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In Kapernaum, einem lebhaften Fischerort am Nordufer des Sees, kauften sie in einem Laden unweit des Fischerhafens einen Brotfladen für den Heimweg. Für den wurde es höchste Zeit, wenn sie bis Einbruch der Dunkelheit wieder daheim sein wollten. Wie im Flug war ihnen die Zeit vergangen. Die Türme von Tiberias waren in der Ferne auszumachen, doch der Weg dorthin kein Katzensprung, wie ihnen auch ihre müden Füße signalisierten.

„Wo wollt ihr denn hin?“, fragte sie der Ladenbesitzer, ein alter Mann mit langem Bart.

„Nach Tiberias“, antwortete Stephaton.

„Dann seid ihr also nicht gekommen, um den Rabbi zu hören?“

„Den Rabbi?“

Aus dem Hintergrund rief die Frau des Händlers: „Siehst du nicht, dass er ein Grieche ist?“

Aber Sara war hellhörig geworden. „Sprichst du von dem Rabbi namens Jesus?“

Der alte Händler nickte knapp.

„Ist es wahr, dass er Wunder vollbringen kann?“

Er musterte sie argwöhnisch. „Wer fragt das? Eine Jüdin?“

„Das siehst du doch“, sagte wiederum seine Frau.

„Wo ist der Rabbi? Predigt er? Bitte, ich würde ihm gern zuhören.“

Der Alte und seine Frau wechselten einen fragenden Blick, als gelte es abzuschätzen, ob die jungen Leute weiterer Auskünfte würdig seien. Offenbar waren sie das: „Vorhin waren zwei seiner Jünger hier, um Brote und Früchte zu kaufen“, erklärte der Alte. „Sie sind bei den Hügeln vor dem Dorf, wo der Rabbi heute wieder predigen wird. Inzwischen kommen sogar Leute aus Judäa und Idumäa hierher, um ihn zu hören.“

Sara griff nach Stephatons Hand. Flehend sah sie ihn an. „Ich würde ihn so gerne hören, Liebster!“

Liebster! Es war das erste Mal, dass sie ihn so nannte. Umso schwerer fiel es ihm, zu widersprechen. „Wir müssen gehen, wenn wir abends zu Hause sein wollen.“

Die Frau des Händlers machte einen überraschenden Vorschlag. „Hört ihn an, und ihr werdet Dinge erfahren, die euch sprachlos machen. Wenn es spät wird, dann nächtigt ihr bei uns.“

„Ihr würdet einen Heiden beherbergen?“, fragte Stephaton nicht ohne Spott.

„Nichts wird mehr sein, wie es war“, entgegnete die Alte geheimnisvoll.

„Ich spüre es deutlich, ich muss ihn sehen“, flüsterte Sara.

Er nahm sie beiseite. „Deine Eltern werden sich Sorgen machen. Und was sollen sie von mir denken?“

„Ich muss ihn sehen!“

Hatte sie ihm überhaupt zugehört? Doch ein Blick in ihre Augen machte ihm klar, dass sie sich nicht umstimmen lassen würde. Also gab er nach. Ob er ihr jemals etwas ausschlagen könnte?

„Na schön, Tabita! Gehen wir.“

Der Händler erklärte ihnen den Weg, dann zogen sie los.

„Vielleicht geht er ja eigens für uns noch einmal übers Wasser“, scherzte Stephaton, aber zu seinem Befremden ging Sara nicht darauf ein: Gedanklich schien sie weit weg zu sein. Erstaunlich viele Menschen waren unterwegs, die es zu dem Ort zog. Mit einem jungen Mann, der kaum älter sein konnte als er selbst, kam Stephaton ins Gespräch.

„Habt ihr den Meister schon einmal predigen gehört?“

Stephaton schüttelte den Kopf. „Für uns ist es heute das erste Mal. Und du? Kennst du diesen Rabbi?“

„Ich bin sein Jünger“, kam es stolz zurück.

