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Das Publikum mochte gar nicht aufhören, Beifall zu spenden. Keinen hielt es mehr auf seinem Sitz, alle standen aufrecht, reckten die Hälse, klatschten schreiend in die Hände, skandierten Stephatons Namen. Ordnungskräfte sorgten dafür, dass niemand auf die Bühne stürmte, was in der Vergangenheit schon vorgekommen war: Nur mit Mühe hatte man Stephaton vor dem Erstickungstod unter weiblichen Umarmungen bewahren können. Und jetzt hing er sogar hilflos am Kreuz.

„Macht mich los!“, rief er den anderen zu, aber die ließen sich alle Zeit der Welt. Der Beifall galt ja auch ihnen, also wurden sie nicht müde, sich artig vor dem johlenden Publikum zu verbeugen. Endlich erbarmten sich Gelon, Selenos und Schapur über den Hingerichteten, zogen mit vereinten Kräften das Kreuz aus der Bodenhalterung, legten es behutsam hin und lösten die Stricke von seinen Gelenken.

Die letzten Momente des Schauspiels hatte Stephaton Todesängste ausgestanden. Er hatte kaum noch atmen können, in seinen Gliedern tobte ein entsetzlicher Schmerz. Wie gelähmt fühlte er sich, nachdem er von seinen Fesseln befreit worden war. Nicht einmal einen Finger vermochte er zu bewegen. Unsäglicher Durst quälte ihn, für einen Schluck Wasser hätte er alles gegeben.

„Du kannst jetzt aufhören zu sterben“, raunte Gelon ihm grinsend zu, „es ist vorbei. Du darfst wieder leben, mein Junge. Steh auf, lass dich feiern, du hast es verdient.“

Gelon glaubte wohl, dass er nicht Abschied von seiner Rolle nehmen wollte. Sahen diese Kerle denn nicht, wie sehr er litt, wie nahe er dem Tod war? „Helft mir auf“, stammelte er mühsam.

Gelon und Schapur packten ihn unter den Armen, hievten ihn auf die Beine und merkten, wie schwach er war. Schon wieder drohte er zusammenzuklappen.

„Bei allen Sirenen, lass dich nicht so hängen“, sagte Gelon aus dem Mundwinkel heraus, indem er weiter in die applaudierende Menge lächelte, „wir haben dich nicht wahrhaftig gekreuzigt.“

Das empfand Stephaton anders. Dennoch musste er sich zusammenreißen, sonst würde man anderntags nicht über das Stück reden, sondern über seine peinliche Ohnmacht. Zum Glück spürte er seine Lebensgeister allmählich zurückkehren. Endlich gelang es ihm, den Zuschauern zuzuwinken, ohne dass seine Gefährten ihn stützen mussten. Der Applaus war ohrenbetäubend, gewiss hörte man ihn in ganz Tiberias.

Sara! Vergeblich suchte er sie in der Zuschauermenge. Hatte sie das Theater verlassen? Er hatte es geahnt, das Stück war bestimmt nicht nach ihrem Geschmack gewesen. Was er gut verstehen konnte. Ob sie draußen wenigstens auf ihn wartete? Der Gedanke, sie heute nicht mehr zu sehen, war so fürchterlich wie die Kreuzigung.

Eugenia schien genau zu wissen, was durch seinen Kopf ging. Sie nahm seine Hand, um sich mit ihm gemeinsam vor dem Publikum zu verbeugen. „Ich sah sie aus dem Theater gehen, nachdem man dich zum Kreuzestod verurteilte. Den Anblick wollte sie sich wohl ersparen. Ich bin sicher, sie liebt dich.“

Das war der schönste Spruch des Abends, ausgerechnet aus Eugenias vulgärem Mund. Wenn er nur wahr wäre. Bis jetzt hatte er Sara seine Liebe noch nicht offen gestanden, aber er war fest entschlossen, das so rasch wie möglich nachzuholen. Und letztlich war er froh, dass sie ihn in diesem Moment nicht sehen konnte, wie er sich, mit einem albernen Lendenschurz bekleidet und von oben bis unten mit Kälberblut beschmiert, dem Applaus dieser ekstatischen Menschen hingab.

Als die Ovationen endlich nachließen, zogen sich die Mimen ins Bühnenhaus zurück. Gelon war bester Stimmung.

„Was habe ich gesagt?“, jubilierte er. „Die Zeit war reif für so etwas. Ihr wart wunderbar, Leute, wunderbar!“ Er schnappte sich die jauchzende Eugenia und presste gierig seine Lippen auf die ihren. „Wo ist der Wein?“, rief er.

