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Am besten, ich fange mit dem Tag an, als Werner Branstner mit seinen Eltern nach R. zog. Ich war damals in der achten Klasse. Hatte soeben begonnen mir Gedanken zu machen über die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Ich meine nicht nur die der Anatomie. Darüber wusste ich längst Bescheid. Aus Büchern und was man so hört. Meine Eltern hätten sich lieber die Zunge rausgerissen, als dass sie mit mir über so was geredet hätten.

Ich kriegte mit, warum unsere Jungen immer stärkeren Zirkus veranstalteten. Sie lernten auf Händen laufen, rauchten während des Unterrichts, spuckten in alle Ecken und fanden alles, was ihnen gerade noch Spaß gemacht hatte, blöd und kindisch. Wenn Hanni Wenzlau nicht in der Nähe war, wurden sie wieder relativ normal. Bei Hanni Wenzlau war schon alles dran. Sie ging in unsere Klasse, war aber ein reichliches Jahr älter als wir, da sie mal hängen geblieben war. Sie trug als Erste Strumpfhosen und hochhackige Schuhe. Eines Tages, aus lauter Blödsinn, wie sie sagte, hatte Hanni einen Fingernagel lackiert. Eine Woche später glänzten alle ihre Fingernägel karminrot. Ein paar Tage danach lag auf ihren Lippen eine Schicht Metallicrosa, die Augenlider hatten dunkelblaue Schatten, die Brauen waren schwarz nachgezogen.

Wir anderen Mädchen waren restlos erledigt. Wir versuchten sie einzuholen. Ich war ein Spätstarter. Bevor ich aus den Blöcken kam, waren die andern schon im Ziel. Ich gewöhnte mir das Fußballspielen ab, begann mir Hals und Füße gründlicher zu waschen, auch abends die Zähne zu putzen, achtete auf saubere Fingernägel, ließ mir die Haare lang wachsen und hatte immer öfter ein Taschentuch und einen Kamm bei mir.

Ich will von dem Tag erzählen, als Branstners nach R. zogen und Werner am Morgen noch einmal in unsere Klasse kam, um sich zu verabschieden. Er hatte das schon einen Tag vorher getan. Wir hatten ihm ein Lied gesungen. Er hatte uns alles Gute gewünscht. Und wir ihm. Nun stand er noch mal vor uns. Sagte kein Wort. Stand nur da, als warte er auf etwas. Frau Paulsen, unsere Klassenlehrerin, der jede Minute, in der sich die Menschheit nicht mit Mathematik abgibt, sinnlos vertan erschien, wurde ungeduldig. Die Paulsen war Mitte dreißig. Sah wirklich noch einwandfrei aus. Mich erinnerte sie immer an ein herausgeputztes Pferd, das ich in meiner Zirkuszeit kennengelernt hatte. Ich war damals sechs Jahre alt. Wollte unbedingt Clown werden, über Eimer stolpern, im verschütteten Wasser herumplantschen und darüber lachen und weinen dürfen. Das war mein größter Wunsch. Der Zirkus stand bei uns in der Nähe. Bin jeden Tag hin. Mit und ohne Erlaubnis. War in den Tierställen und zu den Nachmittagsvorstellungen. Dort habe ich auch ein Pferd kennengelernt, an das mich die Paulsen erinnerte. Es war ein schönes Pferd, schlank und schwarz, und verstand sich zu bewegen. Es hieß Marquise de Pompadour. Hatte alle Tricks gut drauf und war verflucht eitel. Der Mann, der mit der Pompadour auftrat, hieß Paul. Er war ein unscheinbarer stiller Mensch, den man erst wahrnahm, wenn er sein Kostüm anhatte. Pferde gingen ihm über alles. Wenn er die Pompadour tätschelte und lobte, dass sie wieder alles gut gemacht hatte, und sich dankbar zeigte, war's in Ordnung, und sie war zu ertragen. Aber wehe, er hatte mal etwas anderes im Sinn, als ihr Zucker zu geben; dann fing das Biest an herumzuspringen, zu beißen und zu treten.

Nun, der Werner Branstner stand im Klassenzimmer und rührte sich nicht.

"Was gibt es denn noch?", fragte ihn Frau Paulsen. "Nichts", sagte Werner Branstner und sah uns alle böse an.

Ich kannte ihn seit dem zweiten Schuljahr. Er war mit seinen Eltern vom Dorf in die Stadt gezogen. So richtig zu Hause gefühlt in der Stadt hatte er sich wohl nie. In der Schule war er mittelmäßig, er war oft krank. Wenn er mal sprach, erzählte er von seinem Dorf Das waren Geschichten, mit denen wir Großstadtkinder nichts anzufangen wussten. Er war uns immer etwas fremd geblieben. Wie einer, der von so weit her kommt, dass man's sich gar nicht richtig vorstellen kann.

