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Auf der Welt herrschte Krieg. Aber der Krieg war weit weg und ging sie nichts an, fanden die Kinder. Jeden Tag sprachen die Lehrer von den neuesten Kriegsereignissen, und jedesmal versicherten sie den Schülern, daß sie nichts zu befürchten hätten. Estland war frei »für ewige Zeit«.

»Hitler und Stalin«, sagten sie oft. Heino fand, die Namen klangen wie Katzennamen, und das sagte er in einer Pause. Ants und Vello protestierten. Das durfte er nun wirklich nicht von den großen Führern Deutschlands und der Sowjetunion sagen. Jaan kniff ihn unbemerkt in den Arm, und Heino begriff, daß es besser war, den Mund zu halten. Aber innerlich raste er. Natürlich war er jedesmal dankbar, wenn Jaan ihn rettete, trotzdem war er verzweifelt und wütend. Es machte nichts, daß er wegen der Körpergröße der Kleinste war, aber er haßte es, daß er am wenigsten verstand.

Wenn die Schule aus war, gingen die Schüler selten geradewegs nach Hause. An diesem Tag wollten sich die Ragulka-Ritter beim Fahrradhändler treffen und Fahrräder leihen. Aber Heino bekam plötzlich Lust, in Studes Bäckerei zu gehen und Keksbruch zu kaufen. Jaan war einverstanden, aber sie hatten kein Geld. Deshalb beschlossen sie, erst mal Papa in der Werkstatt zu besuchen.

Unterwegs kamen sie an der Synagoge, dem Gotteshaus der Juden, vorbei, die direkt neben dem kleinen Park schräg gegenüber von ihrem Haus in der Langen Straße lag. Jedesmal, wenn sie daran vorbeikamen, schauten sie nach, wieviel Geld dort lag. Fromme Juden blieben häufig vor der verschlossenen Tür der Synagoge stehen, sprachen ein paar Gebete und steckten Geld in den Briefschlitz in der Tür.

Die Jungen hatten längst herausgefunden, daß man die Münzen auf dem Fußboden glänzen sehen konnte, wenn man sich auf den Bauch legte und durch die Ritze zwischen der Unterkante der Tür und dem Fußboden guckte. Natürlich lagen dort sehr viele kleine Münzen, aber es gab auch mehrere Ein-Kronen-Stücke und sogar ein Zwei-Kronen-Stück.

Das mußte man sich mal vorstellen – zwei Kronen!

Papa war schlechter Laune. Das Estonia-Theater hatte Stiefel, Schuhe und Lederhandschuhe für ein Stück bestellt, das in einem Monat Premiere haben sollte. Und nun war Konstantin krank geworden, einer der beiden Gehilfen. Wie sollten er, Kaljo und Oskar es schaffen, rechtzeitig zu liefern? Keksbruch? Hatten sie denn nichts anderes im Kopf als ungesunde Süßigkeiten? Papa schnaubte ärgerlich.

Heino spielte mit ein paar Blechstücken, die auf einem Tisch in der Werkstatt lagen. Papa brüllte ihn an, er solle nichts anfassen. Aus reinem Trotz steckte sich Heino ein ziemlich großes Stück Blech in den Pullover. Und dann ging er, ohne sich von Papa zu verabschieden.

»Ich hab gesehen, daß du ein Stück Blech genommen hast«, sagte Jaan draußen auf der Straße. »Was willst du damit?«

»Wer weiß, wozu es noch gut ist«, antwortete Heino und blieb plötzlich stehen. Sie waren genau vor der Synagoge. Heino hatte das Blechstück hervorgeholt, und die Jungen sahen einander an. Sie verstanden sich, ohne ein Wort zu wechseln.

Heino wartete. Jaan sah sich um und nickte schließlich.

Das Stück Blech war gerade dünn genug, daß man es unter der Tür durchschieben konnte. Dünn genug, um es unter eine Münze zu schieben, und stabil genug, um die Münze hinaufzubefördern und vorsichtig hervorzuziehen.

»Was macht ihr da, Kinder?« hörten sie plötzlich eine Stimme über ihren Köpfen.

Sie schossen hoch und standen Auge in Auge mit einer älteren Dame. Jaan sah aus, als würde er im nächsten Augenblick in Ohnmacht fallen. Also mußte Heino eine Erklärung finden.

»Ich hab ein Geldstück verloren«, sagte er. »Zwei Kronen. Mama hat uns zum Bäcker geschickt. Und da ist mir die Münze aus der Hand gerutscht und davongerollt. Aber wir haben sie gefunden!«

Zum Beweis hielt er das Geldstück hoch, und die Dame nickte und lächelte. »Dann ist es ja gut«, sagte sie und ging weiter.

Studes Bäckerei in der Langen Straße war das Paradies für alle Kinder der Stadt. Schon daran vorbeizugehen war wunderbar. Himmlische Düfte drangen heraus, und die konnte man genießen, soviel man wollte – ganz umsonst. Man konnte auch gucken, ohne daß es etwas kostete. Große Schaufenster, gefüllt mit Leckereien aus Marzipan, Schokolade und Zuckerwerk.

Die Fenster lagen ziemlich hoch, und kleine Kinder konnten nicht ohne Hilfe hineinschauen und sich die Herrlichkeiten ansehen. Aber Studes hatten an die Kleinen gedacht. Unter einem der Fenster war eine Eisenstange in die Hauswand gemauert. Einige Zentimeter über dem Bürgersteig, gerade hoch genug, daß die Kinder hinaufklettern, sich am Fenstersims festhalten und die Nase gegen die Fensterscheibe drükken konnten.

