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5.

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In der Schule war ich wieder die leistungsstarke, zielbewusste, disziplinierte Schülerin. Meiner Delegierung zur Oberschule stand nichts mehr im Weg. Meine Lehrer rühmten mich. An den Elternabenden wurde ich als Vorbild hingestellt. Meine Eltern atmeten auf. Im Haushalt brauchte ich nicht viel zu tun. "Kümmere dich nur um die Schule", sagte Mutter. "Ich schaffe das schon allein." Unsere Große, die mit dem Doktor zu Vaters Geburtstag kam, sagte zufrieden: "Na, siehst du, Schwesterehen. Es geht alles. Man muss nur wollen."

Ich wusste nicht, was ich wollte. Tat nur, was man von mir erwartete. Wollte keinen Ärger mehr machen. Fühlte mich sehr schlecht in dieser Zeit. Richtig krank. Wie mit Sprengstoff aufgeladen. Immer kurz vorm Explodieren. Steckte alles in mich rein. Hätte nie gedacht, was man alles wegstecken kann. Aber in mir rumorte es unaufhörlich. Selbst nachts kam ich nicht zur Ruhe. Dann fühlte ich mich schlapp, hatte Kopfschmerzen, es schmeckte mir nichts. War ohne jede Lust.

Manchmal wollte ich sterben. Ich malte mir das schön aus. In der warmen Erde zu liegen. Ganz ruhig zu sein. So von innen heraus ruhig. Nur ein paar Käfer und so 'n Zeug würden auf einem rumkrabbeln. Aber das war auszuhalten. Meine Nachbarn, links und rechts in den Gräbern, waren alte Leute. Geschichten- und Märchenerzähler allesamt. Irgendwo über mir, in der Ferne, wurden Wettrennen veranstaltet. Kleine Mädchen rannten, um als Erste am Karton zu sein. Der Regen schlug auf die Blätter und Gräser. Ich kuschelte mich in die Erde und bat die Alten zu erzählen. Wunderschöne Geschichten hörte ich da. Und ich fühlte mich geborgen. War ruhig, so wunderbar ruhig.

Ich war ziemlich durcheinander damals. Aber dieses Gefühl, diese Angst und diese Hoffnung in mir, wären noch stärker geworden. Ich begann wieder mit Puppen zu spielen. Heimlich natürlich. Ich schrieb Gedichte über die Natur, die ich nicht kannte. Malte Bilder von schönen Mädchen. Es waren meistens Prinzessinnen und Mädchen aus dem Bürgertum. Ich konnte sie kostbar kleiden und mit dem teuersten Schmuck behängen. Aber alles, was ich anpackte, blieb tot. Meine Lieblingspuppe Nelly, die einmal für mich so lebendig gewesen war wie nur irgendein Kind, glotzte mich aus gläsernen Augen an. Ihr apparatenes "Mama" machte mich wütend. Wie enttäuscht ich war! Hatte etwas verloren und noch nichts wieder gewonnen. Ich stürzte Nelly aus dem Fenster in den Hof. Sah zu, wie ein kleines Mädchen sie behutsam wegtrug.

Ich warf mich auf den Sport. Zum zweiten Mal. Hatte vorher, wie unsere Große, Sprint trainiert. Aber ich habe nicht die Maße. Bin zu klein und zu zierlich. Ich ging zum Weitsprung. Unsere Große vermittelte mich an den Klub. Sie hätte es gern gesehen, wenn ich in ihre Fußstapfen getreten wäre. Ich quälte mich im Training redlich ab. Wollte was tun gegen dieses Brodeln in mir. Wollte was Ungewöhnliches leisten. Aber ich blieb bei meiner Anfangsleistung. Sprang keinen Zentimeter weiter, wie ich mich auch quälte. Der Trainer versuchte alles mit mir. Schon unserer Großen zuliebe, die überall geachtet war. Eines Tages nahm er mich beiseite und sagte: "Mensch. Muss es denn der Weitsprung sein? Wenn es dir Spaß machen würde. Wenn was dabei herauskäme. Die Welt geht nicht unter, wenn du nicht mehr springst."

Ich trainierte noch verbissener. Verkrampfte mich immer mehr. Sprang immer kürzer. Unsere Große, die mit dem Trainer über alles gesprochen hatte, sagte endlich: "Ach, Schwesterchen. Versuche es doch mal mit künstlerischer Gymnastik."