„Was du nicht sagst. Stimmt es, dass er übers Wasser laufen kann?“

Der junge Mann legte die Stirn in Falten. „Du bist ein Grieche!“

„Und du bist ein Jude.“

„Bist du gekommen, um zu sehen, wie er Wunder vollbringt?“

„Wäre das falsch?“

„Seine Sendung besteht nicht darin, die Menschen mit Zaubereien zu entzücken.“

Diese Juden, ob jung oder alt, konnten sehr reizbar werden, wenn sie sich herausgefordert fühlten. Vor allem, wenn es um ihren Glauben ging. Gleichwohl fand Stephaton den Gedanken, dass es nur einen einzigen Gott gäbe, durchaus überlegenswert. Wie albern waren doch die Götterwelten der Griechen und Römer. Man durfte nur nicht darüber mit einem Juden diskutieren.

„Eigentlich sind wir zufällig hier. Ehrlich gesagt habe ich nicht die geringste Ahnung, was mich erwartet. Worauf müssen wir uns denn gefasst machen?“

„Auf Fleisch gewordenes Wort“, beantwortete der skeptisch dreinschauende Jünger seine Frage.

„Ah! Ja, so etwas in der Art hatte ich mir schon gedacht: Fleisch gewordenes Wort, gewiss doch.“

Sara erwachte aus ihrer Schweigsamkeit. „Bitte, Liebster. Spotte nicht!“

Der Jünger schien es nun eilig zu haben. „Entschuldigt mich, der Meister wartet.“ Flink lief er ihnen voraus.

Jenseits von Kapernaum erhoben sich grüne Hügel. Auf einem von ihnen hatte sich eine beträchtliche Menschenmenge versammelt. Darüber war Stephaton verwundert, denn die Behauptung des Ladenbesitzers, die Menschen kämen sogar aus fernen Gegenden, um den Rabbi zu hören, hatte er für blanke Übertreibung gehalten. Noch mehr überraschte es ihn, als er einen Römer erblickte. Einen Römer hätte Stephaton hier am wenigsten erwartet, es sei denn als Bestandteil einer militärischen Einheit. Dieser Römer aber kam nur in Begleitung eines Dieners und trug weder Helm, Waffen, noch Brustpanzer. Dennoch musste es sich um einen altgedienten römischen Offizier handeln. Einen solchen hätte Stephaton auch erkannt, wenn dieser nackt dahergekommen wäre. Wollte er etwa ohne Schwert und ohne Truppen für Ordnung sorgen? Fürchtete er sich nicht, all diesen Juden schutzlos ausgeliefert zu sein? Bekanntlich hassten sie ihre römischen Besatzer. Doch niemand schien ihm zu misstrauen, ganz im Gegenteil: Manche grüßten ihn herzlich, heitere Worte in aramäischer Sprache wurden gewechselt.

Stephatons Neugier wuchs. Wenn sich schon dieser römische Soldat aus freien Stücken hierher bemühte, um einem Rabbi zu lauschen, dann durfte man einiges erwarten. Alles pilgerte hinauf zur Hügelkuppe – also sollten sie versuchen, einen guten Platz zu ergattern, damit ihnen nichts entging. Stephaton nahm Sara an der Hand, um sie abseits eines verstopften Trampelpfades rasch und sicher zu führen. Sie war erschöpft, aber sie klagte nicht.

Noch bevor sie oben anlangten, traten ihnen zwei Männer entgegen und wiesen ihnen Plätze zu. Stephaton vermutete weitere Jünger des Rabbis in ihnen. In Gruppen setzten sich die Leute ins Gras und harrten der Dinge. Stephaton nahm das Brot, das er gekauft hatte, um es mit Sara zu teilen. Schweigend aßen sie, während rundherum immer noch Menschen herbeiströmten. Unmittelbar neben ihnen ließen sich der Römer und sein Bursche nieder.

