Читать книгу Wie ein Vogel aus dem Ei - Gunter Preuß - Страница 10

6.

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Ich glaube, die Welt hat mit mir keine große Schauspielerin verloren. Herr Tröge hatte recht. Es gehört schon viel "Rotzfrechheit" dazu, sich vor allen Leuten auf eine Bühne zu stellen. Und das Abend für Abend. Als ich zur Eignungsprüfung ging, glaubte ich noch, ich könnte es. Als Änni mich früh auf den Weg schickte, sagte sie: "Kopf hoch, Klein Erna. Es kann dir gar nichts passieren. Du hast gearbeitet. Und du kannst was. Wirst sehen, die fressen dir aus der Hand."

Ich war eine halbe Stunde eher da. Dachte, ich bin die Erste. Dachte auch, außer mir würde hier kaum jemand auftauchen. Hatte mich mächtig getäuscht. Vor der Theaterhochschule parkte ein Auto am andern. Überall standen Jungen und Mädchen herum, mit und ohne Erwachsene. Ich konnt's gar nicht glauben, dass es so viele Leute gab, die Schauspieler werden wollten. Sah mir alle Mädchen genau an. Manche sahen so gut aus, dass ich mich hätte wegschmeißen können. Es waren auch welche dabei, klein und pummelig, die mir wieder Mut machten. Ich war scheußlich aufgeregt. Muss ziemlich mitgenommen ausgesehen haben; denn ein Junge sprach mich an. Er hatte einen Jeansanzug an. War groß und schlank. Trug die Haare bis auf die Schultern. Nuckelte an einer nassen Zigarette.

"Geht es dir nicht gut?", fragte der Junge. Er hustete. Nahm die Zigarette aus dem Mund. Klopfte dran herum. Steckte sie sich wieder zwischen die Lippen. Paffte und hustete.

"Übles Kraut", sagte er. "Was bekommt man heute noch für sein gutes Geld. Rauchst du?"

Mir war hundeelend. War froh, dass der Junge da war, obwohl er ziemlich überheblich wirkte und ich solche Typen nicht ausstehen kann. Ich nahm mit zitternder Hand eine Zigarette. Die erste meines Lebens. Er gab mir Feuer. Wir pafften und husteten. Und bald war meine Zigarette genauso nass wie seine.

"Entschuldige", sagte der Junge. Er machte tatsächlich eine gekonnte Verbeugung vor mir. Mit Anstand sozusagen. "Mein Name ist Hans Wegener."

"Cornelia Warmbrunn", sagte ich. "Conny."

"Wegener", sagte Hans. "Meine Mutter ist die Wegener. Die Schauspielerin. Du wirst sie kennen."

Ich kannte sie nicht. Sagte: "Jaja. Ach die." Die Zigarette brachte mich fast um. Aber irgendwie ließ sie mich die Massen um mich herum besser ertragen.

"Das viele Volk hier", sagte Hans verächtlich. "Die sind aus der ganzen Provinz angereist." Er hustete und lachte. "Eine Vorstellung haben die. Du solltest sie heute Abend wieder abziehen sehen. Können einem Leid tun."

"Ja", sagte ich. "Mir tun sie alle Leid. Alle, die durchfallen."

"Das musst du nicht so verbissen sehen", sagte Hans. "Du bestehst. Ich habe einen Blick dafür. Geerbt. Der Vater meiner Mutter war schon Schauspieler. Er hat in dem Stummfilm 'Wenn Frauen weinen' mitgespielt."

Ich war Hans dankbar, dass er gesagt hatte, ich bestehe. Er musste's ja wissen. Dann wurden Tor und Tür geöffnet. Die Massen drängten hinein. Wir warfen die Zigaretten weg. Ich wich dem Jungen nicht von der Seite. Und er nicht von meiner. Im Haus sah's ziemlich finster aus. Viele Türen. Eine breite Treppe nach oben. Eine schmale nach unten. Es roch irgendwie alt. Wir mussten alle die Treppe nach unten gehen. Unten waren die Kellerräume zu Zimmern ausgebaut. Man saß wie im Wartezimmer. Und das war's schließlich auch.