Wir haben nur einmal miteinander gesprochen. Während eines Schulsportfestes. Ich war am schlechtesten gesprungen, obwohl ich favorisiert war. Hatte zu Hause Ärger gehabt, und mir war nicht nach weiten Sprüngen zumute gewesen. Saß im Gras, hörte die Jubelschreie der anderen, fand das Leben ungeheuer schwer und anstrengend. Da stand der Werner Branstner vor mir und sagte "Du warst nicht schlecht. Wirklich nicht"

"Na danke", sagte ich ziemlich überrascht. "Die anderen waren nur besser, was."

Ich saß und rupfte Unmengen Gras. Er strich sich übers Kinn wie ein Alter über seinen Bart. Dann erzählte er mir eine Geschichte, die ich bis heute nicht vergessen habe. Sie spielte in seinem Dorf. Er erzählte sie wie über einen anderen Jungen. Aber er hat sich selbst gemeint. Das begriff ich an dem Tag, als er so allein im Klassenzimmer stand und uns böse ansah. Der Junge in seiner Geschichte hielt sich Tauben. Brieftauben. Wenn irgendjemand aus dem Dorf verreiste, gab er ihm eine Taube im Käfig mit. Am Reiseziel sollten die Leute der Taube eine Nachricht übergeben und sie freilassen. Sieben seiner besten Tauben gab der Junge den Leuten mit. Keine kehrte in den Schlag zurück. Keine Nachricht von "draußen" erreichte ihn. Da hat der Junge den Schlag über Nacht offen gelassen, obwohl er wusste, dass der Marder nur darauf wartete. Noch vorm nächsten Morgen ist er zum Schlag raufgestiegen und hat die zerrissenen Tiere gesehen.

Werner Branstner rührte sich nicht. Frau Paulsen fing an zu tänzeln, wie die Pompadour im Zirkus, bevor sie bissig wurde und auszuschlagen begann.

Irgendwie machte es mich fix und fertig, den Jungen so dastehen zu sehen. Dachte, ich muss verbrennen oder zerspringen. Seine Geschichte fiel mir ein. Mir wurde noch heißer.

Werner Branstner rannte aus dem Klassenzimmer. Die Tür stand offen. Die Schritte verhallten auf dem Gang. In die Stille hinein sagte die Paulsen, ich solle die Tür schließen, damit wir endlich ungestört weiterarbeiten könnten. In mir war eine furchtbare Angst, etwas zu verlieren. Etwas, für das man keinen Namen findet, das man vergessen hat, aber das noch immer da ist. Etwas, das man auf gar keinen Fall verlieren darf. Und zugleich spürte ich große Freude. Hoffnung auf Unbekanntes. Ich hatte Sehnsucht nach einem Etwas, was ich unbedingt gewinnen musste. Ich sagte ja schon, es war nur ein Gefühl. Aber damals wie heute verwirrt's mich total. Ich bin hoch und aus der Schule raus, so schnell ich konnte. Auf der Hauptstraße, mitten im Menschentrubel, habe ich Werner Branstner eingeholt. Er stand vorm Schaufenster einer Drogerie, die Stirn an die Scheibe gedrückt. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen.

Ich wollte ihm etwas sagen, zu seiner Geschichte, über sein Dorf, von mir, von unserer Stadt.

"Heulst du?", fragte ich. Das war nun wirklich das Dümmste, was ich sagen konnte.

Und weil's so dumm war, was ich gesagt hatte, fragte ich gleich noch mal: "Heulst du?"

"Das geht dich einen Dreck an."

Werner Branstner nahm nicht die Stirn vom Schaufenster. Ich fragte mich, ob er all das Zeug dahinter sah. War voller Angst, dass er mir davonrannte, ohne dass ich ihm sagen konnte, was ich ihm sagen wollte. Aber er rannte nicht davon. Wir standen vor diesem mit Vitaminpräparaten, Kräutersäften. Gesichtswassern und Watte voll gestopften Schaufenster. Hinter unsern Rücken hechelte die Stadt wie ein jagender großer Hund. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir dort standen.

Schließlich sagte Werner Branstner, immer noch mit der Stirn an der Schaufensterscheibe: "Dann mach's gut."

"Mach's gut", sagte ich. Sah ihm nicht hinterher, als er ging. Bin dann durch die Stadt gelaufen, bis der Unterricht vorüber war.


Wie ein Vogel aus dem Ei

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