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4.

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Obwohl ich schnelle Besserung versprochen hatte, legte ich mich doch immer wieder mit Frau Paulsen an. Werner Branstner schrieb nicht.

Die Mädchen meiner Klasse hatten alle einen Freund. Die Jungen aus unserer Klasse fand ich für die Liebe nicht brauchbar. Sie waren für mich wie Brüder, mit denen man oft im Streit liegt. Meine Freundin Susanne, mit der ich sonst jede freie Minute zusammen gewesen war, ging mit Albert Kreisler aus der zehnten Klasse. Susanne spielte vor mir die First Lady. Behandelte mich wie ein Küken. Erzählte mir alles, was sie mit Albert Kreisler erlebte, bis ins Kleinste. Es war andauernd von Disko, Spaziergängen im Mondschein und Küsserei im Hauseingang die Rede. Albert Kreisler war ein lang aufgeschossener, pubertierender Junge, der mit Schwefelpuder gegen seine Pickel kämpfte. Wenn er lachte, steckte er den kleinen Finger seiner rechten Hand ins linke Nasenloch. Er lachte ziemlich oft. Ich hätte den Jungen nicht geschenkt genommen. Trotzdem machte's mich fuchsteufelswild, wenn Susanne von ihrem Zusammensein mit ihm erzählte.

Eines Tages erzählte sie mir lang und breit, dass sie eben von Albert Kreisler komme und mit ihm geschlafen habe. Ich bat sie aufzuhören, doch sie ließ nichts aus. Da schlug ich sie ins Gesicht. Sie langte zurück. Wir prügelten uns mächtig. Eine ganze Woche sprachen wir keinen Ton miteinander. Später gestand sie mir, dass sie die Geschichte aus mehreren Büchern zusammengereimt hatte. Aber ich hatte es ihr geglaubt. Und ich glaubte auch den anderen Mädchen, was sie erzählten. Ich fühlte mich scheußlich einsam und zurückgelassen.

Da ich nach Meinung meiner Mutter auf dem besten Weg war, "aus der Art zu schlagen", wurde unsere Große informiert. Helga war sofort zur Stelle. Das heißt, sie schrieb mir eine Karte, mit der sie mich "zwecks Aussprache" aus "terminlichen Gründen" ins Sportforum an die Aschenbahn bestellte. Das war natürlich Taktik. Ich hab's damals nur nicht erkannt. Nach einer kurzen Umarmung ließ sie mich erst einmal an der Sprintstrecke stehen und zusehen, wie sie "ihre Mädchen" auf Trab brachte. Die Mädchen waren alle jünger als ich. Sie himmelten unsere Große an, dass es mir schon peinlich war. Aber unsere Große schien das überhaupt nicht wahrzunehmen. Sie war wie immer ganz bei der Sache. Und ihre Sache war, kleine Mädchen, die lieber mit ihren Puppen gespielt hätten, zu Spitzensprinterinnen zu trainieren. Ich muss zugeben, unsere Große machte ihre Sache geschickt. Sie hatte aus dem Training eine Art Spiel entwickelt, dessen Grenzen von ihr bestimmt wurden. Kam's vor, dass eins der Mädchen einen Ausbruchsversuch unternahm, erklärte unsere Große das als einen Regelverstoß. Die anderen Mädchen reagierten sofort und verlangten die Bestrafung des Mädchens. Die Bestrafung war, dass sie vom nächsten Spiel ausgeschlossen wurde. Unsere Große nannte jedes Training Spiel. Die Mädchen waren ganz versessen darauf, obwohl sie aus dem Schwitzen nicht rauskamen. Strengte eins der Mädchen sich besonders an, stellte unsere Große sie vor den anderen heraus.

"Seht euch mal Regina an", sagte sie. "Wie hoch sie das Bein bekommt. Und noch einmal. Spitze, Regina!" Nun versuchten alle, ihre Beine höher zu schwingen, als Regina das getan hatte. Ich sagte ja schon, unsere Große verstand ihre Sache. Dabei blieb sie immer freundlich, wurde aber nie kumpelhaft, war hart und gerecht. Sie hielt die Zügel fest in den Händen, und die Mädchen waren damit einverstanden. Zum Schluss des Trainings gab's einen Wettlauf über fünfzig Meter. Ans Ziel legte unsere Große immer eine Überraschung, ein Geschenk für die Siegerin. Das sind Kleinigkeiten, die kleinen Mädchen große Freude machen: ein paar Stammbuch- oder Abziehbilder; ein Emaillekäfer zum Anstecken; ein Faserstift; ein Stück Kreide; Puppensachen. Jedes Mädchen wollte als Erste den Karton, der das große Geheimnis barg, in den Händen halten. Eins der Mädchen wurde von einem anderen knapp geschlagen. Die Siegerin jubelte. Sie hatte im Karton ein Geschicklichkeitsspiel gefunden, bei dem man winzige Kugeln in ein Loch bringen muss.