"Reg dich nur nicht auf", sagte Hans. "Du musst ganz ruhig bleiben. Hast du dich mit autogenem Training beschäftigt?" Der Junge erzählte mir in einer Lautstärke, dass es alle hören mussten, von dieser Entspannungsmethode. Er wusste eine Menge darüber. Führte vor, wie man's im Sitzen macht. In der Kutscherhaltung. Saß fünf Minuten, ohne sich zu rühren. War nur fuchsrot im Gesicht. Als er damit fertig war, suchte er wie wild seine Zigaretten. Es hingen überall Schilder: Rauchen verboten! Er fluchte, dass es Freude machte, zuzuhören. Die Mütter und Väter sahen in ihm so was wie eine Persönlichkeit. Sie erkundigten sich bei ihm, wie's nun mit ihren Töchtern und Söhnen weiterginge. Was denn für Chancen bestünden. Und was sie nicht noch alles wissen wollten. Hans gab bereitwillig Auskunft. Ich habe noch nie einen Jungen so viel reden hören. Aber ich war froh darüber.

Endlich erschien so ein Theatermensch. Sah ganz normal aus. Verlor ein paar Worte zur Sache. Die Eltern mussten ihre Kinder verlassen. Wir Prüflinge wurden in Gruppen eingeteilt. Hans und ich kamen in dieselbe Gruppe. Wir zogen durch einen Garten, der eine Wüste war, in ein anderes Haus. Dort mussten wir wieder eine Ewigkeit warten. Die Leute hatten viel Zeit. Hans sagte mir hundertmal, dass ich nur ruhig werden solle. Ich war überhaupt nicht mehr aufgeregt. Aber ich ließ ihn reden. Es schien ihm gut zu tun.

Dann erinnerte sich doch eine Frau an uns. Wir mussten die mitgebrachten Turnsachen anziehen. Wurden in ein Zimmer gebeten. Eine andere Frau erzählte uns etwas von Etüden und solchen Scherzen. Jeder von uns sollte einen Clown spielen. Dann mussten wir uns an jemand, der ein Niemand war, anschleichen. Ich musste so an die zehnmal einen Ball in die Luft werfen und darunter durch rennen. War nicht sehr einfallsreich, das Ganze. Aber es waren Etüden. Schließlich sollten wir uns vorstellen, zwischen uns und diesem Jemand sei ein Fluss. Der Jemand habe was Wichtiges vergessen. Und wir sollten ihn zurückrufen.

Hans hatte mächtigen Spaß daran. Er schrie über den Fluss, dass es nur so hallte. Die beiden Frauen hielten sich die Hände auf die Ohren und bedeuteten ihm, er solle Schluss machen. Aber ihm schien's wichtig zu sein, dass jemand über den Fluss zurückkäme und mitnähme, was er vergessen hatte. Und der Fluss war auf jeden Fall breiter als die Elbe. Ich war wirklich froh, dass ich den Jungen bei mir hatte.

"Warum rufen Sie nicht?", fragte mich bald die eine, bald die andere Frau.

Himmel, ich brachte keinen Ton heraus.

"Wen soll ich denn rufen?", fragte ich eingeschüchtert.

"Das ist doch gleichgültig. Da ist jemand auf der anderen Seite des Flusses. Den sollen Sie rufen. Weil er was Wichtiges vergessen hat!"

"Was ist's denn, was er vergessen hat?"

Die eine Frau machte sich eine Menge Notizen. Die andere war so ein Weib, das bestimmt lieber ein Mann geworden wäre. Ich hatte sie vom Stuhl getrieben. Sie stand stramm. Sie hatte mich scharf im Blick. Sagte geschliffen: "Mein Gott, bist du schwer von Begriff! Ist doch völlig gleichgültig, wen du rufst! Genauso gleichgültig ist das, was er vergessen hat!"

"Ruf doch", flüsterte Hans hinter meinem Rücken. "Schreien musst du!"

"Willst du nun tun, was ich dir sage?", fragte das Weib. Ich hätte gern getan, was sie von mir verlangte. Dachte die ganze Zeit, wie unsere Große sich in so einer Situation verhalten würde. Aber ich konnte nicht einfach schreien ohne Sinn und Verstand. Nur weil's das Weib so wollte. Ich nannte sie das "Weib". Das gab mir Kraft.