Den Weinschlauch hatte Stephaton angesetzt, um seinen unmenschlichen Durst zu stillen. Weil er gar nicht mehr aufhören wollte zu trinken, riss Schapur ihm den Schlauch aus den Händen. „Sachte, Gekreuzigter, deine Henker haben auch Durst.“ Er nahm ein paar Schlucke und ließ den Wein die Runde machen.

„Alle Griechen Galiläas werden zu uns ins Theater strömen“, prophezeite Gelon. „Selbst von der anderen Seite des Sees werden sie kommen. Man wird das Theater ausbauen müssen.“ Vor Freude legte er ein Tänzchen hin. „Die römischen Mimen aus Sepphoris sind ein Dreck gegen uns, erbärmliche Dilettanten. Wir werden jeden Abend spielen, jeden Abend, hört ihr? Selbst der alte Antipas wird uns sehen wollen, nachdem er uns so lange ignoriert hat. Stephaton, Goldjunge, lass dich umarmen!“

Stephaton ließ die überschwänglichen Liebkosungen über sich ergehen. Woher Gelon die Überzeugung nahm, sie seien mit der Aufführung dieses derben Stücks zum Mittelpunkt der Theaterwelt geworden, blieb ihm ein Rätsel, doch seine Gedanken waren ohnehin woanders: Wenn Sara noch da draußen war, wollte er sie nicht länger warten lassen.

In diesem Augenblick aber betrat Chares, der Besitzer des Theaters, die Garderobe. Er war ein schmächtiger Mann mit dem Gehabe eines Basarhändlers.

„Gratuliere zu der grandiosen Vorstellung“, sagte er salbungsvoll.

Gelon packte ihn jovial bei der Schulter. „Hörst wohl schon die Münzen klingen, was, Chares?“

„Das ist Sinn und Zweck eines Theaters. Da draußen verlangt jemand Stephaton zu sprechen.“

„Heute nicht. Mein bester Mime braucht jetzt seine Ruhe. Dafür muss jeder Verständnis haben.“

„Und wenn es ein Bote der edlen Fausta Decila ist?“

„Dann ist das selbstverständlich etwas anderes. Bestimmt dieser ungehobelte Riese, wie ich annehme.“ Gelon zwinkerte in die Runde. „Wir wollen uns doch nicht die Gunst der edlen Fausta verscherzen, nicht wahr?“

„Auf gar keinen Fall!“ Eugenia schenkte Stephaton einen bedauernden Blick. „Sie wird nicht eher Ruhe geben, bis du sie eines Tages beglückt hast, Junge.“

Was immer sie damit meinte, Stephaton wäre am liebsten geflüchtet. Vielleicht hätte er das auch getan, wenn seine Glieder nach der überstandenen Tortur nicht so schwer gewesen wären.

Der Sklave der edlen Fausta Decila, ein ehemaliger Gladiator, überragte selbst Stephaton um Haupteslänge. Fausta Decila hatte bekanntermaßen gern stattliche Männer um sich. Das mochte – neben der Bewunderung für einen herausragenden Schauspieler – der Grund sein, weshalb sie so viel Interesse an Stephaton zeigte. Dieses Interesse hatte sich freilich bis heute nur darin geäußert, dass sie ihm Aufmerksamkeiten in Form von Münzen oder Früchtekörben zukommen ließ. Diesmal aber stand der Gladiator mit leeren Händen da.

„Brennus!“ Gelon lächelte gezwungen. „Was gibt es Neues im Land der unbesiegbaren Helden?“

Jener Brennus beachtete ihn nicht, er wandte sich geradewegs an Stephaton. „Die edle Fausta Decila will dich sehen!“ Er sprach lateinisch mit dem hartem Akzent der Barbaren, wahrscheinlich war er ein Kelte oder Germane, wer konnte das schon unterscheiden? In Rom, wusste Stephaton, beschäftigte jeder reiche Römer, der etwas auf sich hielt, einen germanischen oder keltischen Leibwächter. Auch Herodes Antipas, der Tetrarch, hielt sich ein paar Söldner aus diesen Gegenden.

Eugenia pfiff leise durch die Zähne, aber auch das wollte der Gladiator nicht zur Kenntnis nehmen. „Sie erwartet dich morgen zur sechsten Stunde in ihrer Villa!“

Was bildete sich diese Römerin eigentlich ein? Nur zu gern hätte Stephaton ihr durch den Muskelprotz ausrichten lassen, sie solle ihn gefälligst in Ruhe lassen, aber Gelons warnender Blick hieß ihn schweigen. Ohnehin schien Brennus nicht auf eine Antwort zu warten, denn schon hatte er kehrtgemacht und stapfte davon.

