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Zwei Wochen zuvor waren sie sich erstmals begegnet. Auf der weiten, von Säulen umstandenen Agora in Tiberias hatte Sara Einkäufe erledigt. Zur gleichen Zeit war Stephaton unterwegs gewesen, um Kräuter für seinen kranken Vater zu besorgen. Seine Stiefmutter Agriope – in ihrer thrakischen Heimat war sie eine Heilkundige gewesen –, schwor auf Weißdorn. Für das schwache Herz des Vaters gebe es nichts Besseres.

Als Stephaton den Marktstand des Pharnakes passierte, wurde er Zeuge eines Disputs.

„Du willst mich wohl zum Narren halten, freches Ding!“ Pharnakes, ein für seine Umtriebigkeit bekannter Korbmacher, schnitt die böseste Grimasse, zu der er fähig war.

Die junge Frau vor seinem Verkaufstand ließ sich nicht einschüchtern. „Es ist genau umgekehrt“, erwiderte sie ruhig. „Du bist der Betrüger!“

Stephaton sah sie zunächst nur von hinten. Sie trug ein helles Kleid, ihr dunkles, unbedecktes Haar war am Nacken zusammengesteckt. Am rechten Unterarm hielt sie einen leeren Korb.

„Hör mir gut zu, Mädchen“, sagte Pharnakes, tief einatmend, „entweder gibst du mir den Korb auf der Stelle zurück, oder du zahlst endlich, was du mir schuldig bist. Sonst sorge ich dafür, dass du Bekanntschaft mit dem Ädil machst.“

Stephaton sah sich zum Eingreifen genötigt. „Pharnakes! Was für ein Jammer, dass es immer Ärger mit der Kundschaft gibt, nicht wahr?“

Der Händler blickte ihn an. „Ah, Stephaton! Ja, das kannst du laut sagen, die Leute werden immer dreister. Sag mal, wirst du morgen im Theater wieder den Hermes geben?“

Stephaton überging die Frage, seine Aufmerksamkeit galt dem Mädchen, das sich zu ihm umgedreht hatte. Er blickte in ein zartes, hübsches Gesicht mit runden Augen und vollen, wie zu einer verwunderten Frage geöffneten Lippen. Ihrer Kleidung nach zu urteilen war die junge Frau Jüdin, vermutlich kam sie aus einem der nahen Dörfer: Weil nämlich Herodes Antipas die Stadt Tiberias auf dem Gelände des Friedhofs von Hammat erbaut hatte, lebten nur wenige Juden an diesem für sie unreinen Ort.

„Wie eine Betrügerin sieht sie eigentlich nicht aus“, fand Stephaton, der den Blick nicht mehr von ihr lassen konnte.

„Es steht ihnen nicht auf die Stirn geschrieben. Sie schuldet mir zwei Sesterze!“, behauptete Pharnakes.

„Ich gab ihm das Geld, bevor ich den Korb nahm“, erklärte das Mädchen unaufgeregt, „aber es hat den Anschein, als könnte er sich an nichts mehr erinnern.“

„Was sagt man dazu?“ Pharnakes wollte gar nicht mehr damit aufhören, den Kopf zu schütteln und empört die Wangen aufzublähen, aber Stephaton erkannte den schlechten Mimen in ihm.

„Wäre es nicht denkbar, Pharnakes, dass dein Gedächtnis dich wieder einmal im Stich lässt?“

Mit einem säuerlichen Lächeln legte der Korbmacher den Kopf schief, dachte nach und zuckte dann geringschätzig mit den Schultern. „Warum sollte ich mich mit einer Jüdin streiten? Soll sie den Korb doch behalten, wenn sie das mit ihrem Gewissen vereinbaren kann.“

„Das kann ich“, sagte sie, seinem abfälligen Blick mühelos standhaltend. Als sie kehrtmachte, um im Markttreiben zu verschwinden, sah Stephaton ihr wie gebannt hinterher.

„Frechheit siegt“, sagte Pharnakes, um sich gleich wieder generös zu geben, „aber ich kann verstehen, dass du einem hübschen Mädchen mehr Glauben schenkst als mir. Tja, diese Jüdinnen sind mit allen Wassern gewaschen. Da möchte man noch einmal jung sein.“

Stephaton ignorierte ihn. Blitzschnell beschloss er, dem Mädchen hinterherzueilen. „Warte!“, rief er. Sie blickte über ihre Schulter und blieb stehen. Als er sie erreichte, wusste er nicht, was er sagen sollte.