„Müsstest du seine Reden mittlerweile nicht auswendig kennen, Hauptmann?“, fragte einer der Jünger den Römer.

„Vielleicht bin ich ja diesmal gekommen, um mir deine Unverschämtheiten anzuhören, Petrus.“

Die Männer grinsten sich an.

„Freut mich, deinen Diener wieder bei dir zu sehen.“

Der Römer klopfte dem Jungen auf die Schulter. „Er ist munter wie ein Fisch im Wasser!“, erwiderte er mit der schneidenden Stimme eines befehlsgewohnten Mannes.

Stephaton ließ den Blick umherschweifen. Die Menschen wirkten mehrheitlich aufgeregt, als würde Jahwe gleich persönlich vom Himmel kommen, um sie zu lehren. So waren sie, die Juden. In ihrem Leben gab es nichts Ernsteres als Religion, undenkbar für einen Griechen oder Römer. Von seinem Nebenmann, den jener großschnäuzige Jünger mit dem merkwürdigen Namen Petrus als Hauptmann bezeichnet hatte, vielleicht einmal abgesehen, denn auch ihm war eine gewisse Spannung anzumerken. Er besaß alle Attribute, die man einem Zenturio nachsagte, einschließlich einer Unzahl von Narben in seinem sonnengegerbten Gesicht. Seine private Anwesenheit an diesem Ort war allemal merkwürdig. Auch der junge Diener wirkte nachdenklich und in sich gekehrt, nicht gerade munter wie ein Fisch im Wasser, wie sein Herr behauptet hatte, aber auch nicht krank.

Zu ihrer Rechten glitzerten die Wellen des türkisblauen Sees in der Ferne, und über allem spannte sich ein mit weißen Wolken gespickter Himmel. Ein sanfter, angenehmer Windhauch strich über den Hügel.

Vorn entstand Bewegung. Ein Mann in einer weißen Tunika trat in Erscheinung, flankiert von sechs, sieben weiteren Männern: Das musste Jesus sein!

Seine Begleiter hockten sich ins Gras, er selbst blieb stehen, die Gespräche ringsumher gingen in Geraune über und verstummten bald ganz. Stephaton sah Sara an. Leicht geöffnet wie zu einer Frage war ihr Mund, während sie Jesus musterte, der seinerseits mit ruhigem Blick die Versammelten in Augenschein nahm. Stephaton schätzte, dass es an die tausend Menschen waren, die den Weg hierher gefunden hatten.

Noch mehr überrascht war er von dem Rabbi, auf den sich die allgemeine Aufmerksamkeit konzentrierte: Er hatte sich einen Greis mit wallendem Bart vorgestellt. Jesus aber war ein Mann in seinen besten Jahren und zählte allenfalls dreißig. Obwohl er noch kein Wort gesprochen hatte und auch keine Anstalten machte, die Leute mit Gesten oder Mienenspiel für sich einzunehmen – worauf ein Mime niemals verzichtet hätte –, ging etwas Gewinnendes, ja Mächtiges von ihm aus, ohne dass Stephaton dies konkret hätte begründen können. Auch konnte er sich nicht erinnern, dieses Gefühl beim Anblick eines Menschen je empfunden zu haben. Jesus, so viel stand fest, besaß eine Ausstrahlungskraft, der man sich kaum entziehen konnte.

Den anderen Versammelten erging es nicht anders, wenn man ihre berührten Gesichter betrachtete. Einem wie diesem jungen Rabbi sagte man wohl schnell Wunder nach. Stephaton glaubte nun zu wissen, wieso es Leute gab – Juden, wohlgemerkt –, die gesehen haben wollten, wie er übers Wasser ging. Spätestens von diesem Moment an wusste Stephaton, dass er nicht allein Sara zuliebe hier war. Er selbst war begierig zu erfahren, was Jesus all diesen Menschen zu verkünden hatte.