Die künstlerische Gymnastik gefiel mir gut. Ich bin nur so unmusikalisch. Kann Musik nicht in harmonische Bewegung umsetzen. Singen kann ich. Aber mit dem Tanzen habe ich so meine Schwierigkeiten. Denke mir, das Ganze ist eine Art Hemmung. Als ich die ersten Male in die Disko ging und mit Jungen tanzte, kam ich gewaltig ins Stolpern. Weiß nicht, warum. War einem Jungen bewusst noch nie so nahe gewesen.

Mit der künstlerischen Gymnastik wurde es also auch nichts.

Ich gab den Sport zum zweiten Mal auf. Meine Eltern waren traurig darüber. Vater sagte: "Machst ja sonst deine Sache." Mutter erzählte von unserer Großen. Wie hart sie an sich gearbeitet hatte. Dann nahm sie mich in die Arme und sagte, den Tränen nahe: "Du bist eben mein kleines Schaf." Das war natürlich auch kein Trost. Unsere Große drängte mich nicht weiter. "Es muss ja nicht der Sport sein", sagte sie. Begeistert klang das nicht. Sie fügte hinzu: "Du gehst schon deinen Weg. Ich vertraue dir. " Das hatte sie schön gesagt. Ich war ihr dankbar. Wusste eben nur nicht, was mein Weg war. Aber's sollte ein Weg sein, wo ich als Erste am Karton war. Wo die Leute auf mich sahen, wie sie auf unsere Große gesehen hatten.

Durch Änni entdeckte ich die Kunst. Für den Zirkus hatte ich ja schon immer viel übrig gehabt. Und Änni war eine vom Bau. Durch und durch. Sie war selbst ein großer Zirkus. In ihr steckten all die Kraftakrobaten, Kunstreiter, Clowns, Zauberer, Trapezkünstler, all die Tiere, das Zelt und der Sand, die Scheinwerfer und die Requisiten, all das, was die schillernden Farben bringt, die lauten Töne, das Lachen, das aus dem großen Staunen kommt, all das, was man Zirkus nennt und ein Wunder für Kinder ist. Clown wollte ich inzwischen nicht mehr werden. Das erschien mir nicht mehr passend für mich. Seit der Jugendweihe hatte der "Ernst des Lebens" begonnen. So hatte ich's von allen Seiten gehört. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, es passte meinen Eltern und unsrer Großen nicht, wenn ich Clown werden würde. "Das Leben ist nicht über die eigenen Beine stolpern, sondern laufen lernen", hatte unsere Große einmal gesagt.

Aber nicht nur der Zirkus war für Änni Kunst. Sie schwärmte geradezu für die Oper. War eine Premiere, warf sie sich in Schale und ließ sich im Taxi zum Opernhaus fahren. Schon lange vorher war sie ganz aufgeregt. Sie schloss den "Roten Hirsch" wegen "technischer Schwierigkeiten". Aus ihrem Geschäftsraum hörte man sie die Arien aus dem Stück, das gegeben wurde, singen. Sie begleitete sich auf einem alten Klavier, an das sie niemanden ranließ. Die Leute standen im Treppenhaus und hörten ihr zu. Änni sang mit dunkler warmer Stimme: "Man nennt mich jetzt Mimi ... " Die Leute waren ganz gerührt. Oma Jensen weinte jedes Mal und sagte: "Herrgott, wie schön. Sie ist ein gesegnetes Menschenkind, die Änni: singt wie eine Heidelerche. O nein!" Wenn Änni geendet hatte, klatschten alle Beifall. Da trat Änni aus der Wohnungstür. Eine gewaltige Erscheinung. Im langen metallisch schimmernden Abendkleid, im Haar noch die großen Lockenwickler. Änni lächelte und verbeugte sich mehrmals. "Danke", sagte sie leise und bescheiden. "Danke, Fritz. Danke, Erna." Dann ging sie in ihren Bierladen zurück, um sich die Lockenwickler aus dem Haar zu rollen.

Von der Malerei verstand Änni nichts. So sagte sie. Sie mochte nur die Bilder von Rubens. Die Frauen konnten ihr nicht massig genug sein. "Ich bin nun mal 'ne Sünderin", sagte Änni. "Ich liebe alles Fleisch." Vom Bücherlesen hielt Änni auch nicht viel. Auf ihrem Nachttisch lagen drei Werke. Die las sie immer wieder einmal. Das waren Jean Pauls "Siebenkäs", "Der grüne Heinrich" von Gottfried Keller und Scholochows "Stiller Don". Sie sagte, diese Bücher seien wie alte Truhen aus dem Märchen. Bei jedem Durchstöbern fände man Neues. Wenn mir ein Buch gefiel, wollte ich sie überreden, es auch zu lesen. Änni winkte ab. "Über meine Zeit braucht mir niemand was zu erzählen", sagte sie. "Ich habe doch Augen und Ohren. Im 'Roten Hirsch' erfahre ich mehr als aus dem dicksten und klügsten Buch." Sie ist nun mal so. Wenn sie eine Meinung hat, ist sie schwer davon abzubringen. Zu mir aber sagte sie: "Lies nur. Lies, Klein Erna."