Die Verliererin weinte. Konnte sich gar nicht beruhigen. Es war das Mädchen, das vorhin das Bein am höchsten bekommen hatte. Unsere Große sagte: "Na, na, Regina! Wer wird denn weinen. Aber doch nicht unsere Regina. Sieh nur, dort schaut uns jemand zu. Viele Menschen sehen dir später einmal zu. Sollen die denken, dass du schwach bist?"

Das Mädchen sah zu mir und versteckte ihr Gesicht hinter den Händen. Nach ein paar Sekunden nahm sie die Hände vom Gesicht. Sie weinte nicht mehr. Sie sah aus, als wäre ihr eine künstliche Haut übers Gesicht gezogen worden. Ich konnte einfach nicht mehr in dieses Gesicht sehen, das eben noch so traurig gewesen war und nun lachte.

Unsere Große übergab die Mädchen ihrer Assistenztrainerin, die die Laufzeiten notiert hatte und die Kleinen nun unter die Duschen führte.

Helga legte ihren Arm um meine Schulter und ging mit mir die Aschenbahn rauf und runter. Sie ist einen Kopf größer als ich. Hat eine gute Figur. Gerade, straffe Haltung. Beim Gehen spielten ihre Beinmuskeln. Ihre Hand drückte meinen Oberarm. Unsere Große hat Kraft wie ein Pferd. Ihre Haare trägt sie ziemlich kurz. Das Gesicht ist klein und herb. Mich erinnert's an eine Blume, wenn sie sich abends schließt. Ihre Augen halten einen immer auf Entfernung. In der Zeitung, nach ihren Siegen, habe ich sie richtig lachen sehen. Ich glaube, sie sieht gut aus, unsere Große. Wundere mich nur, dass die Jungen nie hinter ihr her waren.

"Schön, dich zu sehen", sagte sie. "Na, wie hat dir das Training gefallen?"

"Die Kleine", sagte ich, "die verloren hat. Hättest du ihr nicht auch so ein Spiel geben können?"

"Nächstes Mal gewinnt sie", sagte Helga und drückte meinen Arm. "Du solltest sie nächstes Mal laufen sehen. Das Mädchen hat die besten Voraussetzungen. Für ihr Alter ideale Werte."

"Und was machst du mit der anderen? Die dann verliert?"

"Ich muss mit dir reden, Schwesterchen. Es sind Klagen gekommen über dich. Sag mal, was ist los? Du hast doch sonst immer deine Sache gemacht."

Sie konnte es nicht begreifen, dass man mal seine Sache nicht mehr macht. Ich konnt's ja selbst nicht. Schämte mich vor unserer Großen.

Ich sagte: "Ich will wissen, was aus der anderen wird."

"Aus welcher anderen?"

"Kannst du denn nicht auch mal für die anderen, die verlieren, einen Karton hinstellen und was reintun?" Unsere Große hielt mich fest im Arm. Ich musste zu ihr aufsehen, und sie sagte: "Ich dachte, du hättest etwas gelernt, Schwesterchen. Was glaubst du, was wäre, wenn ich für jede einen Karton hinstellen würde?"

"Das ist mir egal", sagte ich. Ich war, weiß nicht, warum, den Tränen nahe. "Ich find's gemein, dass du nur immer einen Karton hinstellst. Hundsgemein finde ich's!"

Am liebsten hätte ich mich losgerissen und wäre davongerannt. Aber es hätte ja keinen Sinn gehabt. Keine zehn Meter, und sie hätte mich eingeholt. Einem Sprinter läuft man nicht davon. Unserer Großen nicht.