Als der Rabbi endlich zu sprechen begann – auch dies tat er ohne spektakuläre Geste – war es, als sei seine Stimme ein Teil der Landschaft. Sie war kein eindringliches Rufen, und doch war sie klar und deutlich, dass selbst die Zuhörer am Fuß des Hügels sie noch vernehmen mussten. Er sagte: „Selig, die da arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich.“

Die Menschen lauschten gebannt. Während Stephaton noch versuchte, den Sinn dieser Worte für sich zu entschlüsseln, fuhr Jesus fort.

„Selig, die Leid tragen, denn sie werden getröstet werden. Selig die Gewaltlosen, denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit: Sie sollen satt werden!“

Was redete dieser Mann? Der Nichtjude Stephaton war des Aramäischen mächtig genug, um die Ungeheuerlichkeit der Worte zu erahnen.

„Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen.“

Atemlose Stille herrschte zwischen den Sätzen, niemand wagte es auch nur zu hüsteln, damit keines seiner Worte verloren ging. Jesus hatte begonnen, langsam durch die Reihen zu schreiten. Hier und dort blieb er stehen, um seinen Zuhörern direkt in die Augen zu schauen. Er wirkte nicht streng oder herrisch, sein Blick war mild und zugleich energisch, er war keiner von diesen Straßenphilosophen, die in Tiberias oder anderen Städten Galiläas mit viel Geziere ihre vermeintlichen Weisheiten verkündeten.

„Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Himmelreich.“

Stehenbleibend breitete er die Arme aus, selbst dies geschah ohne Theatralik. „Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen oder verfolgen: Euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn schon vor euch wurden auch die Propheten verfolgt.“

Erstmals erntete der Rabbi einen missbilligenden Ruf aus der Menge. Ein Mann, der das mit Quasten besetzte Gewand eines Pharisäers trug, rief etwas von Gotteslästerung. Jesus ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Unmittelbar vor Stephaton und Sara blieb er stehen.

„Ihr seid das Salz der Erde.“ Stephaton kam es vor, als lächelte er sie an, während er ihnen in die Augen blickte. Galten diese Worte ihnen? War das seine persönliche Botschaft an sie? Er spürte sein Herz laut pochen. Saras Hand lag in der seinen, wie gebannt hing sie an den Lippen des Rabbis.

„Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit lässt es sich dann wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr und wird von den Leuten zertreten. Salz und Licht seid ihr, das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf dem Berg liegt, bleibt nicht verborgen. Man zündet ja auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel. Vielmehr stellt man das Licht auf einen Leuchter, damit es allen im Haus leuchten kann.“

Jesus nahm seinen Gang wieder auf.

„Mit wessen Vollmacht redest du, Jeschua ben Joseph?“, rief der Pharisäer.

Offensichtlich legte er es auf ein Streitgespräch mit dem Prediger an, der in der Gegend längst zu einer Berühmtheit geworden war. Mühelos hielt Jesus seinem Blick stand, doch die Antwort galt allen Versammelten. Seine Stimme verlor etwas von ihrer Sanftheit, sie klang nun eindringlicher, mahnender.

„Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin gekommen, um zu erfüllen. Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, wird im Himmelreich der Kleinste sein. Groß aber wird der sein, der die Gebote hält und auch halten lehrt. Wenn also eure Gerechtigkeit nicht größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“

Dem Pharisäer blieb der Mund offen stehen. Einige lachten schadenfroh, aber Jesus brachte sie durch ein Kopfschütteln zum Schweigen. Als wieder Ruhe eingekehrt war, fuhr er fort: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein. Wer seinen Bruder beschimpft, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein. Und dem Feuer der Hölle soll der verfallen sein, der seinen Bruder einen gottlosen Narr nennt.“

Nun wurde der Ton also rauer. Dieser Jesus schien den Leuten keineswegs Honig um den Mund schmieren zu wollen. Das machte ihn für Stephaton noch interessanter. Jesus wusste genau, was er wollte, er scherte sich nicht darum, ob seine Ansichten den Anwesenden gefielen. Ohne das geringste Anzeichen von Unsicherheit gingen ihm die Worte über die Lippen. Er hatte bestritten, die Gesetze der Alten aufheben zu wollen, doch als er aus den heiligen Schriften der Juden zitierte, fügte er etwas Ungeheuerliches hinzu: Ich aber sage euch!

