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Alle redeten über das polnische U-Boot. Frau Ambros, die Witwe des Hausmeisters, klopfte schon in aller Herrgottsfrühe an die Tür. Sie hatte die Neuigkeit in den Nachrichten gehört und gab sie sofort an die Mieter im ersten Stock weiter, weil niemand außer ihr ein Radio hatte.

Auch in der Schule verbreitete sich die Nachricht schnell. Der Oberlehrer rief alle Schüler der Schule zusammen.

»Vermutlich weiß niemand, wie das polnische U-Boot in estnisches Fahrwasser geraten ist«, sagte der Lehrer. »Vielleicht war es auf der Flucht vor den Deutschen, die ja ganz Polen besetzt halten. Vielleicht haben es auch die Deutschen zum Spionieren ausgeschickt.«

Wie es auch gewesen sein mochte, das estnische Militär war wachsam gewesen. Estland war ein freies Land. Kein fremdes U-Boot durfte in estnische Gewässer eindringen.

Die Kinder strafften sich. Es war ein schönes Gefühl, den Lehrer sagen zu hören, daß keine fremden Mächte die Grenzen ihres Landes ungestraft verletzen konnten. Begeistert folgten sie seiner Aufforderung, aufzustehen und die estnische Nationalhymne zu singen.

»Estland, Estland, teures Heimatland!« deklamierte der Oberlehrer, sobald sie mit Singen fertig waren. Er las ihnen ein langes vaterländisches Gedicht vor. Es war ziemlich anstrengend, still zu stehen und sich Vers für Vers anzuhören, und viele Wörter waren schwer verständlich.

Aber ihre Geduld wurde belohnt. Danach führten die Lehrer ihre Schüler in die Klassenräume und ließen sie malen und zeichnen, was sie wollten.

»Ich will ein U-Boot zeichnen«, sagte Heino. »Wie sieht ein U-Boot eigentlich aus? Und kann es wirklich unter Wasser fahren?«

Die Lehrerin hatte wahrscheinlich damit gerechnet, daß diese Frage gestellt wurde. Sie holte ein Buch mit Bildern von verschiedenen Schiffen aus der Tasche.

Am Nachmittag wollte niemand nach Hause gehen. Alle zog es zum Hafen, in der Hoffnung, das U-Boot zu sehen. Aber sie reckten ihre Hälse vergebens. Das U-Boot war bereits weggebracht worden.

Die Jungen waren unschlüssig und mißmutig. Was sollten sie jetzt anfangen? Die alten Spiele machten keinen Spaß mehr. Ilmar schlug vor, U-Boot zu spielen.

Toomas versuchte, die Führung zu übernehmen, aber Ilmar behauptete sich. Es war seine Idee gewesen, und kein anderer durfte die Führung an sich reißen. Widerwillig ließen Toomas und seine Bande sich darauf ein, die Rolle des polnischen U-Boots zu übernehmen, während Ilmar und seine Gruppe die estnischen Verteidiger darstellten.

Sie hatten viel Spaß bei dem Spiel, vor allem deshalb, weil niemand richtig wußte, wie es eigentlich ging.

Nach einer Weile kam jemand auf die Idee, daß das U-Boot sich natürlich auf Fahrt begeben müßte, und es wurde beschlossen, daß die U-Boot-Gruppe versuchen sollte, vom Hafen aus den Feuerwehrpark zu erreichen. Die andere Gruppe, die Verteidiger der Küste, würden sich am Weg verstecken und versuchen, die U-Boot-Gruppe gefangenzunehmen.

Aber die Verteidiger der Küste waren zu viele, zwei mehr als die U-Boot-Besatzung. Rasch wurde entschieden, daß Heino zur anderen Gruppe wechseln sollte. Niemand kümmerte sich um seine Proteste. Er war der Kleinste, und er mußte gehorchen.

Nachdem Ilmar und sein Trupp sich auf den Weg gemacht hatten, diskutierte Toomas mit seinen Leuten, wie sie sich verhalten sollten. Vello erklärte, daß sie ein Periskop brauchten. Von seinem Vater wußte er, daß man die Zielfernrohre auf U-Booten so nannte.

»Ich nehm Heino auf die Schultern«, beschloß Ants, der auch zur U-Boot-Mannschaft gehörte.

Die anderen faßten einander um die Taillen und stützten den Kopf gegen den Rücken des Vordermannes. Zusammen waren sie vierzehn, es wurde also ein langes U-Boot.

Heino gefiel es auf Ants Schultern. Er fühlte die Verantwortung und hielt eifrig Ausschau. Er mußte den Feind rechtzeitig entdecken. Ihr U-Boot bekam Schlagseite, und die Leute drehten sich nach ihnen um und lächelten. Aber Ants fing an zu jammern. Das Periskop war zu schwer!

In dem Augenblick sah Heino, wie sich etwas in einem Hauseingang bewegte. Das war eindeutig ein Jungenkopf, der sich vorstreckte und dann rasch zurückzog. Heino steckte beide Zeigefinger in den Mund, und zufrieden stellte er fest, daß sein Warnsignal scharf und laut klang.

