Читать книгу Wie ein Vogel aus dem Ei - Gunter Preuß - Страница 5
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ОглавлениеÄnni hat mir geschrieben. Änni, die Jolly Eisenarm genannt wird, in Künstlerkreisen. Sie braucht ein Stück für ihr Theater. Sie ist gerade bei der Gründung. Jolly Eisenarms tragische Bühne (worauf mit Kunst gezeigt wird, wie das Leben so spielt). Sie schreibt, sie brauche ein Stück Leben. Eine richtige Geschichte. Eine, in der die Liebe die große Rolle spielt. Wie's nun mal im Leben so sei. Ich solle mich auf den Allerwertesten setzen und aufschreiben, was mir aus dem Herzen fließe. Ich, Conny Warmbrunn, im blühenden Alter von achtzehn Jahren, sei auf jeden Fall eins der vielen unentdeckten Talente, die das Leben bietet. Gezeichnet Jolly Eisenarm. Künstlerische Leiterin der tragischen Bühne.
Änni, das gute Herz. Ihr Theater wird wohl immer ein Traum bleiben. Aber's ist ein guter Traum. Und der gehört zu ihr wie ihr Nettogewicht von drei Zentnern und zwei Pfund. Das lässt sie sich nicht nehmen. Kein Gramm. Und so wird sie auch ihren Traum festhalten. Mit Augenzwinkern.
Änni hat mich aufgefordert, meine Geschichte aufzuschreiben. Aber was ganz anderes zwingt mich dazu. Ich könnte's auch in Musik fassen. Nur fehlen mir die Töne und was man so braucht. Und's würde auch zu ungenau. Malen könnte ich's auch. Wie damals mit Ludwig Zeller. Aber im Augenblick kann ich die richtigen Farben dazu nicht finden. Nun versuche ich's mit Schreiben. Da habe ich's dann schwarz auf weiß. Und's gibt kein Entschuldigen und Verstecken mehr. Ich habe die Verantwortung für mich und meine Geschichte. Bin endgültig raus aus dem Behütetsein. Ich fürchte mich ein bisschen davor. Aber so muss es sein.
Was ich schreibe, wird für Ännis Theater auf keinen Fall geeignet sein. Stattdessen werde ich es Ludwig Zeller schicken. Es wird nichts mehr ändern. Ich hätte's früher tun müssen. Ich hatte nicht den Mut. Und nicht die Kraft. Und die gehören nun mal zur Wahrheit wie das Leben zur Kunst. Das ist aus Jolly Eisenarms von mir gesammelten Worten. Jetzt, wo's mir ziemlich dreckig geht, wo ich weiß, dass es für immer aus ist mit Ludwig Zeller, habe ich beides. Ich habe das alles wohl erst durchmachen müssen, um zu begreifen. Nun werde ich alles aufs Papier bringen. Wie ich's gesehen habe und jetzt erkenne. Kunst bringt Klarheit, hat Änni mir immer wieder gesagt. Und Klarheit brauche ich jetzt. Fürs Weitergehen. Und weitergehen muss es. Das ist klar.
Bin vor ein paar Tagen in der Kleinstadt C. angekommen. Fühle mich wie ein Boot, das nicht vom Ufer loskommt. Das große Wasser lockt mich manchmal. Der Wind hat aufgefrischt. Mir fehlen nur noch die Segel. Bildlich gesehen das Ganze. Erst mal raus aus dem Hafen. Irgendwie werde ich den Kahn schon steuern. Ich brauche Segel. Unbedingt.
Wieder ist dieses Gefühl in mir. Es macht mich ganz krank. Und zugleich erfüllt's mich mit Hoffnung auf etwas ganz Großartiges, Einmaliges. Ich könnte schreien. Vor Schmerzen und Freude. Da ist eine Musik in mir, nie gehört. Töne, die Farben malen, nie gesehen. Farben, aus denen Gestalten wachsen, die wie ein Vogelschwarm dahinziehen und mich rufen und locken.
Und irgendwann werde ich wieder fliegen können, mitten in diesem Vogelschwarm, der mich jetzt ruft und lockt. Daran will ich glauben. Ganz fest.