War der Missmut des Pharisäers nicht verständlich? Stephaton wusste zu wenig über die jüdische Religion, aber er stellte sich vor, dass allein der sogenannte Messias, auf den die Juden warteten, solche Worte hätte aussprechen dürfen. War Jesus anmaßend? Hielt er sich für eben diesen Messias? Viele Juden glaubten, dass er kommen würde, um sie vom Joch der römischen Herrschaft zu befreien. Wusste das auch sein Sitznachbar, der Zenturio? Und Sara – was dachte sie als Jüdin über dies alles? Stephaton hätte ihr gern etwas zugeflüstert, traute sich aber nicht, denn sie wirkte ähnlich entrückt wie die übrige Menge, der Römer und dessen Diener eingeschlossen. Was immer Sara in diesem Moment auch empfinden mochte, Empörung war es nicht.

Ich aber sage Euch!

Mehrmals kam Jesus dieser Satz noch über die Lippen. Und die Menschen, die ihm zuhörten, sollten aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.

Jesus sprach über die Ehe. Ehebruch beginne bereits, so behauptete er, wenn ein Mann eine andere Frau lüstern ansehe. Einige der Anwesenden senkten den Blick vor ihm. Jesus schien in ihren Gedanken lesen zu können.

„Nur weil ihr hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, Scheidungsurkunden auszustellen. Ich aber sage euch: Wer seine Frau aus der Ehe entlässt, liefert sie dem Ehebruch aus. Zu Beginn der Schöpfung schuf Gott die Menschen als Mann und Frau: Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch.“

„Du stellst dich über Mose?“, rief der Pharisäer fassungslos. „Ich schwöre, das sollst du bereuen!“

Jesus blieb stehen und sah zu ihm hinüber. „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Schwöre keinen Meineid! Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht, weder beim Himmel, denn er ist Gottes Thron, noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel für seine Füße, noch bei Jerusalem, denn es ist die Stadt des großen Königs. Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein. Alles andere stammt vom Bösen.“

Der Pharisäer, unfreiwillig zum Stichwortgeber degradiert, hatte genug gehört. Wutentbrannt stapfte er davon. Auch einige andere verließen den Ort – vielleicht Ehebrecher, dachte Stephaton amüsiert. Es gab nicht viel, was jüdische Frauen, die von ihrem Ehemann vor die Tür gesetzt wurden, dagegen unternehmen konnten. Für solche Frauen hatte sich Jesus soeben nachdrücklich eingesetzt. Und offenbar sah er sich autorisiert, sogar die uralten Vorschriften des Mose zu relativieren. Kein Wunder, dass dies bei Strenggläubigen – und auch bei den Engstirnigen – Unwillen hervorrief.

„Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch Böses zufügt, keinen Widerstand. Schlägt dich jemand auf die rechte Wange, dann halt ihm auch die linke hin.“

Seinen Gang hatte er wieder aufgenommen. Sara drückte Stephaton fest die Hand, und ihm war, als spürte er das Glück, das warm durch ihrer beider Körper strömte. Wieder näherte sich ihnen der predigende Rabbi, doch diesmal verharrte er vor dem Römer.

„Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Liebe deinen Nächsten und hasse deinen Feind! Ich aber sage euch: Liebt auch eure Feinde und betet für eure Verfolger, damit ihr Söhne eures himmlischen Vaters werdet. Tut denen Gutes, die euch hassen, und segnet jene, die euch verfluchen, betet für die, die euch misshandeln.“

Stephaton musste schlucken. War es Zufall oder Absicht, dass er diese Worte in unmittelbarer Nähe eines römischen Offiziers aussprach? Musste es für die Juden nicht eine ungeheuerliche Zumutung sein, den Feind und Besatzer zu lieben? Seine Forderungen wurden immer unfassbarer. Auf Vergeltung zu verzichten war eine Sache, seinen Feind zu lieben beinahe unmöglich. Seine Predigt war eine Provokation, doch niemand stöhnte auf. Manchen liefen Tränen über die Wangen.