Vor der Schauspielkunst hatte Änni die allerhöchste Achtung. Ihr Fritz, mit dem sie verheiratet und der ihre große Liebe gewesen war, hatte als Kellner der Kantine des Städtischen Theaters von A. gearbeitet. Bevor er zum Zirkus ging und Änni Jolly Eisenarm wurde. Wenn mal Not am Mann war, holten die Theaterleute ihn auf die Bühne. Er durfte dann als Diener des Grafen Soundso ein silbernes Tablett über die Bühne tragen. Einmal musste er sogar etwas sagen: "Wünschen der Herr Graf zu speisen?" Änni, die damals noch in A. wohnte und als Köchin in einer Betriebskantine arbeitete, war in jeder Vorstellung, wenn ihr Fritz seinen großen Auftritt hatte. Es sei ihr durch und durch gegangen, sagte sie. So vollkommen hätte Fritz gespielt. Und jeder, der was von der Schauspielkunst verstand, hatte erkennen müssen, dass ihr Fritz der geborene Schauspieler war. Aber wer versteht schon was vom Theater? Für Änni waren die meisten Leute Kunstbanausen. Sie gingen nur ins Theater, weil sie eine Karte geschenkt bekommen hatten oder weil der Fernseher kaputt war. Sie guckten überall im Saal herum, ob der Fritz oder die Erna auch da wären, ob sie gut oder schlecht aussähen, was sie für Garderobe anhätten und auf welchem Platz sie säßen. Sie spielten ihre eigene Rolle. Auf der Bühne hätte ein Löwe auftreten können; sie hätten's nicht gemerkt. Der Beweis für Ännis Einschätzung war, dass die Leute nicht Szenenbeifall gaben, als ihr Fritz das Tablett über die Bühne trug.

Stammgast im "Roten Hirsch" war auch ein alter Schauspieler. Änni bediente ihn vorrangig. Wenn er eintrat, sagte sie zu ihm: "Welche Freude, Herr Fritz. Wie war die Vorstellung? Hier, dein Bier angewärmt. Der doppelte Korn. Die gute alte Schwarze." Sie gab ihm Feuer für die Zigarre und erzählte, dass sie einmal ein Theater eröffnen werde, und gleich im ersten Stück sollte einer ein Tablett über die Bühne tragen und sagen: "Wünschen der Herr Graf zu speisen?" Dann würde ihr Fritz schon zu ihr zurückkommen. Nichts würde sie ihm nachtragen. Er würde alle großen tragischen Rollen spielen, den Lear, den Richard, den Hamlet. Das Theater sollte heißen: "Jolly Eisenarms tragische Bühne". In Klammern: "Worauf mit Kunst gezeigt wird, wie das Leben so spielt."

Der Schauspieler hieß Tröge. Er war ein großer kräftiger Mann, hatte borstige eisgraue Haare und ein breites grimmiges Gesicht. Wenn er in den "Roten Hirsch" trat, beide Hände hob und mit tiefer Stimme "Hallo!" sagte und alle Leute ihr Gespräch unterbrachen, das Bierglas absetzten, ihn ansahen und wieder mit "Hallo!" grüßten, war alles gut.

Dann war Herr Tröge bester Laune. Er mischte sich unters Volk, spielte Skat, würfelte und gab manchmal mit hallender Stimme irgendeine Stelle aus irgendeinem Stück zum Besten. Stand auf, räusperte sich, bis Ruhe eintrat, und sprach: "Einst hatt ich einen schönen Traum; da sah ich einen Apfelbaum, zwei schöne Äpfel glänzten dran, sie reizten mich, ich stieg hinan.“

Wenn er geendet hatte, gab's einen Riesenjubel. Herr Tröge winkte bescheiden ab, setzte sich und reizte bei sechsunddreißig weiter. Kam's aber mal vor, dass seinen Eintritt niemand beachtete, trank er Bier und doppelten Korn im Stehen und drückte die gute alte Schwarze bald wieder aus. Er küsste Änni die Hand, schaute verächtlich in die Runde und ging. Ein geschlagener Mann. Meistens kam er dann zu uns herauf. Saß bis in die Nacht hinein mit Vater über der Rennzeitung. An den Renntagen gingen sie sich aus dem Weg. Da wollten sie mit den Pferden allein sein. Obwohl sie beide im Gedränge des Sattelplatzes standen. Aber vorher betüftelten und berechneten sie jedes Rennen. Waren wie kleine Kinder, die aus Sand eine Burg bauen wollen. Dabei durfte man sie um Himmels willen nicht stören.

