kinder Krieg spielten. Es gab ein strenges Verhör, und die Jungen antworteten widerwillig. Mama hatte zwar gewußt, daß sie mit der Ragulka schossen, aber nicht, daß sie regelrechte Kämpfe austrugen. Und nicht, daß sie aufeinander schossen!

»Wir zielen niemals auf den Kopf«, beruhigte sie Jaan.

»Ach«, sagte Papa, »Jungs sind Jungs. Ich weiß noch, als ich Kind war ...«

Heino spitzte die Ohren. Er hörte gern zu, wenn Papa von früher erzählte. Aber Mama wollte nichts hören. Ihr scharfes »Juhan« brachte Papa zum Schweigen.

»Ein andermal«, sagte er augenzwinkernd.

»Du sollst ihnen nicht von deinen Heldentaten vorprahlen, und du sollst sie nicht auch noch ermuntern, Krieg zu spielen.«

»Hilja, es ist doch ganz harmlos, es ist nur ein Spiel.«

»In diesem Land hat es genug Krieg gegeben«, sagte Mama, und damit war die Diskussion beendet.

»Und jetzt wollen wir es vergessen«, sagte Papa. Das sagte er immer, wenn die Jungen was angestellt hatten. Dann wußten sie, daß ihnen verziehen war.

Heino lag auf dem Fußboden, guckte zur Decke und malte sich aus, daß er weglaufen würde, weit weg, dahin, wo niemand über ihn bestimmen konnte. Er hörte die Eltern reden, hörte aber nicht zu. Plötzlich drang die energische Stimme seiner Mutter in seine Phantasiewelt.

»Du weißt, was ich gesagt habe. Du mußt dich entscheiden, ich oder die Flasche. Meine Söhne sollen nicht mit einem saufenden Vater aufwachsen.«

Heino lauschte, aber die Eltern senkten die Stimmen. In dem Augenblick klopfte es heftig an der Tür, und alle lauschten. Drei Männer stürmten ins Zimmer, und Papa sprang mit einem fröhlichen Fluch auf.

»Juhan! Du weißt ...« Mehr konnte Mama nicht sagen.

Papa straffte sich und sah sie starr an. »Ja, ich weiß«, sagte er. »Und ich hab genug.«

»Denk an die Kinder«, flehte Mama.

»Genau! Wenn sie den Anblick von ihrem Vater und seinen Freunden nicht ertragen, dann lassen wir es doch. Alles.«

Heino lief zu Jaan, um bei ihm Schutz zu suchen. Still standen die beiden da und sahen zu, wie Papa im Schrank wühlte. Er warf ein paar Kleidungsstücke in einen Koffer, den er dann heftig zuknallte.

»Ade!« rief er, und weg war er.

An diesem Abend konnte Heino nicht einschlafen. Er lag neben Jaan im Doppelbett und wartete auf Papa. Mama lag allein im Bett der Eltern und versuchte, ihr Schluchzen im Kopfkissen zu ersticken.

Wenn sie nur aufhören würde! Heino tat es im ganzen Körper weh, sie weinen zu hören. Jaan war auch wach. Das merkte Heino an seinen Atemzügen. Er könnte doch was sagen, ihm wenigstens etwas ins Ohr flüstern. Aber der Bruder schwieg. Heino seufzte und wälzte sich herum, bis Jaan zischte, er solle stilliegen.

Papa kam nicht, und Mama schluchzte.

Trotzdem mußten sie schließlich doch eingeschlafen sein, sonst hätte Mama sie nicht am nächsten Morgen wecken können. Heino betrachtete sie heimlich, aber er konnte keine Tränen in ihrem Gesicht entdecken. Doch sie war ernst und sprach streng mit den Jungen. Heute durften sie nicht zu Papa in die Werkstatt gehen. Sie brauchte den ganzen Tag ihre Hilfe. Jaan wurde zu einer Besorgung in die Stadt geschickt.

Es machte Spaß, in dem Kurzwarengeschäft zu helfen, in dem Mama arbeitete. Zum Beispiel, die Regale aufzuräumen. Frau Haamer, der der Laden gehörte, mochte Kinder. Obwohl überall Ordnung herrschte, sagte sie nichts, wenn die Jungen alle Sachen umräumten. Wenn sie nur nichts von einem Regal ins andere legten oder die Schubkästen vertauschten.

Mama saß mit ihren Kolleginnen Leida und Thea in einem Zimmer hinter dem Laden. Sie nähten neue oder änderten alte Kleider. Meistens nahmen sie Laufmaschen in feinen Seidenstrümpfen auf.

