Читать книгу Wie ein Vogel aus dem Ei - Gunter Preuß - Страница 7
3.
ОглавлениеHeute weiß ich nicht mehr, wie Werner Branstner aussah. Aber seine Geschichte vom Jungen und von den Tauben habe ich nicht vergessen. Und dieses Gefühl, das ich an diesem Tag zum ersten Mal erlebt hatte, ist in mir geblieben. Ich glaube, damals habe ich begonnen erwachsen zu werden. Es ist mir verteufelt schwer gefallen. Und ich weiß bis heute nicht, ob ich übern Beginn hinaus bin, obwohl mir so einiges passiert ist. Weiß nur, man kann nie erwachsen sein. Man kann's immer nur werden.
Mit diesem Gefühl hatte mein Leben einen Sinn, ein Ziel bekommen. Das weiß ich heute. Damals war's nicht viel anders, als wenn mich ein Verrückter von hinten ins tiefe Wasser stoßen und rufen würde:
"Schwimm!"
Nachdem Werner Branstner weg war, habe ich ihm noch ein paar Mal geschrieben. Habe ihn gefragt, ob er mir ein Foto von sich schicken könnte. Er hat nie geantwortet. Heute weiß ich nicht einmal mehr, ob ich die Briefe abgeschickt habe. Damals habe ich fest daran geglaubt, dass ich's getan hätte. Jeden Tag bin ich von der Schule nach Hause gerannt. Jeden Tag war der Briefkasten leer. Ich befand mich wie auf einer Waage. Pendelte zwischen Angst und Erwartung. Geriet in Panik. Wollte dieses Etwas finden und festhalten.
Zu Hause probte ich ständig den Aufstand. Mal laut, mal leise. Der reinste Nervenkrieg. Ich wäre damals am liebsten weggerannt. Irgendwohin. Alles, was mich bisher umgeben hatte, war mir zu eng, zu dumm und zu langweilig geworden. Wir wohnten in einem der viergeschossigen alten Häuser an der Hauptstraße, fünf Minuten Straßenbahnfahrt entfernt vom Stadtzentrum. In den Erdgeschossen der Häuser reihte sich Laden an Laden. In unserm Haus war die Gaststube "Zum Roten Hirsch" untergebracht. Das war so eine richtige Eckkneipe mit blank gewetzten schweren Tischen und Stühlen, mit Bedienung an der Theke, Fassbier, roter Limonade, Bockwurst mit Brot. Hier wurde noch angeschrieben. Die Wirtin hieß Änni, wog gut und gern ihre drei Zentner und war früher im Zirkus als Kraftakrobatin aufgetreten. An den verräucherten Kneipenwänden hingen Bilder von ihr, wie sie im schillernden Kostüm, den Kopf voller Locken und Flittersterne, ihren Mann Fritz und jede Menge Eisenkugeln auf den Arm nimmt. Ihr Künstlername war Jolly Eisenarm. Fritz, ihr Mann, hatte sich scheiden lassen. Als Grund gab er "wachsendes Übergewicht" Ännis an. Auf Fotografien sieht er aus wie ein Gartenzwerg. Aber für Änni muss er wohl die große Liebe gewesen sein. Nach der Scheidung ist sie weg vom Zirkus, hat den "Roten Hirsch" übernommen und zu trinken angefangen. Mit jedem, der in ihren "Bierladen" kam, war sie sofort per du. Die Männer nannte sie alle Fritz, die Frauen Erna. Für mich war Änni wie eine Großmutter. So ein Ankerplatz, wenn das Schiff ein Leck hat und nicht mehr weiß, wohin. Ich habe zwei richtige Großmütter; aber ich kann mit beiden nichts anfangen. Die eine lebt "drüben", in Köln. In der Familie wird erzählt, sie wäre ein lustiges Kind vom Rhein. So eine, die zum Karneval die Betten verkauft, wenn's sein muss. Ich kenne nur ihre Pakete, die regelmäßig kommen. Die andere wohnt keine Viertelstunde Fußweg von uns entfernt. Sie lebt mit Großvater bis in den Winter hinein in ihrem Schrebergarten, der im Rosenthal am schlammigen Ufer der Pleiße liegt. Sie halten dort Kaninchen, ziehen Rosen und ernten die größten Tomaten. Den beiden kann man nichts erzählen. Sie fragen immer gleich: "Brauchst du Geld?" Dann drücken sie einem eine Mark in die Hand und meinen, nun hätten sie jedes Problem gelöst. Dafür muss man furchtbar dankbar sein und mindestens sieben Stunden lang in die Knie gehen und Unkraut stechen.