Als er verschwunden war, kicherte Eugenia in die Hand. „Die edle Fausta wird dich ganz schön verwöhnen, du Glückspilz. Sie hat kochendes Blut, sagt man.“

Stephaton funkelte sie an. „Schade, dass ich nicht darüber lachen kann.“

„Du musst es deiner kleinen Jüdin ja nicht auf die Nase binden“, beschwichtigte sie ihn, während sie die Nadeln eine nach der anderen aus ihrer Turmfrisur zog. Wallend fielen die dunklen Haare über ihre Schultern. Hartnäckig weigerte sie sich nämlich, Perücken zu tragen.

„Nun, Laureolus? Wirst du ihre Einladung annehmen?“, fragte Schapur mit unverschämter Neugier.

„Nein, du syrischer Esel!“

„Und ob du gehen wirst!“ Das klang wie eines von Gelons berüchtigten Machtworten. Meistens galten sie Eugenia oder Schapur, hin und wieder auch dem ruhigen Selenos, diesmal aber war es exklusiv an Stephaton gerichtet, den besten seiner Mimen, was nach der heutigen Vorstellung einmal mehr deutlich geworden war.

„Ach ja?“ Trotzig hob Stephaton das Kinn. „Seit wann bestimmst du, Gelon, mit wem ich mich abseits der Bühne treffe?“

Gelon sah ein, dass er behutsamer, weniger herrisch vorgehen musste. Je tüchtiger die Mimen, desto empfindlicher waren sie, niemand wusste das besser als er. „Junge“, sagte er sanft, „Faustas Gunst kann uns nur von Nutzen sein. Wenn wir sie verärgern, wird sie nicht mehr ins Theater kommen. Mit ihr werden dann auch jene den Vorstellungen fernbleiben, auf die sie Einfluss hat.“

Selenos nickte. „Das sind nicht wenige.“

„Was die beiden damit sagen wollen“, warf Eugenia spöttisch ein, „ist Folgendes: So mancher üppige Geldsegen würde künftig ausbleiben, wenn du dich weigerst, der Fausta schöne Augen zu machen.“

Verdrossen schüttelte Stephaton den Kopf. „Die edle Fausta ist verheiratet, was wollt ihr eigentlich von mir?“

„Sie ist verheiratet“, prustete Eugenia. „Hui, das hätten wir beinahe vergessen.“

Gelon legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wegen ihres senilen Gatten mach dir keine Sorgen, seine Lenden sind tot wie Aas. Die Ehe mit Fausta ist ein Zweckbündnis: Caepio ist steinreich, Fausta ist betörend – bitte sehr. Mit wem sie es treibt, bekommt der alte Knochen schon lange nicht mehr mit. Und wenn doch, dann ist es ihm vermutlich egal.“

„Aber was will sie nur von mir?“, wand sich Stephaton. „Sie hat doch ihren Gladiator.“

„Nicht nur den“, grinste Schapur.

Gelon holte tief Luft, jetzt war Geduld gefragt. „Sieh dir deine beiden nichtsnutzigen Kollegen hier an: Sie würden zwei Jahresgagen hergeben, wenn sie nur einen Tag lang Faustas Liebhaber sein dürften.“

„Eine halbe Jahresgage, mehr nicht“, widersprach Schapur nach kurzem Abwägen.

„Sei so gut und besuch sie“, fuhr Gelon flehentlich fort. „Sie wird dich nicht fressen, mein Junge. Sie ist ein verwöhntes Ding, und wenn sie erst einmal bekommen hat, was sie will, dann wird sie dich in Ruhe lassen. So sind sie halt, diese römischen Weiber.“

Eugenia pflichtete ihm bei. „Wie Katzen, die nach einer Weile die Lust daran verlieren, gefangene Mäuse zu quälen.“

„Ich bin ein Mime, kein Lustknabe“, beharrte Stephaton, aber Gelon ließ nicht locker.

„Du machst dir zu viele Gedanken! Bestimmt will sie nur plaudern. Oder einen Becher Wein mit dir trinken.“

Schapur wollte aus vollem Hals lachen, aber Gelon sorgte mit einem vernichtenden Blick dafür, dass er still blieb.

„Geh zu ihr, verärgere sie nicht. Wirst du das tun? Mir und uns allen zum Gefallen? Bitte, mein Junge!“

Stephaton kaute auf einem Mundwinkel und sah Eugenia an. Die nickte knapp.