Oft wollten die Kunden die Kleidung nach Hause gebracht haben, und das war die Aufgabe der Jungen. Mama war stolz, wenn ihre Söhne sich nützlich machen konnten. Und Jaan und Heino hatten nichts dagegen. Es gab immer etwas Leckeres oder eine Münze, wohin sie auch kamen. Außerdem erhöhte Frau Haamer dann Mamas Lohn um ein paar Kronen. Auf diese Weise trugen die Jungen zur Versorgung der Familie bei.

Aber an diesem Tag begriff Heino nicht, warum er hier sein mußte. Es war nicht besonders viel zu tun. Im Gegenteil, es war so ruhig im Laden, daß Frau Haamer nach hinten ins Nähzimmer kam. Sie sprach erregt, und die anderen hörten aufmerksam zu. »Krieg«, sagte sie plötzlich.

Heino, der an einem Tisch mit ein paar Garnrollen Krieg spielte, zuckte zusammen. Hatten sie gemerkt, was er da trieb? Mama hatte ja verboten, daß er Krieg spielte.

»Man kann nie wissen«, sagte Frau Haamer mit leiser, warnender Stimme. »Ich hab schon einen ganzen Kopfkissenbezug voll.«

»Was?« Heino konnte sich nicht zurückhalten. »Was haben Sie im Kopfkissenbezug?«

»Heino«, sagte Mama vorwurfsvoll, und Heino schämte sich.

»Entschuldigung«, sagte er nur, schlich aus dem Zimmer und begann eifrig, eines der schon aufgeräumten Regale neu zu ordnen.

In dem Augenblick kam Jaan zurück. Er war aufgeregt, das merkte man. Er habe Ilmar in der Stadt getroffen, berichtete er. Der Anführer sei sehr wütend. Heino schauderte und kauerte sich auf dem Fußboden hinterm Ladentisch zusammen.

»Ich hab gesagt, daß es dir leid tut und daß du dich entschuldigen willst.«

»Aber das will ich doch gar nicht«, protestierte Heino.

»Du mußt es wollen!« Jaan stürzte sich auf ihn und kniff ihn, daß es weh tat.

Heino biß die Zähne zusammen. Er wollte auf keinen Fall jammern. Jaan wurde immer wütender, schüttelte ihn und schrie, daß er tun müsse, was die anderen wollten.

Mama kam angestürzt. »Was ist denn mit euch los? Ich muß mich ja schämen euretwegen!«

Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Schämen war ein schreckliches Wort für Heino. Er wollte sich nicht schämen, und Mama sollte sich auch nicht schämen müssen.

»Ich will«, preßte er hervor. »Es tut mir leid. Sag das Ilmar und den anderen!«

Jaan wurde ganz ruhig. »Du hast es gut«, sagte er. »Du bist noch so klein, dir vergibt man immer. Und wenn du eine Dummheit machst, wirst du auch noch von Papa gelobt.«

Mama sah plötzlich so merkwürdig aus. Das ertrug Heino nicht länger. Er lief hinaus, und er hörte Jaan hinter sich rufen: »Warte, Heino! Warte auf mich!«

Mama ließ die Jungen laufen. Es war Nachmittag, und da durften sie draußen spielen. Sie mußten nur zu Hause sein, wenn Mama von der Arbeit kam.

»Wir müssen zusammenhalten, Jungs«, sagte Mama zur Schlafenszeit. »Was auch geschieht, wir müssen zusammenhalten. Versprecht mir das!«

Natürlich versprachen sie es. Aber Heino lag lange wach und dachte darüber nach, warum er das versprechen mußte. Es war doch selbstverständlich, daß sie zusammenhielten, Jaan, er, Mama und ...

»Papa!« rief er laut aus.

Aber er hatte offenbar nicht laut genug gerufen, denn Mama reagierte nicht. Nur Jaan boxte ihn in die Seite. »Kannst du nicht still sein?«

Er mußte eingeschlafen sein. Plötzlich wurde er wach und hörte Stimmen. Die Tür zum Schlafzimmer war angelehnt, und im schwachen Licht sah er, daß Mamas Bett leer war.

Vorsichtig stupste er Jaan an. »Wach auf, Jaan. Da draußen reden welche. Das klingt wie ...« Er wagte das Wort nicht auszusprechen.

Jaan richtete sich auf und lauschte. »Papa!« rief er und stürzte aus dem Zimmer, dicht gefolgt von Heino.

Ja, es war Papa! Mit ausgebreiteten Armen stand er da. Darin war Platz für beide Jungen. Und für Mama!

»Ich habe mich dumm benommen«, sagte er, und seine Stimme zitterte ein bißchen. »Entschuldigung! Ich werde euch nie mehr verlassen. Ihr seid doch das Liebste, was ich habe.«

»Und jetzt wollen wir das vergessen«, sagte Heino. Dabei versuchte er, Papas Stimme nachzuahmen. Er hatte gedacht, Papa würde sich freuen, und er verstand nicht, warum Papa Tränen in den Augen hatte.

Die Ragulka-Bande

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