„Dem, der dir den Mantel nimmt, lass auch dein Hemd. Gib jedem, der dich bittet, und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlange es nicht zurück. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Ihr aber sollt vollkommen sein, wie auch euer himmlischer Vater vollkommen ist.“

„Herr, lehre uns beten!“

Jesus suchte die Ruferin in der Menge, und als seine Augen sie fanden, huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

„Gut gesprochen, Maria“, hörte Stephaton den Zenturio anerkennend flüstern.

„Wenn ihr betet, plappert nicht wie die Heiden. Glaubt nicht, dass Gott euch nur dann erhört, wenn ihr viele Worte macht. Noch ehe ihr ihn bittet, weiß euer Vater im Himmel, was ihr braucht. So sollt ihr beten:

Unser Vater im Himmel, dein Name sei heilig. Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf der Erde. Gib uns das Brot, das wir brauchen. Erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern rette uns vor dem Übel.“

Jesus schwieg, damit seine Worte nachwirken konnten. Manche Lippen formulierten stumm das vernommene Gebet. Einer der Jünger, der die ganze Zeit über Notizen auf ein Wachstäfelchen geschrieben hatte, nutzte die Gelegenheit, um verschnaufend innezuhalten. Wieder fegte ein warmer Windhauch über die Köpfe der Versammelten. Der Duft blühender Lilien lag in der Luft.

Tiberias? Was war das für ein Ort, wo lag er? Hier, auf diesem Hügel vor Kapernaum, hier, wo er an der Seite des Mädchens saß, das er liebte, und der Predigt dieses erstaunlichen Mannes lauschte, hier war für Stephaton der Nabel der Welt. Hier war er der Zuschauer, niemand verlangte von ihm, eine vergnügungssüchtige Menge zu unterhalten, niemand jubelte ihm zu oder tätschelte ihm anerkennend die Schulter. Er konnte der sein, der er war.

Was für ein herrlicher Tag. Morgen war er unwiederbringlich dahin. Für Stephaton hätte er die Ewigkeit markieren können.

Jesus sprach über das Fasten, eine merkwürdige Sitte der Juden. Dann ging er über zum irdischen Reichtum, der den Menschen ein Hindernis auf dem Weg ins Himmelreich sei. „Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon“, sagte er und zeigte auf ein Sperlingspaar, das am Himmel seine Bahn zog. „Seht diese Vögel: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln auch keine Vorräte in Scheunen – und doch ernährt sie euer himmlischer Vater. Ihr aber, seid ihr nicht viel mehr wert als ein paar Vögel?“

Stephaton hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Die Worte des Rabbis, so weltfern sie sein mochten, sie berührten ihn. „Alles, was ihr von den anderen erwartet, das tut auch ihnen!“ – War eine bessere Welt wirklich denkbar? Alles erschien so einfach und unwirklich zugleich. „Wenn du den Splitter im Auge deines Bruders entfernen möchtest, so zieh zuerst den Balken aus deinem eigenen Auge.“

Die Schatten waren länger geworden, als Jesus zum Ende kam. „Wer meine Worte hört und danach handelt, ist wie ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als ein Wolkenbruch kam und Stürme tobten, da stürzte das Haus nicht ein.“

Noch einmal horchte Stephaton auf: Das Gespräch mit Agriope kam ihm in den Sinn. Er hätte schwören können, dass der Rabbi ihm zuzwinkerte. Was natürlich an der untergehenden Sonne liegen musste, die ihn zum Blinzeln brachte. Aber offenbar hatte Sara eine ähnliche Empfindung. „Er sieht uns an“, flüsterte sie. Seit Längerem waren es ihre ersten Worte.