Änni war damals der einzige Mensch, der mich verstand. Wenn ich den Briefkasten leer fand, ging ich in den "Roten Hirsch". Änni sah, was mit mir los war. Sagte zu dem Mann, der an der Theke sein Bier trank: "Schluck mit Bedacht, Fritz. Ich muss nur mal." Sie ging mit mir in ihren "Geschäftsraum"; das war ein großes Zimmer, in dem ein riesiger Schreibtisch und alte Möbel herumstanden und eine bewundernswerte Unordnung herrschte, dass man allen Respekt verlor und sich sogar auf dem Teppich wohl fühlte. Änni wohnte in diesem Zimmer. Manchmal legte sie hier den Leuten die Karten. Mir hat sie auch das große Glück und ein langes Leben vorausgesagt.
Änni nahm mich in ihre Arme. Und obwohl sie doch so ein Riesenweib und so ein Kraftmensch ist, kann niemand sanfter und zärtlicher sein als sie. Sie sang mit rauer Männerstimme, die aber auch etwas Kindhaftes hatte: "Beim ersten Mal, da tut's noch weh ... " Ich heulte zwischen ihren großen weichen Brüsten. Sie weinte zur Gesellschaft mit. Schließlich zog sie ein Taschentuch aus dem Ausschnitt, putzte uns die Nasen, dass sie rot wurden und wir lachen mussten. "Geht's besser, Klein Erna?", fragte Änni. "Ich muss wieder hintern Tresen und die Welt bei Laune halten."
Änni stopfte mir Eukalyptusdrops, die eine ihrer süßen Leidenschaften waren, in die Jackentasche. Ich ging und hatte wieder etwas Mut.
Aber's wurde immer schlimmer mit mir. In der Schule hatte mich die Paulsen andauernd beim Kragen. Sie hatte nie Sie zu mir gesagt, jetzt sagte sie's meistens. "Warmbrunn", sagte die Paulsen, "Sie sollten mehr Selbstbeherrschung an den Tag legen. Letzten Endes entscheidet meine Beurteilung, wer auf die erweiterte Oberschule geht und wer nicht. Aus den Kinderschuhen sollten Sie ja nun wahrhaftig raus sein. Sie schweigen jetzt. Ich verbitte mir diesen Ton!" Ich muss in diesen Tagen allerhand Blödsinn angestellt haben. Und wenn man bedenkt, dass ich vorher ein "disziplinierter Charakter" war, verwundert's nicht, dass ich Miss Pompadour nervös und bissig und trittig machte. Ich kann nicht mehr wiedergeben, was ich alles an Unsinn aufgeboten habe, um mich abzulenken und aus dieser Stimmung rauszukommen.
Was die Paulsen fuchsig machte, war meine Neigung zu Fremdwörtern.
Das Gefecht mit Frau Paulsen spielte sich ungefähr so ab:
Paulsen: "Warmbrunn. Was soll das Gekicher? Stehen Sie bitte auf, wenn ich mit Ihnen rede."
Warmbrunn: "Frau Paulsen, ich ... "
Paulsen: "Schweig! Nehmen Sie den Rechenstab zur Hand. Den Rechenstab, habe ich gesagt! Nicht das Lineal."
Warmbrunn: "Frau Paulsen, ich ... "
Paulsen: "Halt! Erklären Sie erst einmal, was man unter der Hypotenuse und den Katheten eines rechtwinkligen Dreiecks versteht. Sag mal, was ziehst du denn für ein Gesicht?"
Warmbrunn: "Weiß nicht. Glaube, ich habe eine Blow-out- Fraktur."
Frau Paulsen: "Was hast du?"
Warmbrunn: "Fraktur des Orbitabodens mit hernienartigem Übertritt von Orbitainhalt in den Sinus maxillaris."
Frau Paulsen: "Nehmen Sie den Rechenstab zur Hand, Warmbrunn."
Warmbrunn: "Ich glaube, ich kann's nicht."
Frau Paulsen: "Was soll denn das heißen?"