Durch Herrn Tröge erfuhr Änni, dass Mädchen und Jungen für die Schauspielschule gesucht wurden. Es stand auch eine Annonce in der Volkszeitung, die Änni für mich ausgeschnitten hatte. Wer Lust an der Schauspielerei hatte, sollte sich auf eine Voreignungsprüfung vorbereiten. Wer diese Prüfung bestand, sollte von der Schauspielschule bis zur eigentlichen Aufnahmeprüfung betreut werden.

Ich war ja zurzeit ganz unten und wollte doch so hoch hinaus. Unserer Großen, meinen Eltern und aller Welt zuliebe. Änni ließ mich gar nicht wieder aus ihren Armen. Sie war ganz von ihrer Idee ergriffen. "Klein Erna", sagte sie. "Menschenskind! Ich hab's. Du wirst Schauspielerin! Der Sport ist ja ganz schön. Aber er ist nichts gegen die Kunst." Sie erzählte mir alles, was sie von ihrem Fritz übers Theater wusste. Sie sagte, es gäbe so viele wunderbare Rollen zu spielen, für die's nur keine Schauspieler gäbe, weil niemand richtig ein Tablett über die Bühne tragen könne. Ich sei so ein zartes Ophelchen und Gretchen. Und wenn sie erst ihr Theater hätte, würde ihr Fritz den König Lear und ich dessen Tochter Cordelia spielen.

"Ja, aber ... ", sagte ich.

"Bei der Schauspielerei gibt's kein Aber", sagte Änni. "Da gibt's nur ein: Seht her, ich bin's!"

"Ja, aber ... ", sagte ich.

"Brauchst dich nicht zu verstecken, Klein Erna. Bist jung und gesund. Willst doch den Menschen was geben von dir. Na, siehst du. Das kannst du mit der Kunst am besten."

Änni stellte mich Herrn Tröge vor, obwohl der mich längst kannte. Sie sagte: "Das ist Klein Erna von Warmbrunns. Sie will Schauspielerin werden. Kannst du was für sie tun?"

Herr Tröge sah mich an, als hätte er mich zum ersten Mal vor Augen. Er fasste mich an den Schultern und drehte und wendete mich. Und Änni sprach auf Herrn Tröge ein: "Sieh sie dir genau an. Ist doch ein gerades, hübsches Kind. Die hat den Ausdruck. Der fließt Theaterblut in den Adern. Da brauchst du keine Brille. So was spürt man. Das wird eine Ophelia, dass sich alle Theater die Finger danach lecken. Mehr brauche ich dir nicht zu verraten, Herr Fritz."

"Donner und Doria, gib Ruhe, Änni", sagte Herr Tröge. Er fragte mich: "Warum willst du Schauspielerin werden, Kind?"

"Ich ... ", sagte ich.

"Weil die Bühne sie ruft", sagte Änni. "Weil sie den Drang spürt. Weil sie ... "

"Keine Metaphysik", unterbrach Herr Tröge. "Ich hätte es gern von ihr selbst erfahren. Rede, Kind."

Änni nickte und nickte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Schloss die Augen. Stellte mir vor, wie ich mich auf der Bühne bewegen würde. Schließlich brachte ich heraus: "Ich stell's mir nicht schlecht vor. Man ist mit vielen Menschen zusammen. Man spricht miteinander. Und ... "

"Ja. Und? Und?", drängte Änni.

"Und man kann spielen."

"Ja. Spielen", sagte Herr Tröge nachdenklich. "Das ist das Wort. Man kann spielen."

"Und? Und?", fragte Änni. "Was ist dein Eindruck? Steckt in ihr nicht eine Schauspielerin?"

"Das kann man so nicht sagen", meinte Herr Tröge. "Soll sie es versuchen. Versuche es, Kind. Spielen. Das ist das Wort."

Er kam nicht drüber weg. Viel später noch sah er mich versonnen an und sagte: "Und man kann spielen. Ja. Spielen. Das ist das Wort."

Änni bearbeitete Herrn Tröge, dass er mit mir die zur Eignungsprüfung verlangten zwei Gedichte und zwei Spielszenen einstudieren solle. Herr Tröge wollte davon nichts wissen, obwohl Änni nicht kleinlich war und ihm ein Vierteljahr lang Freibier anbot. "Die Prüfungskommission soll sich ihr eigenes Bild machen können", sagte Herr Tröge. "Sie sollen das Kind so sehen, wie es ist. Soll sie herauslassen, was in ihr steckt."