„Wer aber hört und nicht handelt, ist wie ein Mann, der sein Haus auf Sand baute. Als Sturm und Flut kamen, wurde es völlig zerstört.“ Es war das Schlusswort seiner Predigt, so merkwürdig und deutlich wie der Anfang, beispiellos wie alles, was er gesagt hatte. Fleisch gewordenes Wort! Was immer der Jünger mit dieser kryptischen Umschreibung gemeint hatte, Stephaton fand sie irgendwie angemessen.

Die Jünger erhoben sich und scharten sich von Neuem um ihren Meister, wobei sich jener Petrus wie ein Leibwächter gebärdete. Die Menschen verharrten noch und wirkten betroffen. Erst als sich Jesus und die Jünger anschickten, den Hügel zur anderen Seite hinabzusteigen, setzte Geraune ein. Der Römer kaute an einem Grashalm und sah dem davonschreitenden Rabbi hinterher. Schließlich erhob er sich steifbeinig. „Warte hier“, befahl er seinem jungen Diener und folgte den Männern.

Der Diener war seinem Aussehen nach zu urteilen syrischer Herkunft. „Wohin geht dein Herr?“, fragte ihn Stephaton.

Über die unverhohlene Neugier des anderen schien der Diener nicht verwundert zu sein, er schmunzelte sogar. „Er will sich wohl bei dem Meister bedanken“, antwortete er bereitwillig. „Als ob er das nicht schon ein Dutzend Mal getan hätte. Eines Tages wird er vermutlich selbst zum Juden werden. Eine Synagoge hat er ihnen ja bereits errichten lassen.“

Ein grobschlächtiger römischer Soldat, der die Juden liebte und ihnen obendrein eine Synagoge baute? Darüber konnte sich Stephaton nur wundern. „Er baute eine Synagoge?“, fragte er verwirrt.

„Dafür hat er seine Gründe.“

Stephaton kratzte sich am Kinn und blickte in die Richtung, wo der Zenturio verschwunden war. „Wofür will er sich denn bedanken?“

„Ich hatte ein lähmendes Fieber und war dem Tod nah. Kein Arzt konnte etwas für mich tun. Da ging mein Herr zu Jesus und bat ihn, mich zu heilen.“

Sara beugte sich vor. „Jesus hat dich geheilt?“

Der Diener breitete die Arme aus. „Ich bin hier, oder nicht?“

„Dein Herr schätzt dich wohl besonders“, stellte Stephaton anerkennend fest. „Aber solltest du nicht lieber selbst gehen, um dich zu bedanken? Du warst doch der Patient.“

„Selbstverständlich habe ich das getan, sobald ich in der Lage war, ihn aufzusuchen.“

„Was hat der Meister dir geantwortet?“, forschte Sara.

„Er sagte, dass mir all meine Sünden vergeben sind.“

Stephaton stülpte die Unterlippe vor und nickte. „Jetzt bist du gesund und obendrein frei von Sünden, was immer man darunter versteht. Das nenne ich einen guten Handel.“

Das Lächeln des Dieners war nunmehr ein mitleidiges. So wie man einem einfältigen Schüler zulächelt, der nach ausgiebigem Unterricht noch immer nichts begriffen hat. Ringsumher rüsteten die Menschen zum Aufbruch. Der Abend brach herein, es wurde Zeit für die Heimkehr.

„Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als das Angebot des alten Händlers anzunehmen, Tabita.“

Sara schien sich immer noch keine Gedanken über den Ärger zu machen, der ihr blühte, wenn sie über Nacht fortbliebe und am nächsten Tag ihren von Sorge zermürbten Eltern gegenüberträte. „Er nannte uns das Salz der Erde“, sagte sie, als sei alles andere nicht so wichtig.