Warmbrunn: "Wenn ich's auch wollte, ich könnt's nicht."
Frau Paulsen: "Warmbrunn! Ich gehöre auch zur Spezies Mensch! Treiben Sie es nicht auf die Spitze! Den Rechenstab, sagte ich. Und stellen Sie sich gerade hin! Ziehen Sie ein anderes Gesicht!"
Warmbrunn: "Ich tät's ja gern, wenn ich's könnte. Ihnen zuliebe. Das Orbitale Syndrom, Frau Paulsen. Das macht mir zu schaffen."
Frau Paulsen: "Das was ... ?"
Warmbrunn: "Enthemmung der Antriebs- und Willenssphäre, Euphorie, Moria, Minderung der Kritikfähigkeit, fehlende Krankheitseinsicht ... "
Die Paulsen gehörte zu den Leuten, die zusammenbrechen, wenn sie andere nicht mit ihrem Wissen belehren können. Die Frau wusste wirklich eine ganze Menge; aber ich hatte immer das Gefühl, dass sie sich selbst und andere damit quälte. Sie benutzte selber oft und gern Fremdwörter. Es tat ihr gut, wenn man ständig nachfragen musste, was dies und das heißt. Für unsere Auseinandersetzungen suchte ich mir immer schwierige, selten gebrauchte Wörter heraus. Ich lieh mir aus Bibliotheken Fachwörterbücher und ein Bibellexikon aus. Frau Paulsen konnt's einfach nicht verkraften, dass ich immer wieder Wörter fand, von denen sie in ihrem Leben noch nichts gehört hatte. Man konnte die Blässe unter ihrem Make-up erkennen.
Einmal begegnete ich ihr in einer Bibliothek. Sie hatte gerade das Wörterbuch der Antike in den Händen. Sie tat so, als hätte sie mich nicht gesehen, obwohl sie fast über mich gestolpert wäre. Damals tat sie mir kein bisschen Leid. Ohne mit der Wimper zu zucken, hätte ich zugesehen, wie sie kaputtgeht. War selber überrascht von meiner Grausamkeit.
Dabei hatte ich die Paulsen nie so übel gefunden. Sie drangsalierte uns zwar mit ihrer Bildung und ihrem Wissen, aber sie setzte sich auch für uns ein, ohne sich zu schonen.
Eines Abends tauchte Frau Paulsen ohne Voranmeldung in unserer Wohnung auf. Wir wohnten im vierten Stock unterm Dach. Es hatte anhaltend geklingelt. Ich war öffnen gegangen und sagte: "Sie?" "Guten Abend, Warmbrunn", sagte die Paulsen. Sie atmete ziemlich schnell. "Ich will Ihre Eltern sprechen."
Ich schloss die Tür auf Spaltbreite und sagte: "Die sind nicht da. Leider. Sind im Kino. Leider."
Die Paulsen sah mich prüfend an, wollte schon kehrtmachen, als Mutter, von Neugier geplagt, rief: "Na, wer ist's denn? Lass die Leute nicht an der Tür stehen!"
"Bitte", sagte ich kalt. "Treten Sie ein. Muss mich getäuscht haben."
Wir waren gerade beim Abendbrot. Vater studierte die Rennzeitung. Mutter sah die Annoncen in der Volkszeitung durch. Der Fernseher lief sich schon warm. Aus Mutters Augen sah der blanke Schreck, als sie meine Lehrerin erkannte. Sie sah erst mich an, dann Frau Paulsen, so als könnte sie mit ihren Blicken erraten, was passiert war. Mutter hat immer Angst, dass was passiert. Wenn im Fernsehen die Nachrichten kommen, geht sie raus. "Die Leute sollten in Frieden leben", sagt sie. Aber die "Leute" hören wohl nicht, was sie sagt, oder sie richten sich nicht danach. Meine Mutter arbeitet als "Chefsekretärin" in einer Metallbude. Wenn sie abends nach Hause kommt, weint sie manchmal und sagt, die Welt sei ungerecht, weil's immer die Kleinen erwische. Aber sie fängt sich bald wieder, indem sie wie wild die Fenster putzt, den Teppich saugt und mit dem Staubtuch hantiert. Ich kenne sie nur in mausgrauen Kostümen, schwarzen Rollkragenpullis und mit frisch gelocktem Haar.
