Читать книгу Maud und Aud - Gunstein Bakke - Страница 13

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AUD UND MAUD STREICHEN MIT DEN FINGERKUPPEN über die dünnen blauen Striche in den Armen. Im Spital ist nichts gesund und nichts tot. So ist Kranksein. Der Spitalgeruch unterscheidet nicht zwischen Leben und Tod, alles ist gleich, krank. Medizin ist dasselbe wie Gift. Medizin ist das Metall in der Luft, das Gelbe in den Augen und die Schwere in den Haarspitzen über der Haut. Das ganze Spital ist betäubt, ein Zustand von Schläfrigkeit, Erwachen bedeutet reinen Schmerz.

Die Geräusche sind hier anders als an allen Orten, an denen sie bisher waren. Rundum hören sie Magnetklicken und Luftdruckhauchen, wenn Schranktüren auf- und zugehen, mit einem dumpfen Wehen entfalten sich Leintücher in der Luft, um dann über Matratzen gespannt zu werden; Körper um Körper bleichen diese Leintücher aus, nutzen sie ab, bis man durch sie hindurchsehen kann wie durch Gaze. Ein anderes Knacksen hören sie in den Kehlen alter Leute, in ihren Rollstuhlspeichen auf dem Korridor. Angstvolle Vokale klettern in die Nächte, als kämen sie aus einer ach so tiefen Schlucht. Tagsüber gibt es das Schlurfen und das Knirschen der Krücken, das Ploppen, wenn Plastiktüten geöffnet werden oder die Metallfolie der Tablettenverpackungen platzt. Aber vor allem hören Aud und Maud die Stille, gegen die die Laute überall anstoßen. Im Leintuchausschütteln und Klicken und Knacksen, in den manchmal aufseufzenden Wänden und in widerspenstigen Handschuhen, wenn Hände sie sich überziehen wollen, im Schuhsohlenscheuern auf Epoxidharzböden und dem Arterienklemmenklirren an Rollwägen; in alldem zeigt sich die Stille. Denn die Geräusche finden keinen Einlass in die massive Stille. Sie werden zurückgedrängt, müssen für sich bleiben, werden ausgeschlossen. Die Stille ist etwas, das den Atem anhält und doch nie atmen muss. Die Stille ist auf eine neue Art gefährlich, gefährlich wie der leere Raum unter dem Bett, nicht wie das schwache Kratzen in ihm. Jetzt werden sie sicher nicht mehr in den alten Betten schlafen, wenn Aud repariert ist und sie bei Hjalmar und Karry wohnen werden. Aber einen leeren Raum wird man nur schwer los.

Die Mädchen erwachen und spüren ihren eigenen Atem nicht. Sie glauben, sich im Innern der Stille zu befinden, aber nur, bis neue Laute auftauchen. Sie schließen die Augen, um zu sehen, ob es im Dunkeln stiller ist und hören den Puls wie einen Zug in der Ferne. Sie schauen einander ins Gesicht. Dort ist es bei Maud stiller als bei Aud.

Es ist besser, im Innern der Stille zu sein als außerhalb.

Aud beschließt, so still zu sein, wie sie nur kann.

Auf alles, was anklopft, zu horchen.

Dass Aud nicht mehr sprechen, nicht mehr antworten will, schafft Unruhe. Wenn sie die Sprache verloren hat, muss ihr geholfen werden, sie wiederzufinden. Die Krankenschwestern wollen, dass sie ihnen nachspricht, die Namen der Tiere sagt, die sie auf einer Tafel zeigen, auch die Lippen in ihren Gesichtern bewegen sich wie ein Tier, ein Wurm, wenn sie die Worte formen, die sie sagen soll. Schwan und Spatz. Hase und Fuchs, Bieber und Bär. Das ist die Welt, antwortest du der Welt? Aud sieht, wie sich der Lippenwurm bewegt, er hat weder Kopf noch Schwanz, nur einen Körper, einen ringförmigen Körper, die Laute, die aus dem Ring kommen, ziehen durch den Raum; auch sie prallen an der Stille ab, Dösigkeit rammt sie, sie beginnen, sich zu wiederholen, ein ums andere Mal, bis sie nicht mehr zusammenhalten können, einander in Bahnen immer schneller umschwirren. So lösen sie sich von den Wörtern und die Wörter lösen sich von den Dingen, den Zeichnungen, und wenn das geschieht, öffnet sich ein Wald.