„Wie heißt du?“ Immerhin blieben ihm die Worte nicht in der Kehle stecken.

Ihr Blick war immer noch ernst, aber nicht abweisend. Er sah in das schimmernde Grün ihrer von dichten Wimpern umrahmten Augen. „Sara. Und wie heißt du?“

„Ich bin Stephaton.“

„Danke, dass du mich vor dem habgierigen Korbmacher gerettet hast, Stephaton.“

Verlegen nickte er. „Eine Selbstverständlichkeit.“

„Wie konntest du dir sicher sein, dass ich im Recht bin?“, fragte sie ihn. „Du kennst mich nicht.“

„Aber ich kenne Pharnakes. Und was dich angeht, Sara, vielleicht gibst du mir ja die Möglichkeit, dich genauer kennenzulernen.“

Hierzu schwieg sie, aber auf ihren Wangen entstanden zwei drollige Grübchen, weil ihr Mund ein Lächeln andeutete. „Ich möchte nicht neugierig erscheinen, aber warum fragte der Korbmacher dich, ob du morgen im Theater den Hermes gibst?“

Er war ihr offenbar völlig unbekannt. „Nun ja, ich bin ein Schauspieler, und der Hermes war meine letzte Rolle.“

„Ah. Dann verstehe ich, warum man sich ständig nach dir umdreht.“

Auch das war ihr also nicht entgangen. Und nicht nur, dass man sich nach ihm umdrehte, oft genug pflegten die Leute ihm auf die Schultern zu klopfen – wie just in diesem Augenblick eine ältliche Matrone. „Du bist der Beste, mein Junge, du bist der Allerbeste! Mein Liebling bist du!“ Stephaton lächelte gequält und war froh, dass sie ihn nicht weiter behelligte.

„Wenn du Lust hast, Sara“, sagte er zögernd, „könntest du dir die morgige Vorstellung ansehen. Ich besorge dir einen guten Platz.“

Sie schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich weiß nicht so recht.“

„Es wäre eine große Kränkung für mich, wenn du ablehnst“, wagte er mit gespieltem Ernst zu erwidern.

„Tatsächlich? Es läge mir fern, dich zu kränken, Mime Stephaton. Und eigentlich wollte ich immer schon einmal ins Theater.“

Spätestens von diesem Moment an, als ihre strahlend weißen Zähne hinter ihrem Lächeln zum Vorschein kamen, war es um Stephaton geschehen.

Am Abend nach seiner Kreuzigung, als er mit klopfendem Herzen den Pfad zum See hinabeilte, fasste Stephaton den Entschluss, sie zur Begrüßung zu küssen. Bislang waren ihre Treffen von scheuer Zurückhaltung geprägt, obwohl es außer Frage stand, dass sie Zuneigung füreinander empfanden. Aber Sara war eine Jüdin, und Juden pflegten strenge Bräuche. Nicht einen Augenblick lang durfte man das vergessen. Stephaton wollte nicht alles verderben, indem er zu forsch vorging, wenn er auch – zum Unverständnis seiner Kollegen – keineswegs ein Schürzenjäger war. Ein Kuss auf die Wange war überfällig, um ihr zu zeigen, wie sehr er sich nach ihr sehnte.

Sara erhob sich von dem glatten, runden Felsstein, auf dem sie gesessen hatte. Ihr Anblick raubte Stephaton beinahe den Atem, sodass er den Kuss fürs Erste vergaß.

„Friede mit dir“, sagte sie zur Begrüßung.

„Und mit dir, Tabita“, entgegnete Stephaton. Diesen Kosenamen – Gazelle – hatte er ihr gegeben, weil er fand, dass er gut zu ihr passe. Sara gefiel der Name ebenfalls, selbst wenn sie ihn zu schmeichelhaft fand.

„Wie schön, dich wieder munter auf den Beinen zu sehen.“

„Meinem ärgsten Feind wünsche ich keine Kreuzigung.“ Stephatons Lachen rührte aus seiner Verlegenheit.