„Ich hoffe nur, dass dein Vater dir nicht den weiteren Umgang mit mir verbietet.“

Ein wenig verstört blickte sie ihm in die Augen. „Haben dir seine Worte denn gar nicht imponiert?“

„Nun, er sprach sehr beeindruckend“, räumte Stephaton ein, „wenn auch nicht der Wirklichkeit entsprechend. Gewiss, wenn jeder sich an das hielte, was er sagt, dann sähe es in der Welt anders aus. Da dies jedoch nie geschehen wird und nicht alle Menschen Juden sind, ist es sinnlos, darüber nachzudenken.“

In Saras Augen glaubte er Enttäuschung zu sehen, weshalb er die unterschwellige Abfälligkeit seiner Worte sogleich bereute. „Gleichwohl ist dieser Jesus ein ganz besonderer Mensch“, fügte er rasch hinzu, „seine Rede wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Doch jetzt komm, wir wollen zusehen, dass wir ein Quartier finden.“ Er bedachte den Diener, der auf die Rückkehr seines Herrn wartete, zum Abschied mit einem Nicken.

„Gott mit euch“, sagte dieser.

„Wir wollen es hoffen“, seufzte Stephaton.

Der Ladenbesitzer in Kapernaum hielt Wort und gewährte den jungen Leuten Quartier. Nur durch eine Wand aus Lehm voneinander getrennt verbrachten sie die Nacht, um sich anderentags in aller Frühe auf den Heimweg zu machen, und ihr Gastgeber weigerte sich beharrlich, eine Bezahlung für die Unterkunft anzunehmen.

„Wir haben es für euch getan und somit für den Herrn“, erklärte er, und seine Frau gab ihnen darüber hinaus zwei Fladenbrote als Wegzehrung mit.

Der Tag war wolkenverhangen und merklich kühler als der vorherige. Dunst lag über dem See. Unterwegs blieb Sara nachdenklich und schweigsam. Immer noch wirkten die Worte des Rabbi in ihr nach. Stephaton gestand sich ein, dass ihn das nervös und eifersüchtig machte. Deshalb bemühte er sich, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.

„Wo bleibt die Sonne? Sieh dir den See an, Tabita, wie trüb er ist – ach, erinnerst du dich, wie er neulich glühte? Es war der Abend, an dem wir uns zum ersten Mal küssten …“

Sie blieb stehen und sah ihn an. „Zweifle nicht an meiner Liebe“, sagte sie ernst. „Doch die Worte dieses Jesus haben mich tief bewegt, Stephaton. Nichts mehr wird so sein, wie es war.“

Das trug nicht dazu bei, ihn zu beruhigen, denn bislang hatte er fest geglaubt, jeder religiöse Eifer sei ihr fremd. Immerhin, ihre Augen erflehten eine Umarmung. Also drückte er sie fest an sich und genoss es, ihren Körper an seinem zu spüren.

„Wirst du am Abend im Theater spielen?“

Das Theater! Daran hatte er überhaupt nicht mehr gedacht. Gelon würde wütend sein, weil er nicht zur Probe erschienen war. „Ja, ich werde heute spielen, aber ich möchte nicht, dass du kommst und zuschaust. Es ist ein albernes Stück, du hast es ja selbst gesehen.“

Sie lächelte traurig. „Ohnehin erwartet mich wohl Hausarrest.“

In diesem Augenblick entschied Stephaton, dass es seine letzte Vorstellung sein würde. Wenn es ihm ernst war mit Sara – und nie war ihm etwas ernster gewesen! – dann gab es keine Zeit mehr zu verlieren. An der Seite des Vaters würde er genug Einkommen haben, um eine Familie gründen. Es drängte ihn, ihr all das zu sagen, aber Sara war gedanklich wieder auf jenem Hügel. Er wünschte sich, dass sie den Rabbi Jesus bald wieder vergessen haben würde.

Als sie ihren Weg fortsetzten, fühlte sich Stephaton frei wie ein Vogel. Ein neues Leben wartete.

Die neunte Stunde

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