Mutter schwirrte aufgeregt um die Paulsen herum. Bot ihr Platz an. Erkundigte sich nach dem Befinden. Schimpfte aufs Wetter. Stellte trotz Widerspruchs noch ein Gedeck auf den Tisch. Schenkte Vater und der Paulsen einen Klaren ein. Dabei fragten ihre Augen, was passiert sei. Und zugleich war sie nahe dran, aufzuspringen und in ihrer Küche zu verschwinden. Vater blieb ruhig. Nur die unzähligen Furchen in seinem Gesicht gerieten in Bewegung, von den Stirnmuskeln gezogen. Er legte die Rennzeitung in Reichweite, stand auf, und für Sekunden hielt er die Hand der Paulsen in seiner rauen warmen Hand. Gleich setzte er sich wieder. Trank auf einen Zug die zweite Flasche Bier leer. Vater arbeitet in der Gießerei. In einer mörderischen Hitze. Er ist klein und zäh. Seine Haut ist wie trockene Rinde. Er hat immer Durst. Meistens schläft er nach dem Abendbrot im Sessel vor dem Fernseher ein. Wenn das Programm zu Ende ist, weckt Mutter ihn, und sie gehen ins Bett. Vater ist sparsam mit Worten und mit Bewegungen. Was er tut, hat Hand und Fuß. An dem, was er sagt, ist was dran.
"Langen Sie nur zu, Frau Paulsen", sagte Mutter eifrig. "Die Leberwurst ist vom Pöltitz um die Ecke, dem Fleischer. Hier ist Schweizer Käse. Ich darf Ihnen doch nachschenken."
Ich saß auf meinem Stuhl, aß die vierte Schnitte, sah aufs Fernsehbild und tat so, als ginge mich das alles nichts an. Irgendwas musste ja passieren. Ich fühlte es schon lange. War zwar aufgeregt; aber alles in mir verlangte nach einem großen Krach.
Frau Paulsen musste trinken und essen. Es war ihr gar nicht recht, dass die Sache so anlief. Sie musste die Zügel in der Hand haben.
Meine Mutter: "Möchten Sie einen Kaffee? Ich koche Ihnen eine Tasse. Das macht mir gar keine Mühe. Wenn Sie wüssten, wie viele Tassen Kaffee ich jeden Tag kochen muss."
Frau Paulsen: "Frau Warmbrunn, ich ... "
Mutter: "Sie haben auch einen schweren Tag hinter sich. Lehrerin. Ich kann mir das vorstellen. Trinken Sie schwarz oder weiß?"
Frau Paulsen: "Ich bin gekommen ...“
Mutter: "Zucker! Natürlich Zucker! Conny, Mädchen, hast du eingekauft, was ich dir aufgeschrieben habe?" Sie wollte in die Küche entschlüpfen.
Frau Paulsen setzte das Schnapsglas hart ab und sagte wie zu einem ungehorsamen Schüler: "Bleiben Sie! Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu reden. Es geht um Ihre Tochter."
Mutter seufzte und setzte sich. Vater sah mich fragend an. Ich sah in den Fernseher und lachte, obwohl gerade gezeigt wurde, wie ein auf einem Dachgarten aufgestelltes Maschinengewehr eine Menge Menschen niedermähte.
"Dass ich hier bin, scheint Cornelia überhaupt nicht zu beeindrucken", sagte Frau Paulsen.
Ich sagte zum Fernseher: "Sancta simplicitas", was so viel wie "heilige Einfalt" bedeutet. Hatte nicht übel Lust, in ein neues Fremdwortgefecht einzusteigen. Sah aber das abgespannte Gesicht meines Vaters und schwieg.