Sie blickte aufs Wasser hinaus. „Ist das nicht zauberhaft? So wie heute habe ich den See noch nie glühen gesehen. Du etwa?“

„Du hast recht, es ist, als stünde der Grund in Flammen.“ Er trat näher und nahm ihre Hände, sie waren warm und zart. „Es hat dir nicht gefallen, nicht wahr? Das Stück vom Laureolus, meine ich.“

„Nicht besonders“, gab sie zu. „Es war brutal und mitunter auch geschmacklos.“ Ihr Ton war ernst, aber ihr Lächeln machte alles wett. „Dich leiden zu sehen, hat mir wehgetan.“

Stephaton errötete. „Das Stück war Gelons Idee. In Sepphoris hatte es angeblich großen Erfolg.“

„Auch hier hat es den Leuten gefallen“, sagte sie ungeachtet ihres eigenen Empfindens.

„Ich wünschte, ich müsste es nicht mehr spielen!“ Immer noch hielt er ihre Hände, und sie machte keine Anstalten, sie ihm zu entziehen. Ihre Augen würden ihn wohl noch die ganze Nacht verfolgen. Als ihm durch den Kopf ging, dass er sie eigentlich hatte küssen wollen, richtete sie ihren Blick ein weiteres Mal auf den See.

„Heute war ein Ölhändler zu Gast bei meinem Vater“, sagte sie nachdenklich. „Er erzählte von einem Rabbi namens Jesus, der in der Gegend von Kapernaum einige Todkranke auf wundersame Weise geheilt hat. Und Fischer wollen gesehen haben, wie er über das Wasser des Sees gegangen ist.“

Stephaton lachte. „Vielleicht ist das ja der Grund, warum der See so glüht. Er schämt sich, weil er sich veralbert fühlt.“ Er hielt inne, denn Saras Augen sagten ihm, dass sie das keineswegs gesagt hatte, um ihn zu erheitern. „Nun ja, die Leute sind froh, wenn sie etwas zu klatschen haben“, fügte er hinzu. „Sie denken, dass ein Mann, der Todkranke heilt, noch ganz andere Wunder vollbringen kann.“

Sie nickte zögerlich. „Ja, vielleicht.“

Die Fischerboote hatten sich in Bewegung gesetzt, um zu ihren Anlegestellen zurückzukehren. Weil es keinen Wind gab, mussten die Fischer die Ruder benutzen.

„Wollen wir flanieren?“, schlug Sara vor. Es war einer jener herrlichen Abende, denen man schon am nächsten Morgen nachtrauert, weil man denkt, sie seien einzigartig gewesen. Schweigend gingen sie Hand in Hand den Uferweg entlang und nahmen die Gerüche des Sees in sich auf. Dann fasste sich Stephaton ein Herz.

„Was gäbe ich dafür, dich immer in meiner Nähe zu haben, Sara“, sagte er, stehenbleibend. Sie sahen sich an, und zu seiner Freude stellte er fest, dass ihre Augen leuchteten.

„Immer?“, fragte sie leise.

„Bis zu meinem Ende!“ Er ahnte, welche Kämpfe in ihr toben mochten. Sie kam aus einer frommen jüdischen Familie; für ihre Eltern war es vermutlich undenkbar, dass sie einen heidnischen Griechen heiratete. Und bestimmt hatten sie längst einen jungen Mann für sie ausersehen, denn alt genug zum Heiraten war sie allemal.

Sanft legte er einen Finger auf ihre Lippen. „Du musst jetzt nichts sagen, Tabita. Bitte schweig, damit ich wenigstens träumen kann.“

Sie schloss die Augen, stellte sich auf die Zehenspitzen. Zaghaft hatte sie ihre Hände um seine Taille gelegt. Leicht geöffnet war ihr Mund, mühsam kontrollierte sie ihren Atem. Er beugte seinen Kopf, erwiderte ihre Umarmung behutsam, ängstlich beinahe, als könnte sie sich als Trugbild entpuppen, aber als seine Lippen sich mit ihren verbanden, als er die süße Nässe ihres Mundes schmeckte, da spürte Stephaton, wie alles Glück dieser Welt ihn durchströmte.

Als die Zeit des Abschieds nahte – schon war die Sonne untergetaucht, See und Berge hatten ihren roten Glanz verloren –, bestand Stephaton darauf, sie nach Hause zu begleiten. Sara lebte eine gute Meile vor der Stadt, am Rand eines der nahen Dörfer, wo ihr Vater eine große Olivenplantage besaß. Seit Generationen bewirtschaftete seine Familie das Gut und hatte es zu solidem Wohlstand gebracht. Sara erzählte Stephaton, es sei der inbrünstige Wunsch ihrer Eltern, eines Tages in Jerusalem zu leben, um auch dort zu sterben und begraben zu werden. Denn wenn am Ende der Zeiten der Maschiach käme – Messias nannten ihn die Griechen –, würden die Toten von Jerusalem als Erste zum ewigen Leben erweckt.