In diesem Fenster stellte man natürlich immer genau das aus, was Kindern gefiel. Jaan und Heino hatten oft dort gestanden. Es war der Gipfel des Glücks, wenn man ein bißchen Geld bekam und hineingehen und sich Keksbruch kaufen konnte. Meistens hatten die Kinder nicht mehr als fünf oder zehn Cent. Aber jetzt besaßen sie ein ganzes Zwei-Kronen-Stück!

Für so viel Geld bekamen sie nicht nur jeder eine Tüte mit Bruch, sondern auch noch eine ziemlich große Tüte mit ganzen Keksen. Selbstverständlich nahm Jaan die Tüte mit den ganzen Keksen entgegen, während Heino die Tüten mit dem Bruch tragen mußte. Im Eiltempo ging es hinunter zum Fahrradhändler.

Das wurde ein Fest! Alle umringten sie. Es war Jaans großer Augenblick. Jeder durfte vorsichtig in die Tüte greifen.

Heino stand daneben und hüpfte auf der Stelle. »Ihr dürft jeder nur einen nehmen«, sagte er von Zeit zu Zeit.

Jeder nahm nur einen Keks, trotzdem reichte es nicht für alle. Enttäuscht stellten Jaan und Heino fest, daß sie selbst keinen Keks abbekamen und daß sie sogar denen, die auch keine bekommen hatten, aus der Tüte mit dem Keksbruch anbieten mußten.

Plötzlich sagte Toomas: »Jaan und Heino sind gute Kameraden. Danke!«

Die anderen guckten sich ein wenig verlegen an. So feierlich benahmen sie sich sonst nicht. Was war denn in Toomas gefahren?

Die Bande hatte offenbar irgend etwas diskutiert, bevor Jaan und Heino mit den Kekstüten gekommen waren, denn jetzt rief Ants plötzlich, daß sie sich entscheiden müßten.

»Was meint ihr?« fragte Ilmar. »Soll jetzt Schluß sein mit den Rittern aus der Ober- und der Unterstadt?«

»Ja«, riefen mehrere.

Aber Heino schrie natürlich: »Warum?«

Alle versuchten, es gleichzeitig zu erklären, und es war schwer, ihnen zu folgen. Schließlich begriffen Jaan und Heino, daß es einigen kindisch vorkam, Ritter zu spielen. Und dumm! Es reichte ja, daß die deutschen Ordensritter Estland vor langer Zeit erobert und regiert hatten, wie sie wollten. In Tallinn waren sie in zwei Lager gespalten gewesen, in jene, die im oberen, und jene, die im unteren Teil der Stadt wohnten. Es war doch idiotisch, diese Ritter nachzuahmen, die behaupteten, sie kämpften für Gott und Jesus, aber in Wirklichkeit an ihren eigenen Reichtum dachten.

Plötzlich schämten sich alle. Wie hatten sie nur so dumm sein können?

»Wir könnten uns in Ritter und Esten aufteilen«, sagte Ilmar nachdenklich. »Aber wer möchte schon Ritter sein und gegen die Esten kämpfen?«

»Und wenn wir uns abwechseln?« schlug Heino vor.

»Wir können uns in zwei andere Gruppen aufteilen, in Rote und Weiße. Dann werden wir ja sehen, wer am besten ist«, sagte Toomas.

Alle waren sich einig, daß es jetzt Schluß war mit dem Ritterspiel. Aber die Roten und die Weißen? Das klang nicht besonders reizvoll. Doch sie mußten sich ja nicht sofort entscheiden.

Papa war besserer Laune, als sie sich beim Mittagessen trafen. Er wollte wissen, was die Jungen in der Schule gemacht hatten. Das übliche, erzählten sie. Rechnen und Lesen. Singen und Geschichte.

»Und dann haben wir natürlich über den Krieg geredet«, sagte Jaan.

»Das machen wir jeden Tag«, ergänzte Heino. »Aber die Lehrer sagen, wir brauchen keine Angst zu haben. Hier gibt es keinen Krieg.«

Das glaubten die Eltern auch. Sie sagten ungefähr dasselbe wie die Lehrer. Mama fand es schrecklich, daß Völker einander bekämpften.

Aber Papa wandte ein: »Manchmal ist man dazu gezwungen. Wie die Welt heutzutage aussieht, ist es am besten, vorbereitet zu sein.«

»Will denn jemand gegen uns Krieg führen?« fragte Heino.

»Ich fürchte, ja«, antwortete Papa. »Aber es ist ganz sinnlos, daß sie es überhaupt versuchen.«

»Was kann das kleine Estland schon tun?« Mama seufzte.

»Eine ganze Menge. Wir haben Waffen und Munition, Artilleriegeschütze und Panzer.«

»Ach, wir wollen nicht mehr vom Krieg reden«, sagte Mama.

Damit war Jaan nicht einverstanden. »Und Flugzeuge haben wir auch«, sagte er.

»Und ob! Aber das Wichtigste, Jungs, wißt ihr, was das ist?«

Nein, das wußten sie nicht. Nicht einmal Mama.

Triumphierend hielt Papa die Antwort einen Augenblick zurück. Schließlich kam sie wie eine Explosion. »Soldaten! Mutige estnische Soldaten! Wir werden uns bis zum letzten Blutstropfen verteidigen.«

Die Ragulka-Bande

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