Die Paulsen brachte sich in Lehrerpositur. Stand auf, trat hintern Stuhl, dass sie alle im Blick hatte. "Nun", sagte sie. "Ich sah mich gezwungen, Sie aufzusuchen. Ich mache mir Sorgen um die Entwicklung Ihrer Tochter. Ich habe Cornelia mit einer sechsten Klasse übernommen ... " Nun hielt sie einen zehnminütigen geschliffenen Vortrag über meine Entwicklungsgeschichte. Erzählte, was ich doch für ein lernbegieriges, diszipliniertes, hilfsbereites, gesellschaftlich aktives Kind gewesen und was ich nun für ein "Widerspruchsgeist" geworden wäre. Die schulischen Leistungen wären zwar noch immer ausgezeichnet, aber das Verhalten gäbe zu immer größeren Klagen Anlass. Wenn es mit mir so weiterginge, würde es nichts mit meiner Delegierung zur erweiterten 0berschule. Sie schloss mit einem strengen Blick auf mich und dem Satz, den sie mir schnell übersetzte: "Quasi vero mensuram ullius rei possit agere, qui sui nescit. Als ob der andere Dinge messen könnte, der selbst für sich kein Maß hat."
Die Paulsen blieb hinterm Stuhl stehen. Mein Vater hatte den Kopf gesenkt, als hätte das alles ihm gegolten. Meine Mutter trank eine Tasse Kaffee nach der anderen und schwitzte furchtbar. "Also das ist doch", begann sie immer wieder. "Ich weiß gar nicht Conny ..."
Und dann erzählte Mutter von "unserer Großen", die meine Schwester und das große Vorbild für mich ist. Helga ist acht Jahre älter als ich. Ich bin ein Nachzügler und sollte ein Junge werden. Unsere Große hat ihr Leben fest in der Hand. So sagen's alle Leute, die unsere Große kennen. In der Schule gab's nie Schwierigkeiten mit ihr. Spartakiadesiegerin im Sprint. Abitur mit Auszeichnung. Europameisterin auf der Hundertmeterstrecke. Silbermedaille bei den Olympischen Spielen. Heirat mit dem Zahnarzt Doktor Eisner. Sportlehrerdiplom. Neubauwohnung. Wartburg. Garage. Trainerin beim Sportklub. Meister des Sports. Vaterländischer Verdienstorden in Silber.
"Unsere Große", sagte Mutter, "die hat uns nur Freude gemacht. Aber glauben Sie mir, Frau Paulsen, unsere Conny ist nicht schlecht. In ihr steckt vielleicht nicht das Zeug wie in unserer Großen. Aber wir werden alles tun, damit sie ihre Sache macht. Verlassen Sie sich drauf. Sie sollen keinen Grund zur Klage mehr haben."
"Schön", sagte die Paulsen und sah meinen Vater an, der nicht den Kopf hob. Ich saß und konnte sehen, wie's in seinem guten Gesicht arbeitete. Ich hätte die Paulsen vergiften können.
Frau Paulsen sagte zu mir: "Ich hoffe, Cornelia, wir verstehen uns." Sie verabschiedete sich und ging wie Miss Pompadour aus der Manege.
Als die Paulsen weg war, ging Mutter in die Küche. Sie ließ die Türen etwas offen, um zu hören, ob und was Vater sagen würde. Aber Vater sagte nichts. Er blätterte in der Rennzeitung, sah aufs Fernsehbild. Immer wenn mit Mutter oder uns Kindern etwas nicht ganz in Ordnung ist, eine Krankheit, oder Mutter hat Ärger im Büro, macht es ihn stumm. Dann wirkt er wie ein alter Mann, völlig verbraucht, hilflos wie ein Kind. Nun wartete er, dass Mutter aus der Küche zurückkam. Und Mutter kam. Man konnte sehen, dass sie geweint hatte. Sie wusste genau, ich konnte sie nicht weinen sehen. Wenn ich mich gegen etwas sträubte und sie's schwer mit mir hatte, weinte sie. Dann tat ich, was sie von mir verlangte. Manchmal hasste ich sie dafür.
Sie räumte das Geschirr vom Tisch, und ich musste mir den Lebenslauf unserer Großen anhören. Bei so einem Lebenslauf verschlägt's jedem Normalbürger die Sprache. Die Wörter "Entbehrung, Entsagung, Ziel, Wille, Disziplin" kamen in Mutters Rede sehr oft vor. Solche Wörter wie "Freude, Spaß, Vergnügen, Lust, Spiel" benutzte sie dabei nie. Tatsächlich hat sie's immer geschafft, mit dem Lebenslauf unserer Großen meinen Ehrgeiz anzustacheln. Wie Helga wollte ich werden. Auf alles verzichten, um als Erste ins Ziel zu kommen. Mein Ziel kannte ich noch nicht. Aber meine Mutter und die Lehrer würden's schon rechtzeitig für mich ausmachen, wie sie's für unsere Große auch getan hatten.