„Wenn das so ist“, entgegnete Stephaton, „dann wäre ich gern ein Jude, um irgendwann mit dir in Jerusalem zu sterben.“ Obwohl er die Torheit seiner Worte ahnte, schenkte Sara ihm ein Lächeln.

Ihr Vater, ein kleiner, robuster Mann, arbeitete noch im Hain, als sie die Ummauerung des Gutes erreichten. Trotz der Dämmerung, trotz der Entfernung glaubte Stephaton Missmut in seinem hageren Gesicht auszumachen. Auf einen leidenschaftlichen Abschied musste das junge Paar wohl verzichten.

„Wann sehen wir uns wieder, Tabita?“

„Morgen, wenn du willst. Bis zur siebten Stunde helfe ich meinen Eltern an der Ölpresse. Danach könnten wir einen Ausflug machen.“

Es gab nichts, was Stephaton lieber tun würde. „An unserem Treffpunkt werde ich auf dich warten.“

Kurz berührten sie sich mit den Fingerspitzen, dann kehrte Stephaton nach Tiberias zurück. Vergessen waren die Schmerzen der Kreuzigung, er fühlte das Leben in jeder Faser seines Körpers. Stephaton war so glücklich wie noch nie.

Ephraim ben Elihu wusste von der Liebschaft seiner Tochter, sie selbst hatte ihm und ihrer Mutter von dem jungen Griechen aus Tiberias erzählt. Sara hatte noch nie Geheimnisse aus ihren Gefühlen gemacht. Auch dass er ein Mime war, hatte sie den Eltern nicht verschwiegen, wohl wissend, dass ihnen dies missfallen würde. An diesem Abend aber sah Ephraim ihn zum ersten Mal, wenn auch nur von fern. Er begleitete Sara heimwärts, und dafür war es höchste Zeit, denn Ephraim hatte sich schon Sorgen gemacht. Die jungen Leute verabschiedeten sich ein wenig verhalten, wie Ephraim beobachten konnte, aber er war ja nicht dumm, sie wussten genau, dass er sie im Blick hatte. Ephraim wollte gar nicht über die Zärtlichkeiten nachdenken, die sie bereits ausgetauscht haben mochten.

Er winkte Sara zu sich. „Es ist schon spät“, sagte er vorwurfsvoll.

„Ja, Vater. Verzeih mir, fast hätten wir die Zeit vergessen.“

Das klang so verliebt, dass er ihr gern den Mund verboten hätte. Doch das wäre ihm selbst lächerlich erschienen. „Es ist nicht gut, wenn du dich in einen Heiden verliebst.“ Er wünschte sich, er wäre imstande, strenger zu seiner einzigen Tochter zu sein und ihr den Umgang mit ihrem Verehrer schlicht zu verbieten. Aber so zielstrebig und selbstsicher er sich im Leben sonst gab, so weich und nachgiebig war er, wenn es um Sara ging.

Sara lächelte. „Liebe lässt sich nicht steuern, Vater. Sie kommt über einen, ich selbst hätte das niemals geglaubt.“

„Dann ist es also wirklich wahr? Du liebst diesen … Schauspieler?“

Gedankenvoll sah sie ihm in die Augen. „Ja, Vater. Ich glaube, ich liebe ihn.“

Musste sie denn immer die Wahrheit sagen? Hätte sie nicht ihm zuliebe nur einmal eine Unwahrheit aussprechen können? Denn wie hätte er gutheißen können, dass seine Tochter einen Griechen liebte? Ephraims Frau Lea sah das zwar gelassener – „Warte nur ab, sie wird schon wieder zur Vernunft kommen“, pflegte sie zu sagen –, aber wo kämen sie hin, wenn sich Gottes auserwähltes Volk mit den Heiden vermischte? In der Synagoge hatte man ihn schon schief angesehen.

„Komm, Sara“, sagte er seufzend und legte ihr eine Hand auf die Schulter, „gehen wir ins Haus. Deine Mutter wartet schon.“

Die neunte Stunde

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