Herr Tröge blieb fest. Es wäre fast zum Streit zwischen Änni und ihm gekommen. "Eins steht fest!", rief Änni. "Sollte Klein Erna scheitern, hast du sie auf dem Gewissen!"

Der Termin der Eignungsprüfung lag nahe. Änni war meine strenge Lehrmeisterin geworden, Von meinen Eltern hatte sie das Einverständnis geholt, dass ich an der Prüfung teilnehmen konnte. Auch die Schule war informiert worden.

Meine Eltern hatten anfangs überhaupt nichts davon wissen wollen. Irgendwie stand die Schauspielerei für sie in dem Ruf eines wilden, zügellosen Lebens. Mutter erinnerte sich sofort an die B. B., die in ihrer Karriere durch eine Menge Betten gegangen sei. Auch mein Vater war für ein "geregeltes, ehrliches Leben". Aber wenn Änni was wollte, dann setzte sie's fast immer durch. Sie erzählte von ihrem Fritz und davon, wie er's Tablett so "stilvoll" über die Bühne trug. Und sie verglich die Leistungen unserer Großen im Sport mit den Leistungen in der Kunst. Kunst und Sport seien miteinander verwandt, sagte Änni. Beide zeigten den Menschen, was sie Großes leisten könnten.

In der Schule sprach Frau Paulsen mit mir. Sie fragte, ob ich mir das auch richtig überlegt hätte. Als ich ja sagte, begann sie zu tänzeln. Das wäre doch nur eine Laune von mir, sagte sie. Eine Schnapsidee. Ich sollte Vernunft annehmen. Mit meinen Leistungen könnte ich alles werden. "Ja", sagte ich. "Ich werde Schauspielerin."

Änni wusste, was in mir vorging. Das war dieses Etwas, das in ihr selbst noch nicht tot war. Sie war immer voller Erwartung. Voller Freude, die die Angst kennt. Darum verstand sie mich.

Jeden Tag nach der Schule "studierte" Änni mit mir die Rollen ein. Wegen "technischer Schwierigkeiten" öffnete sie den "Roten Hirsch" später. Herr Tröge hatte für mich zwei kurze Spielszenen ausgesucht. Die eine war aus Viktor Rosows "Unterwegs". Es war die, in der Sima dem Wolodja auf dem Bahngelände hinterherrennt. Die andere Szene war dem "Nackten König" von Jewgeni Schwarz entnommen. Ich musste die Prinzessin Henriette spielen. Wie sie vor ihren Hofdamen den Schweinehirten Heinrich hundertmal küsst. Ziemlich peinlich, die Angelegenheit. Außer meinem Vater hatte ich in meinem ganzen Leben noch keinen Mann geküsst. Und nun gleich hundert Mal.

Die Gedichte wählte ich selber aus. Als Frau Paulsen merkte, dass sie mich nicht von der Schauspielerei abbringen konnte, schenkte sie mir ein Buch: "Georg Maurers immerwährender Dreistrophenkalender". Das sind Gedichte von der Art, dass sie jeder verstehen kann. Es ist, als könnte man's anfassen, riechen, schmecken, hören, sehen. Daraus wählte ich das Gedicht "Froher Morgen".

Streckt euch, Zweige, erwacht!

Ich habe ein Ei gegessen und weißes Brot.

Mein ganzer Leib lacht.

Die Nachtsorgen sind tot.

Ich bin aus den Nachtsorgen gekrochen

wie ein Vogel aus dem Ei.

Ich habe die Schale durchbrochen

und spaziere jetzt frei

Ich weiß jetzt, was die Hühner wissen,

wenn sie picken.

Ich weiß, wen die Raben grüßen,

wenn sie mit dem Kopfe nicken.

Das andere Gedicht hieß "Bewaffneter Friede". Es ist von Wilhelm Busch. Ich hatte es in der Schule schon oft vorgetragen. Zu Elternabenden und Schulfeiern. Hatte dafür immer viel Beifall bekommen.

Das "Studieren" der Rollen, das "Spielen" machte mir Spaß. Ich dachte nicht mehr so viel an Werner Branstner. An manchem Tag vergaß ich, in den Briefkasten zu sehen. Ich hatte ein Ziel und musste dafür arbeiten. Man hatte mir in einiger Entfernung einen Karton hingestellt. Und ich wollte ihn unbedingt haben. Wollte wissen, was darin ist.


Wie ein Vogel aus dem Ei

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