"Bitte", sagte ich. "Sagen Sie mir doch, wer's ist, der da auf der anderen Flussseite steht. Und dann muss ich wissen, was er vergessen hat. Wenn er nun schon mal übern Fluss ist und nur den Hausschlüssel oder so was vergessen hat, dann lass ich ihn laufen. Er kann ja klingeln, wenn er zurückkommt."

"Was Wichtiges", sagte das Weib. "Ich hatte ausdrücklich gesagt: Der Mann hat etwas Wichtiges vergessen. Begriffen?!" Die andere notierte und notierte.

"Also ist's ein Mann", sagte ich.

"Wieso ein Mann!", rief das Weib.

"Sie haben eben gesagt: Der Mann hat etwas Wichtiges vergessen. Wissen Sie noch mehr über den Mann?"

Das Weib wurde immer wütender. Die andere sagte zu ihr: "Bleib ruhig, Angelika." Sie sagte freundlich zu mir, so in der Art, wie man mit einem Verrückten spricht: "Es ist gut, Fräulein Warmbrunn. Sie brauchen die Etüde nicht zu machen."

Das Weib und die Frau flüsterten miteinander. Die Frau lächelte mir zu. Ich kam mir verteufelt ausgeliefert vor. Kann's nicht ausstehen, wenn Leute ihre Köpfe zusammenstecken und über einen Dritten flüstern.

Ich muss sagen: Bei den Etüden, diesen Scherzen, war mir der Spaß an der Schauspielerei vergangen. Die Leute ließen uns wieder eine Ewigkeit warten. Stelle mir vor, das gehört zum Beruf. Damit wollen sie einen mürbe machen, damit man nicht mehr fragt, wer der Jemand überm Fluss ist und was er so Wichtiges vergessen hat. Hans bot mir eine Zigarette an. Wir pafften und husteten. Er sagte, ich solle nur ruhig sein. Das hätte noch gar nichts zu sagen. Wissenschaftlich gesehen, wären die Etüden dummes Zeug. Das hätte sein Großvater, der im Stummfilm "Wenn Frauen weinen" mitgespielt hatte, schon immer gesagt. War wirklich sehr nett von dem Jungen. Ich fragte ihn, warum er so laut nach diesem Jemand auf der anderen Flussseite gerufen hätte. Er sagte, keine Ahnung. Er wüsste's nicht. Seine Mutter, die Wegener, hatte ihm eingeschärft, er sollte tun, was von ihm verlangt würde. Die Besserwisserei brächte dem Schauspieler nur Ärger ein.

Irgendwann holten sie uns. Wir mussten uns nach Musik bewegen. Ich hatte ja meine Erfahrungen aus der künstlerischen Gymnastik. Die Leute konnten mir nur Leid tun. Aber sie blieben freundlich. Das muss ich sagen. Zum Mittag war Pause. Wir gingen zurück ins Hauptgebäude. Kauften uns Milch und belegte Brötchen. Ich aß vier Brötchen. Und hatte noch immer Hunger. Das ist immer so, wenn ich am Ende bin. Wäre am liebsten nach Hause gegangen und hätte mich ins Bett gelegt. Aber ich dachte an unsere Große. An Mutter und Vater. Und an Änni. Und dann war noch der Junge an meiner Seite. Ich konnte nicht einfach weglaufen. Aber die Lust war aus mir raus. Dieses Gefühl in mir, diese Angst und diese Hoffnung, war wieder stark. Musste an Werner Branstner denken. Es war aber von ihm nur noch der Name übrig. Und die Geschichte von dem Jungen und den Tauben.

Hans sprach unaufhörlich. Erzählte von seiner Mutter, die als Schauspielerin Spitze wäre. In wie viel und was für Filmen sie mitgespielt hätte. Wie sie daherkäme. Wie eine Königin. Und wie verrückt er darauf wäre, auch Schauspieler zu werden. An welchem Theater und was für Rollen er spielen und wie er daherkommen würde. Wie ein König. Ein sehr volkstümlicher, versteht sich. Und ich würd's schon schaffen. Er hätte einen Blick dafür. Ich versuchte mir vorzustellen, dass der Junge Werner Branstner hieße. Es gelang mir nicht.

