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Papa war bei der Freiwilligen Feuerwehr, und darauf war er sehr stolz. »Muttersöhnchen können nicht Feuerwehrmann werden«, pflegte er zu sagen. An bestimmten Sonntagen marschierten die Feuerwehrleute in ihren hübschen Uniformen durch die Straßen der Stadt.

Am Sonntag nach der Rede des Präsidenten sollte wieder eine Parade stattfinden. Die ganze Familie hatte alle Hände voll zu tun. Die Uniform mußte gelüftet und ausgebürstet werden. Das machte Mama. Der Helm mußte geputzt werden. Das machte Papa selbst. Und die Stiefel mußten gewienert werden, bis sie glänzten. Das war die Aufgabe der Jungen.

Das Schuhputzzeug lag in einer Kiste unter der Spüle. Dort gab es Lederfett, Lappen und Bürsten in doppelter Ausführung. Die Jungen putzten und rieben, als gelte es das Leben.

Es gehörte dazu, daß Papa die erste Putzarbeit nicht anerkannte. Dann blieb ihnen nichts anderes übrig, als von vorn anzufangen. Mit großer Spannung erwarteten sie sein endgültiges Urteil, nachdem er die Stiefel ins Licht gehalten und sehr genau gemustert hatte.

»So ist es gut«, sagte er endlich. »Was bin ich doch für ein Glückspilz! Keiner von den anderen Feuerwehrleuten hat so tüchtige Schuhputzer im Haus wie ich.«

Mama und die Jungen zwinkerten einander zu und taten so, als ob sie das zum erstenmal hörten.

»Es ist nämlich wichtig, daß gerade ich ordentlich geputzte Stiefel habe«, erklärte er, wie er das an jedem Paradesonntag tat. »Die Leute müssen am Glanz erkennen, daß die Stiefel dem Schuhmacher Juhan gehören.«

»Dem Schuhhändler Juhan«, sagte Mama dann. Das gehörte auch dazu. Damit Papa Gelegenheit bekam, bescheiden zu erzählen, daß er wahrhaftig als einfacher Schuhmacher begonnen, sich aber emporgearbeitet habe. Jetzt besaß er eine eigene Werkstatt und einen eigenen Laden. Zusammen mit seinem Bruder Kaljo.

Die Parade begann unten bei der Feuerwache und endete nach einer Runde durch die Stadt auf dem Rathausplatz. Die Feuerwehrleute und das Orchester marschierten genau an ihrem Haus in der Langen Straße vorbei.

Als die Jungen noch kleiner waren, stand Mama mit ihnen immer am Fenster vom Nachbarn, weil ihre eigenen Fenster nicht zu dieser Straße hinausschauten. Die Jungen fanden, es war der Höhepunkt der Parade, wenn sie sich hinauslehnen und »Papa, Papa!« schreien durften, so laut sie konnten.

Jetzt liefen die Jungen, wohin sie wollten. Meistens trafen sie sich mit der Bande auf dem Marktplatz. Sie hüteten sich, hier Papa zu schreien. Das war kindisch. Aber Heino fand es eigentlich schade, daß er Papa nichts mehr zurufen durfte.

»Hoffentlich gibt es keine Scherereien«, sagte Mama, als Papa sich hingestellt hatte, um den Abschiedskuß von Frau und Kindern entgegenzunehmen.

»Das trauen die sich nicht«, antwortete Papa. »Sei ganz ruhig.«

Heino sah Jaan fragend an. Der schüttelte langsam den Kopf. Heino verstand. Es war am besten, man tat so, als hätte man nichts gehört und ging zum Rathausplatz, um selbst zu sehen und zu hören.

Im Land herrscht Unruhe, hieß es. Auf jeden Fall herrschte Unruhe in der Stadt. Das spürten sogar die Kinder. Die Eltern waren keine große Hilfe. Sie beruhigten einen dauernd. Keine Gefahr! Macht euch keine Sorgen! Der Krieg ist weit weg. In Estland herrscht Frieden.

Die Lehrer redeten ungefähr genauso. Der Oberlehrer sprach mit ihnen über den Friedensvertrag. Für Heino ein schweres Wort.