An diesem Abend, nach dem Auftritt der Paulsen, regte mich der Lebenslauf der Großen zum ersten Mal zum Widerspruch an. Ich sagte irgendwas von einem fehlerlos programmierten Computer. Ich hätt's besser nicht gesagt. Meine Mutter weinte. Nannte mich undankbar und neidisch auf unsere Große, die doch so viel von ihrer kleinen Schwester halten würde. Mein Vater sagte zu mir: "Mach mal 'nen Punkt." Auf unsere Große lässt er nichts kommen. Es gab eine Zeit, da hatte er zu trinken begonnen, und es stand schlecht um ihn. Da hat Helga ihn aus den Kneipen geholt. Und sie hat's geschafft, ihn wieder zu Hause zu halten. Manchmal trifft Vater sich mit Helga in der Innenstadt. Ich habe sie mal beobachtet. Sie sind durch die Straßen gelaufen, und Helga hat die ganze Zeit auf Vater eingeredet. Vater hat nur genickt. Und manchmal hat er gelächelt, ist stehen geblieben, hat Helgas Hand gedrückt und hat zu ihr aufgesehen.
Mutter fing wieder an zu weinen. Und ich entschuldigte mich, versprach, dass ich mich zusammenreiße und alles wieder so sein würde, wie's gewesen war. Im Fernsehen lief das Schlagerstudio. Meine Mutter bekam einen Weinkrampf. Es ging ihr nicht gut in letzter Zeit. Zum Arzt wollte sie nicht. Sie fürchtete sich immer vor etwas ganz Schlimmem. "Mutter", sagte Vater, und sie wurde etwas ruhiger. Ich legte ein Versprechen nach dem anderen ab, wo und wie ich mich überall bessern wollte.
Vater schrieb sich das Gewicht und die Form der Pferde und Jockeis und was weiß ich noch alles aus der Rennzeitung. Er errechnet in einem komplizierten Verfahren den Sieger und die Einläufe. Er geht zu jedem Pferderennen. Wettet aber nie. Die Wetter holen sich Tipps von ihm. Er steht immer auf dem Sattelplatz, um die Pferde ganz nahe vor sich zu haben. Steigen die Jockeis in den Sattel, ist zugleich Glück und Traurigkeit in seinen Augen.
Meine Mutter beruhigte sich endlich und sagte: "Ach, Conny, Kind. Wir wollen doch nur dein Bestes. Dass du mal deinen Weg gehst. Wie unsere Große ihren Weg gegangen ist. Dass du es mal zu etwas bringst. Du sollst es gut haben. Du bist doch unser Kind."
In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Es war Frühling. In den Hinterhöfen schrien die Katzen. Über mir, auf dem Dachboden, hockte die Wärme des Tages. Auf der Straße fuhren die Lastwagen und Straßenbahnen. Und doch erschien mir die Stadt bedrückend still.
Ich hörte, wie Änni die Tür vom "Roten Hirsch" abschloss. "Ab durch die Mitte", sagte Änni. "Jeder Fritz geht hübsch ruhig zu seiner Erna. Und jede Erna geht auf Zehenspitzen zu ihrem Fritz. Stört die Nacht nicht, Leute."
Weiß nicht, was mich nicht schlafen ließ. Dachte, es stieg aus dem Duft der alten Linde, die in unserm Hof blühte. Wusste nicht, wohin mit mir. Hätte laut schreien oder singen können.
Ich bin heimlich zu Änni runter. Sie saß in ihrem "Geschäftsraum" auf dem Bett und legte sich die Karten. Die Fenster waren geschlossen. Es war kühl im Zimmer. Es roch nach Bier, Tabak und Bockwurst. "Änni", sagte ich. "Schick mich bitte nicht weg. Bitte nicht."
"Zitterst ja, Klein Erna", sagte Änni. "Nun mach's mal halblang. Leg dich ins Bett. Na los schon."
Ich kuschelte mich in ihr riesiges Bett, das so sanft schaukelte, als befände man sich in einem Boot auf einem freundlichen Wasser. Änni setzte sich in einen Sessel und schaltete das Licht aus. Sie sagte: "Das musst du aushalten. Jede Frau muss das. Träum was Schönes."