"Könntest du dir vorstellen, du heißt Werner Branstner?", fragte ich ihn.

"Wie kommst du darauf?", sagte er. "Nein. Natürlich nicht. Ich bin ein Wegener, Hans Wegener."

Ich war sehr traurig. Ließ mir eine Zigarette geben. Rauchte und aß. Himmel, war mir schlecht. Aber ich hatte was, mit dem ich mich beschäftigen konnte. Mit dem Schmerz im Magen.

Nach der Mittagspause wurde's Ernst. Unsere Gruppe wurde mit einer anderen Gruppe zusammengelegt. Zwei Männer holten uns nach Bühne drei. Das war im Obergeschoss des Hauptgebäudes ein größerer Raum, der eine kleine Bühne hatte. Einer der Männer wurde ans Telefon gerufen. Er kam erst wieder, als alles vorbei war.

Von uns Prüflingen musste einer nach dem anderen auf die Bühne und zwei Gedichte vortragen und zwei Szenen vorspielen. Es machte mir großen Spaß, zuzusehen. Fand, jeder machte seine Sache gut. Bin natürlich kein Fachmann. Es war interessant, wie die Jungen und Mädchen die Personen, die sie spielten, sahen. Sie mussten ja nicht irgendeinen Jemand spielen. Sie spielten die Julia, den Wolodja, die Sima. Und einer sogar den alten Faust. Es waren jedenfalls alles Menschen mit ganz bestimmten Sorgen und Freuden. Kein Jemand, der überm Fluss war und irgendwas Wichtiges vergessen hatte.

Der Mann vom Theater, der übrig geblieben war, sprach mit milder und gewählter Stimme zu uns. Er war Sprecherzieher. Glaube, er sah mehr zur Tür als auf die Bühne. Aus seiner Miene ließ sich nichts erraten. "Danke", sagte er nach jedem Vortrag. "Der oder die Nächste bitte. Was hören und sehen wir denn?"

Ich war überhaupt nicht aufgeregt, als ich dran war. Durch die Auftritte der anderen hatte ich wieder etwas Spaß an der Sache bekommen. Und ich dachte an unsere Große, meine Eltern und Änni. Das Leben hat seine Pflichten, hatte unsere Große gesagt. Da hatte sie die Kunst bestimmt auch. Muss sagen, ich war ganz zufrieden mit mir. Die Prinzessin Henriette, die den Schweinehirten Heinrich hundertmal küsst, habe ich gern gespielt. Ich sah unter mir die Jungen und Mädchen. Sie waren ganz locker. Lachten ein paar Mal. Das war ein wunderbares Gefühl für mich. Ich verstand Änni, als sie gesagt hatte: Willst doch den Menschen was geben von dir. Ja, das wollte ich. Alles, was ich hatte, wollte ich ihnen geben. Das habe ich seit damals nie wieder vergessen. Was auch passiert ist. Als Letzter war Hans Wegener dran. Der Junge war nicht wieder zu erkennen. Schon während meines Auftritts hatte er in Kutscherhaltung gesessen und autogen trainiert. Habe ihn auch später oft so erlebt. Bei ihm führte die Entspannungsmethode zum Gegenteil. Eine Paradoxie sozusagen. Oder er sprach die völlig verkehrten Formeln. Armer Kerl. "Herr Wegener", sagte der Sprecherzieher. "Wenn ich bitten darf. Was bekommen wir zu hören und zu sehen?"

Hans spielte den Lanzelot aus dem "Drachen" von Schwarz. Genauer: Er wollte ihn spielen. Aber Hans stotterte, und hätte seine Rolle das Stottern erfordert, wäre er unschlagbar gewesen. Aber Lanzelot der Drachentöter stottert nicht. Und dabei hätte Hans so schöne Worte zu sagen gehabt. Am Vormittag hatte er sie mir immer wieder vorgesprochen:

Ach, weiß man in eurem Volk überhaupt, wie man lieben kann? Furcht, Müdigkeit und Zweifel verbrennen, verschwinden auf ewig. So sehr kann man lieben. Selbst die Bäume im Wald können zärtliche Worte mit uns wechseln und die Vögel und die wilden Tiere, weil Liebende alles verstehen und sich eins fühlen mit der Ganzen mit.