„Na schön, ich gehe hin. Euch zum Gefallen.“ Immerhin blieb ihm noch Zeit genug, sich zu überlegen, wie er ihr begegnen konnte. „Aber denkt nicht, dass sie mit mir machen kann, was sie will.“

Das war Gelons geringste Sorge. Wen Fausta bezirzte, den kümmerte sein früheres Geschwätz nicht länger. Dem erging es wie Marcus Antonius, nachdem ihm Kleopatra über den Weg gelaufen war.

„Guter Junge!“ Er wuschelte Stephaton durchs Kraushaar.

„Ich muss gehen!“ So gut seine zurückkehrenden Kräfte es zuließen, kleidete Stephaton sich an. Für die nächsten Vorstellungen sollten sie sich gefälligst etwas überlegen, wie man eine Kreuzigung erträglicher gestaltete, wenn sie keinen Krüppel aus ihm machen wollten. Eugenia half ihm in Chiton, Mantel und Sandalen.

„Wo willst du denn hin?“, wollte Gelon wissen.

„Was glaubst du denn wohl, du unromantischer Kerl?“, antwortete Eugenia an Stephatons Stelle.

„He, Laureolus!“, rief Schapur, mit einem feuchten Schwamm wedelnd. „Willst du dich nicht zuerst waschen, bevor du deine jüdische Freundin aufsuchst? Sie könnte sich sonst vor dir ekeln.“

„Gib her!“ Eugenia langte nach dem Schwamm und wischte Stephaton notdürftig das Kälberblut aus dem Gesicht. Für den verliebten Jüngling hatte sie größtes Verständnis. Zum Schluss gab sie ihm einen Kuss auf die gesäuberte Stirn.

„Auf, mein Guter – bevor es dunkel wird!“

„Und denk daran …“

Aber Stephaton war schon weg, bevor Gelon den Satz zu Ende bringen konnte. Er wollte jetzt nur noch einen Menschen sehen und hören. Aber das erwies sich als schwierig, denn wie gewöhnlich lauerten viele seiner getreuen Verehrerinnen ihm vor dem Theater auf. Sein Anblick sorgte für Gekreische; junge Mädchen, aber auch Frauen mittleren und fortgeschrittenen Alters umkreisten ihn, ebenso ein paar Jünglinge, deren Augen nicht weniger glänzten. Manch einer wollte ihm etwas in die Hand drücken, Süßigkeiten, Blüten, Haarlocken.

Stephaton reagierte unwirsch. „Lasst mich in Frieden!“, schrie er sie an. Das hatte er noch nie getan, geduldig und auch stolz hatte er die Huldigungen stets über sich ergehen lassen. Doch die schmerzhafte Kreuzigung, Faustas Impertinenz sowie Gelons fragwürdige Sicht der Dinge hatten ihm die Laune gründlich verdorben.

Immerhin, sie ließen ihn ziehen, ohne sich an seine Fersen zu heften, verwundert über die Feindseligkeit ihres sonst so umgänglichen Lieblings.

Mit jedem Schritt, den er sich vom Theater entfernte, lebte Stephaton auf. Falls Sara wirklich auf ihn wartete, würde er sie am Ufer des Sees finden, jenseits des Südtors. Dort lag ihr Treffpunkt.

Eine knappe Stunde noch, dann würde es dunkel sein über Galiläa. Eine Bande raufender Gassenjungen war so sehr mit ihren Händeln beschäftigt, dass sie Stephaton keine Beachtung schenkten. Welche Wohltat. Anders der Wächter am Südtor, der ihn erkannte und ein Schwätzchen anfangen wollte. Stephaton ließ ihn stehen, denn jede Sekunde, die er Sara noch sehen konnte, war kostbarer als Gold.

Schon von Weitem sah er sie auf einem Felsstein am Ufer sitzen. Versonnen blickte sie auf den spiegelglatten See hinaus, auf dem noch Fischerboote unterwegs waren. Stephaton fühlte sich erleichtert, weil sie da war, zugleich war er aufgeregt, viel aufgeregter als vor einer Aufführung. Während er den von dürren Sträuchern gesäumten Pfad herabstieg, dachte er darüber nach, mit welchen Worten er sie begrüßen sollte. Ringsumher zirpten Heerscharen von Zikaden. Im Schein der untergehenden Sonne lag eine rote Glut über dem Gewässer, kein Windhauch kräuselte seine Oberfläche. Auch die steilen Bergwände auf der anderen Seite des Sees schienen in Flammen zu stehen.

Alles brennt, alles … selbst mein Herz!, dachte Stephaton, als Sara sich lächelnd zu ihm umwandte.

Die neunte Stunde

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