Im Wald ist es kühl und blau. Es ist ein uralter Wald, begreift Aud, ein Wald, der immer da war und sich ihr jetzt geöffnet hat. Wie ein Schrank aufgehen, eine Tür aufgleiten kann. Der Wald heißt Wales, und zwar so, wie das Wort in der Zeitung und auf dem Fernsehbildschirm aussieht: W a l e s. Wales ist eigentlich farblos und doch blau und ein bisschen orange. Das Blau kommt von den Bäumen, nicht vom Himmel, dort oben ist kein Himmel. Sie merkt, dass ihre Mutter in dem Wald ist, irgendwo hinter ihr, während sie nur dasteht und die andere Welt ansieht, die Lautwelt, die abgewiesene Welt, aber sie kann sich nicht umdrehen und die Mutter sehen. Sie ist da, wie ein kühler Luftzug im Nacken, in der Nähe der Stämme rundum. In einem kleinen Schmerz im Handgelenk.

Aud weiß: Jetzt ist sie im Innern der Stille.

Und so alt wie hier ist die Mutter nie gewesen.

Während Aud zwischen den Stämmen in der Stille steht, liegt sie auch im Bett neben einem Rollwagen mit Schachteln und Medikamenten. Maud nestelt an dem kleinen Sortiment herum, das sich hier zusammendrängt, einer Anhäufung von Pillen und braunglasigen Flaschen mit maschinengeschriebenen Etiketten; im matten Widerschein der gebürsteten Stahlplatte wirkt ihre Haut wie gelber Belag, und dieser Belag, der nur ein Abglanz ist, ist auch ein Teich, den Aud vom alten Wald aus sieht. Ein Teich aus gelbem Schmieröl, auf dem Garagenboden. Bis in den Wald riecht es nach diesem Öl, nach feuchtem Zement und eingeschlossener Motorhaube. Maud kann diesen Geruch nicht riechen. Aud kann ihr nicht davon erzählen, nicht von Wales und der Mutter. Maud steht mit ihrem stillen Gesicht mitten in der sprechenden Welt, und Aud kann nicht sagen: Komm.

Aud hebt eine Hand und kratzt in der Luft.

Am Abend, unterwegs in den Schlaf, fünf Rillen Blut in den Augenlidern. Männer und Frauen kommen zu ihr, setzen sich und sprechen, gehen umher und sprechen, testen verschiedene Bewegungen, mit denen sie die Worte in Schwung versetzen, um eine Frequenz zu finden. Aud hört jetzt, dass ihre Stimmen große Decken sind, die die Wörter unter sich begraben. Die Stimmen sind eine andere Haut, die sofort rubbelig und klumpig wird. Andere Besucher probieren es mit Stille, entschließen sich aktiv für Stille, als wollten sie mit Aud mit-schweigen oder als versuchten sie, etwas zu hören, das zu hören sie nicht gewohnt sind, bevor sie, als wäre es abgesprochen, ihrer Wege ziehen.

Darin sind sie sich einig: Etwas stimmt nicht mit Auds Tempo. Wie kann man wiederfinden, was jetzt verlorengeht, weil es gar nicht entsteht, weil ihm sein natürlicher Gang in die Welt abhandenkommt? Eine sich öffnende Kluft ist ein unheimlicher Anblick. Techniken gegen das Entgleiten sind vonnöten. Großmutter Karry hat einige der alten Spielsachen dabei, Puppen, Stoffesel, Lebenslinien zum alten Dasein, Aud holt sie zu sich ins Bett. Es stört die Spielsachen nicht, dass sie schweigt.

Nichts weiß mehr über Stille als sie.

Maud und Aud

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