Ilmars Mannschaft nahm die Niederlage an und versammelte sich um das U-Boot. Alle konnten sich ein bißchen ausruhen, und dann wechselte Olev als Geisel zur anderen Mannschaft, und das Spiel begann von vorn.

Zu Hause beim Mittagessen erzählten Jaan und Heino gleichzeitig und fielen sich gegenseitig ins Wort. Aber die Eltern hörten kaum zu. Sie waren selbst randvoll mit Neuigkeiten und erzählten einander, was ihre Arbeitskollegen und andere Leute gesagt und gemeint hatten.

Das beschlagnahmte U-Boot aus Polen war die Sensation des Tages. Alle waren stolz auf die Verteidiger des Landes. Um so größer waren Scham und Erstaunen, als sich später das Gerücht verbreitete, das U-Boot sei verschwunden. Ihm sei die Flucht gelungen, und die estnischen Bewacher an Bord wären gezwungen worden, mitzukommen. Aber das war noch nicht das Schlimmste.

Papa war blaß, als er am Abend nach Hause kam. Er hatte schreckliche Neuigkeiten gehört. Es ging um geheime Beschlüsse, die eigentlich nur einige wenige kannten. Aber selbst geheimste Geheimnisse pflegen durchzusickern. Es gibt immer jemanden, der den Mund nicht halten kann.

Die Sowjetunion wollte sich nicht länger darauf verlassen, daß Estland die Grenzen auf See sichern konnte. Papas Stimme zitterte, als er sagte: »Deswegen hat die sowjetische Flotte den estnischen Teil des Meeres unter Beschuß genommen. Habt ihr das gehört? Unter Beschuß – es ist nicht zu fassen!«

Die Rote Flotte war vor der Küste Estlands. Papa wiederholte immer wieder, es sei nicht zu fassen. Mama versuchte, ihn wie üblich zu beruhigen, und bat ihn, an die Jungen zu denken.

Aber Papa unterbrach sie ärgerlich. Was jetzt geschah, war so empörend, daß man nicht schweigen durfte. Es müßte auf allen Straßen und Plätzen ausgerufen werden. Alle, vom Säugling bis zum Greis, müßten es erfahren!

Jaan und Heino saßen still da und lauschten. Sie fühlten sich plötzlich viel älter. Sie begriffen, daß es auch sie anging, was Papa da erzählte.

»Es geht um Estlands Freiheit!« rief Papa, daß es nur so dröhnte.

Mama sah sich ängstlich um. »Schrei lieber nicht so laut«, sagte sie leise. »Man weiß ja nie, wer noch zuhört.« Es war, als ob sie spürte, daß noch Schrecklicheres geschehen würde.

Während Jaan und Heino am nächsten Tag niedergedrückt waren, war Toomas um so fröhlicher. Schon auf dem Schulhof verhöhnte er Ilmars Bande. Hatte Ilmar immer noch Lust, U-Boot zu spielen? Vielleicht wollte seine Bande jetzt die polnische Seite übernehmen und die andere Mannschaft die estnischen Wachen spielen lassen?

»Toomas«, sagte Jaan, »das Spiel macht keinen Spaß mehr.«

»Wenn die Russen nun unser Land besetzen!« sagte Olev ängstlich.

Toomas war empört. Woher er das habe, daß die Russen Estland einnehmen wollten?

»Das sagen doch alle«, antwortete Olev lahm, und Toomas wurde noch wütender.

»Idiot! Bei euch zu Hause wird wohl ziemlich viel Mist geredet. Ihr könnt ja nicht mal zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden.«

Alle Schüler, die während der Pause auf dem Schulhof waren, kamen neugierig näher und hörten aufmerksam zu. Salme wagte es, sich gegen Toomas aufzulehnen. In verächtlichem Ton forderte sie ihn auf, die große Wahrheit zu verkünden. Wenn er sie wüßte!

Anstatt aufzubrausen, antwortete Toomas ganz ruhig. Er bemühte sich, die anderen zu überzeugen. Alle Esten sollten der Sowjetunion dankbar sein, denn ohne ihren Schutz hätten die Deutschen Estland wahrscheinlich längst geschluckt. Genau wie Polen.

»Aber Papa sagt«, begann Heino eifrig – und im selben Augenblick stolperte Jaan und riß Heino im Fallen mit sich.

»Oh, entschuldige!« Jaan war rasch wieder auf den Beinen. Er klopfte sich und den kleinen Bruder ab und erklärte: »Papa hat gesagt, daß wir Kinder nicht soviel reden sollen. Wir wissen ja sowieso nicht, wie es wirklich ist.«

Die Pause war zu Ende, und das fanden alle nur gut. Die Diskussion auf dem Hof hatte sie beunruhigt. In der nächsten Stunde saß Heino in Gedanken versunken da und hörte nicht, was die Lehrerin sagte. Wie war das nur gekommen, daß Jaan genau in dem Augenblick hingefallen war, als Heino gerade erzählen wollte, was Papa von der russischen Flotte hielt?

Ich bin zu klein, dachte Heino mißmutig. Immer bin ich zu klein. Aber wartet nur! Ich werde noch schlauer als ihr alle zusammen!

Die Ragulka-Bande

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