Sie sagte: "Nun hör mir mal zu, du Dummerchen. Das ist nicht gemein. Das ist ehrlich. Nur einer kann siegen. Und der trägt den Gewinn davon. Wenn dieser Anreiz nicht wäre, gäbe es keine Entwicklung. Es fehlte die Triebkraft. Die Mädchen würden sich Zeit lassen, um an die Kartons zu kommen. Es käme kein Lauf zustande."

Ich war verteufelt wütend auf unsere Große, weil sie nicht jedem Mädchen einen Karton hinstellen wollte. Ich wusste, sie würde es nie tun, und wenn sie Berge von solchen Kartons mit schönen Sachen drin hätte. Sie würde die Mädchen immer rennen lassen. Nur die Erste würde ihren Karton bekommen. Das machte mich wütend und traurig. Und hilflos. Kam mir so ausgeliefert vor. Hatte Angst, ich müsste rennen und würde den Karton nicht erwischen.

"Ist dir kalt?", fragte Helga und legte mir ihre Trainingsjacke um die Schultern. Sie ging mit mir zu ihrem Campingbeutel, der am Rand der Aschenbahn stand. Mit dem ersten Griff hielt sie eine Tafel Nussschokolade in der Hand. Wir setzten uns ins Gras. Sie brach die Schokolade. Wir aßen sie Stück um Stück auf. Ich war völlig erschossen. Unsere Große naschte Schokolade. Ich legte meinen Kopf auf ihren Schoß. Sie streichelte mein Haar. Ganz zart. Das war schön. Ich hätte es lange so ausgehalten. Aber ich merkte, wie sich ihre Muskeln spannten. Sie setzte sich gerade. Brachte mich in den Sitz. In ihren Augen war wieder diese Entfernung. Ihre Beinmuskeln wölbten sich. Ich hatte sie mal angefasst. Sie sind hart wie Stein.

"Zur Sache, Schwesterchen", sagte unsere Große. "Der Doktor wartet auf mich. Wir wollen ins Kino." Sie nannte ihren Mann, den Zahnarzt, der Fred heißt, immer den Doktor. Sie schaute auf ihre Uhr und sagte: "Beichte mal."

Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte. Als ich mit dem Kopf auf ihrem Schoß lag, hätte ich was sagen können. Jetzt musste ich wieder an das Mädchen denken, das keinen Karton bekommen hatte.

Unsere Große zog mich hoch. Sie legte wieder ihren Arm um meine Schulter. Wir gingen die Aschenbahn auf und ab. Sie erzählte mir vom Leben, das seine Forderungen an jeden Menschen stellt. Dass es Einordnung verlangt, denn der Mensch ist ein kollektives Wesen. Dass es ein Ziel verlangt, das man nicht aus den Augen verlieren darf, Dass es Verantwortung verlangt. Parteilichkeit. Höchsten Einsatz. Ausdauer. Mut. Kraft. Persönlichkeit.

Unsere Große erzählte alles übers Leben, was bestimmt gut und richtig ist. Aber ich konnte es einfach nicht hören an diesem Tag. Ich nickte zu jedem Wort, um sie ja nicht misstrauisch zu machen. Dann wäre sie mit mir bis Mitternacht die Aschenbahn auf und ab gelaufen, hätte mich an der Schulter gefasst, auf mich herabgesehen und vom Leben erzählt. Der Doktor hätte warten können, bis er schwarz geworden wäre.

"Hast du mich begriffen, Schwesterchen?"

"Ja. Ja doch. Ja!"

"Gibst du dir einen Ruck? Versprichst du es?"

"Ja. Ja."

"Du bist eine Warmbrunn. Vater muss schwer arbeiten. Mutter hat es auch nicht einfach im Büro. Du wirst uns doch keine Schande machen."

"Nein. Ja. Ich versprech's. Ich versprech's."

Unsere Große drückte mir zum Abschied fest die Hand. Sie versprach, sich mehr um ihre kleine Schwester zu kümmern. Ich versprach, zu ihr zu kommen, wenn ich Probleme hätte. Unsere Große sprintete zum Gebäude, in dem die Dusch- und Umkleideräume sind. Ich rannte aus dem Gelände des Sportforums raus. Rannte bis in Ännis "Roten Hirsch", wo ich drei rote Limonaden trank und Änni bei ihrer Arbeit hinter der Theke zusah. Es war viel Kundschaft da. Änni schenkte aus und hatte für jeden Fritz und jede Erna ein gutes Wort.


Wie ein Vogel aus dem Ei

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