Hans verstotterte alles, obwohl der Sprachlehrer sich viel Mühe mit ihm gab und Geduld zeigte. Aber's war nichts zu machen. "Tut mir leid", sagte der Sprecherzieher fassungslos. So einen Fall hatte er wohl noch nicht gehabt.

Wir mussten zurück in den Keller. "Hans", sagte ich zu dem Jungen. "Hans. Mensch. Komm zu dir. Sag doch was. Starr nicht so."

Ich rüttelte ihn. Die anderen redeten auf ihn ein. Wollten ihn trösten. Weiß nicht, ob er irgendwas hörte und sah. Als der Sprecherzieher und der Mann, der mit Madagaskar telefoniert hatte, in den Keller kamen, fasste Hans meine Hand. Ließ sie nicht wieder los. Der Mann, der mit Madagaskar telefoniert hatte, sagte irgendwas Lustiges. Alle lachten. Dann rief er die Namen derjenigen auf, die die Prüfung bestanden hatten. Das waren nicht viel! Warmbrunn und Wegener waren nicht darunter. Kam für mich nicht überraschend. Und doch tat's weh. Musste an die Familie und an Änni denken. Wir Durchgefallenen wurden entlassen. Mit freundlichen Worten. Sollten uns den Mut nicht nehmen lassen. Wäre längst nicht raus, ob die, die bestanden hatten, Schauspieler würden. Wir könnten uns ja einer Laienspielgruppe anschließen. Und die eigentliche Aufnahmeprüfung sei ohnehin erst in zwei Jahren. Und so weiter.

Ich fragte den Sprecherzieher, warum sie mich nicht nähmen. Er sah mich erstaunt an. Dann blätterte er in den Akten, als hätte er nie mit mir zu tun gehabt. "Warmbrunn", sagte er. "Cornelia. Geboren. Wohnhaft."

So viel war klar. Er sah mich an. Sagte: "Du musst dich nicht aufregen. Jeder fällt mal irgendwo durch."

"Ich rege mich nicht auf", sagte ich. "Ich will's nur wissen. Damit ich's verstehen kann."

Der Mann, der mit Madagaskar telefoniert hatte, nahm dem Sprecherzieher die Akten aus der Hand und las vor: "Zeigt Phantasieschwäche. Schlecht ausgeprägtes Vorstellungsvermögen. Zu wenig Gefühl für Rhythmik und Melodie. Gesamteindruck: noch zu kindhaft. Naiv. Fehlende Reife. Schwache Persönlichkeit."

Das genügte. Wirklich. "Danke. Vielen Dank", sagte ich. Ging mit Hans, der noch immer meine Hand hielt. Wir liefen durch den Park. Auf einer kleinen chinesischen Brücke blieben wir stehen. Es war Abend. Die Enten und Schwäne stiegen gerade an Land und machten sich's unter Büschen bequem. Ich spuckte ins Wasser unter mir und dachte nach, wie ich die Hand des Jungen aus meiner Hand loskriegen könnte.

Heute weiß ich, dass ich sie gar nicht loskriegen wollte. Wir hielten uns beide fest. Plötzlich fand Hans seine Sprache wieder. Er sagte: "Du hast mich heute etwas gefragt. Ob ich mir vorstellen könnte, dass ich anders heiße. Den Namen habe ich vergessen."

"Werner Branstner", sagte ich.