»Der Frieden von Tartu am 2. Februar 1920«, sagte der Oberlehrer mit feierlicher Stimme. »Vergeßt ihn nicht! Da einigten sich Rußland und Estland, in Frieden miteinander zu leben. Hört mal zu!«

Und er sprach es ihnen auswendig vor: »... erkennt Rußland bedingungslos die Unabhängigkeit und Selbständigkeit des estnischen Staates an und verzichtet freiwillig und für ewige Zeit auf seine souveränen Rechte, die früher für Rußland und Estland und ihre Völker galten. – Für ewige Zeit! Habt ihr das gehört? Ihr könnt ganz beruhigt sein. Die Russen lassen uns in Frieden.«

In der Schule war Heino beruhigt, wenn der Lehrer das alles erklärte. Jetzt waren Russen und Esten Freunde. Sie hatten versprochen, sich nie mehr zu streiten. Rußland war nicht mehr ihr Feind. Die ganze Sowjetunion war ihr Freund!

Aber außerhalb der Schule hörte er andere Stimmen. Er wußte nicht, was er glauben sollte.

Was war nun mit der Parade? Mama machte sich Sorgen, und Jaan war unsicher. Papa sagte natürlich, daß alles in Ordnung war. Heino fand es beunruhigend, daß Mama und Jaan nicht derselben Meinung wie Papa waren. Und er beschloß, auf Papas Seite zu sein.

Die alten Männer marschierten auf den Rathausplatz. Ja, man sagte tatsächlich alte Männer, obwohl sie ja noch gar nicht so alt waren. Der Platz war gesäumt von Menschen, die in dichten Reihen standen, und alle klatschten Beifall und schrien Hurra. Ein Orchester spielte, und es war unmöglich, still zu sein. Jaan und Heino standen natürlich mit den Kameraden zusammen. Heute war es die große Bande: die Ritter der Ober- und der Unterstadt. Sie stampften den Takt mit den Füßen und klatschten in die Hände.

Plötzlich rief jemand so laut, daß es über den ganzen Platz zu hören war: »Ein Hoch auf Estland!«

»Hurra, hurraaa!« schrien die Jungen, bis sie heiser waren. Es machte solchen Spaß, Hurra zu schreien – wieder und wieder. Sie schrien sich alle Sorgen aus dem Leib. »Ein Hoch auf Estland – in Ewigkeit – hurra, hurra!«

Hinten bei der alten Apotheke stand eine Gruppe Menschen, die rote Fahnen schwenkten. Je mehr Hurra geschrien wurde, um so heftiger wurden die Fahnen geschwenkt.

Vello bemerkte sie als erster. »Guckt mal«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf sie.

»Wieso haben die rote Fahnen?« fragte Heino erstaunt.

Von Toomas kam eine Antwort, die Heino noch mehr erstaunte: »Die roten Fahnen sind die Zukunft von Estland.«

Das war eine merkwürdige Behauptung und doch nicht so merkwürdig, weil sie von Toomas kam. Neuerdings sagte er häufig merkwürdige Sachen.

Das Programm auf dem Rathausplatz war zu Ende. Die Freiwillige Feuerwehr marschierte weiter. Irgendwann würde die Parade bei der Feuerwache unten am Busbahnhof enden. Viele folgten dem Zug, aber manche blieben auf dem Marktplatz stehen und unterhielten sich, bis es Zeit war, zum Mittagessen nach Hause zu gehen. Jaan und Heino wollten Papa eigentlich folgen, aber als die anderen Jungen sich nicht vom Fleck rührten, blieben sie auch.

Bei der Apotheke hatten sich viele Leute versammelt. Die kleine Gruppe mit den roten Fahnen war umringt. Von dort waren Stimmen zu hören. Böse und aufgebrachte Stimmen. Die Jungen stürzten dorthin. Für ein Kind ist es kein Kunststück, sich zwischen den Erwachsenen hindurchzudrängeln. Es dauerte gar nicht lange, da standen sie ganz vorn in dem Kreis, der sich um die Fahnengruppe gebildet hatte.

Heino schaute sich um. Einen von den Männern erkannte er. Vorsichtig drehte er den Kopf, um zu sehen, ob seine Kameraden ihn auch erkannten. Aber die standen mit unbewegten Gesichtern da und glotzten nur.

Über Heinos Kopf schwirrten ärgerliche und verzweifelte Stimmen. Das hier muß ich verstehen, dachte er. Ich muß. Es ist wichtig, und diesmal darf ich nicht zu klein dafür sein.

Plötzlich wurde er aus seinen Überlegungen gerissen, weil sich die Gruppe hastig auflöste. Berittene Polizei näherte sich, und niemand wollte in die Sache hineingezogen werden. Die Jungen auch nicht. Rasch verdrückten sie sich in die schmale Gasse neben der Apotheke. Als sie außer Sichtweite waren, blieben sie stehen.

»Toomas«, platzte Heino heraus, »das war ja dein Vater!«

»Na und?« brüllte Toomas, und niemand wagte mehr, etwas zu sagen.

Die Ragulka-Bande

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