"Werner Branstner", sagte er. "Ich könnte mir vorstellen, dass ich Werner Branstner heiße. Das kann ich mir gut vorstellen. Dieser Werner Branstner ist ein Junge, der mit der Schauspielerei überhaupt nichts zu tun hat. Seine Mutter arbeitet bei der Post. Sie trägt Zeitungen und Briefe aus. Oder sie sitzt am Schalter. Wenn Werner Branstner aus der Schule kommt und sie von ihrer Arbeit, gehen sie zusammen in die Eisdiele. Kein Wort davon, dass Rollen geübt werden müssen. Keine Frage nach den neuesten blöden Zensuren. Dieser Werner Branstner redet mit seiner Mutter über alles Mögliche. Über die Frau Milm, die auf der Post den Leuten immer mal wieder zu wenig Geld auszahlt. Übers Schulessen. Den Mordanschlag auf den Papst. Über den Drei-zu-Null-Sieg vom Klub. Über das gute Moskauer Eis. Am Abend ist die Mutter zu Hause. Dieser Werner Branstner bastelt in seinem Zimmer an alten Radios herum. Er repariert jede Uhr. Die Leute aus dem Haus bringen ihm kaputte Staubsauger, Heizsonnen und Verlängerungsschnüre zur Reparatur. Wenn Werner Branstner dann im Bett liegt, wirtschaftet die Mutter noch in der Küche. Er weiß, sie ist ganz in seiner Nähe. Darüber schläft er ein."

Ich schwieg. Er verlangte: "Sag doch was. Bitte."

"Ich glaube, man kann nicht sein, wer man will", sagte ich. Ich dachte nach, wie ich sein wollte. Wollte bisher immer wie unsere Große sein. Mir fiel auch nichts Besseres ein.

"Doch", sagte Hans sehr erregt. "Ich kann sein, wer ich will. Das ist so. Glaube es mir. Der Mensch kann der werden, der er sein will. Er kann alles werden. Wenn ich will, kann ich dieser Werner Branstner werden."

"Und warum wirst du's nicht?"

Er schwieg. Steckte sich eine Zigarette an. Paffte drauflos. Dann sagte er: "Weil ich es nicht will. Darum. Ich werde Schauspieler. Dann bin ich der Wegener. Und ich kann auch zu jeder Zeit dieser Werner Branstner sein."

"Kannst du nicht", sagte ich, nun auch aufgeregt. "Man kann nur immer einer sein. Man kann nur immer sein, wer man ist. Nur - ich weiß nicht, wer ich bin ...“

"Ich werde Schauspieler", sagte Hans bestimmt. "Ich muss Schauspieler werden." Mit jedem Atemzug sog er den Qualm tief in sich ein. Er musste schrecklich husten. Er fluchte. Bekam keine Luft mehr. "Schla-schla-schlag mir auf den Rücken", rief er. Er stotterte wieder. Vielleicht war's vom Rauchen.

Es war dunkel geworden. Es war, als schwebten wir. In der Ferne waren vereinzelte kleine Lichter zu erkennen. War ein eigenartiges Gefühl. Zugleich schön und Furcht erregend. Unsere Hände hielten einander fest.

"Du", sagte Hans. "Es ist ... Welchen Weg gehst du? Ich wohne gleich in der Nähe. Du machst keinen Umweg. Ich - ich nehme dich die paar Schritte mit."

Er ließ mich nicht los. Ich ging mit. Aus seiner Hand spürte ich ein Zittern. Es kam so von innen heraus. Es wurde immer stärker, je näher wir seinem Zuhause kamen. Er wohnte in der Nähe des Parks. In so einem alten Bürgerhaus, das sich trotz seiner verwitterten Fassade mit seinen Schnörkeln über den Fenstern und der Haustür noch immer vornehm gibt. Ich mag solche Häuser. Sie wissen was zu erzählen, wenn man sich Zeit nimmt, ihnen zuzuhören.

"Ma-mach es gut", sagte Hans an der Haustür. "Da-danke." Er sah zu den hell erleuchteten Fenstern im ersten Stockwerk hinauf.

"Mach's gut, Hans", sagte ich. Ging über die Straße. Musste zurück durch den Park, um schneller nach Hause zu kommen. Meine Leute würden sich schon Sorgen machen. Auf der anderen Straßenseite holte Hans mich ein. Er sagte: "Wa-wann können wir uns wieder sehen?"

Ich sagte nichts. Hatte keinen Grund, ihn wieder zu sehen. Er sagte: "Du, ich mu-muss dich wie-wiedersehen. Ich mu-muss."

"Keine Zeit", sagte ich. "Wirklich." Dann bin ich weggerannt.


Wie ein Vogel aus dem Ei

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