Читать книгу Wie ein Vogel aus dem Ei - Gunter Preuß - Страница 11

7.

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Zu Hause hat's wegen meiner Theateruntauglichkeit keine Vorwürfe gegeben. Vater sagte: "Wir Warmbrunns sind praktischer Natur. Für uns muss eine Sache Hand und Fuß haben." Er nahm mich mit zum Pferderennen. Spendierte mir rote Limonade, Bockwurst und Nugattorte. Wir sahen uns die Pferde an. Er legte mir seine schwere Hand auf die Schulter und nickte zu den Pferden hin. Wir gingen am Flutkanal entlang nach Hause. Spielten uns mit den Füßen einen Stein zu. Vater war nicht so steif wie sonst. Nicht so zurückhaltend. Und auch nicht müde. Bevor wir die Treppen rauf sind, sagte er: "Meine Tochter." Nichts weiter. Ich verstand ihn. Hätte ihn gern umarmt und geküsst. Aber da stieg er schon die Treppen hoch.

Mutter meinte, das Theater sei nicht die Welt. Es sei nur eine Nachahmung. Die Welt sei viel größer. Es gebe viel für mich zu tun. Sie hat mich in die Arme genommen und davon gesprochen, wie sehr sie davon überzeugt sei, dass ich wie unsere Große meinen Weg gehen würde. Unsere Große schrieb mir einen Brief. Über Siege und Niederlagen. Dass man aus den Niederlagen Kraft für die Siege holen müsse. Daher seien die Niederlagen ganz wichtig. Aber zählen würden schließlich die Siege. Sie bestimmten die Entwicklung. Am Schluss des Briefes verabschiedete sie sich für eine längere Reise nach Bulgarien und wünschte ihrer kleinen Schwester alles Liebe und Gute. Ich war froh, so davongekommen zu sein.

Am schwersten hat's Änni getroffen. Sie konnte's nicht begreifen. Sie hat mich in die Arme genommen und geweint. Diese Riesenfrau. Jolly Eisenarm.

Ich war völlig fassungslos. Sagte immer nur: "Ist doch nicht so schlimm, Änni. Muss mir aus der Niederlage Kraft holen."

Zu Herrn Tröge sagte Änni: "An deiner Schule, Herr Fritz, sind ja feine Zustände! Wirklich feine Zustände. Das muss man laut sagen. Ihr lasst die größten Talente sausen. Feine Zustände!"

Herr Tröge hat beteuert, dass es nicht seine Schule sei. Im Übrigen wüssten die Leute dort, was sie täten. Er kaufte mir bei Änni eine Tafel Nussschokolade und sagte: "Geschieht wohl, dass man an einem Tag weder sich noch andre leiden mag, will nichts dir nach dem Herzen sein; sollt's in der Kunst wohl anders sein?" Danach trat er ab. Zum Stammtisch. Rief, er müsse jetzt einen Skat dreschen.

Änni hat gesagt, das werde sie feststellen, ob die Leute an dieser Schule wirklich wüssten, was sie täten. Am nächsten Tag ging sie in die Theaterhochschule. Verlangte einen Verantwortlichen zu sprechen. Irgendein Professor ließ sich finden. Änni hat ihn gefragt, ob er der Meinung sei, dass die Kunst auf so ein Talent, wie Conny Warmbrunn es sei, verzichten könne. Sie selbst sei nämlich nicht irgendeine, die von der Kunst nicht berührt und befruchtet worden wäre; sie sei eine vom Bau, Jolly Eisenarm. Und sie erzählte, wie sie ihren Fritz und all die Gewichte mit Leichtigkeit auf den Arm genommen hat. Der Professor verlor nicht die Nerven. Er suchte meine Akte heraus. Las vor, was der Mann, der mit Madagaskar telefoniert hatte, mir vorgelesen hatte. Da richtete Änni sich zu ihrer vollen Größe auf. Wie eine aus Hellas. Pallas Athene. So in der Richtung. Änni sagte zum Professor, dass er nun mal gut zuhören solle. Sie sagte, dass er auch zu denen gehöre, die schon damals keine Regung gezeigt hätten, als ihr Fritz auf der Bühne des Theaters von A. das silberne Tablett über die Bretter trug. Und wenn die Schule und der Professor so weitermachten, seien sie bald mit ihrer Kunst am Ende. Das behauptete sie. Jolly Eisenarm. Eine vom Bau. Dann hat sie sich verbeugt wie in ihrer besten Zeit. Ist mit wehenden Fahnen abgetreten. Ganz große Dame.

Schließlich hat sich auch Änni wieder beruhigt. Sie sagte zu mir, wenn man nur wolle, könne man den Menschen überall etwas von sich geben. Hinterm Tresen zu stehen sei auch eine Kunst für sich. Der "Rote Hirsch" sei auch eine Art Theater. Das Stück heiße: Wie das Leben so spielt. Und wenn ich nichts Besseres wüsste, könnte ich immer im "Roten Hirsch" anfangen.

Wie gesagt, ich habe nicht darunter gelitten und habe keine Komplexe bekommen, weil die Schauspielkunst mich nicht wollte. In der Schule hat's mich keiner spüren lassen, dass ich durchgefallen war. Nur Susanne konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen. Es hat mich nicht gekratzt, weil ich schon drüber weg war. Frau Paulsen sagte vor allen Schülern, sie sei jetzt wieder sehr zufrieden mit mir. Wenn ich so weitermache, stände meiner Delegierung zur Oberschule nichts im Wege. Es lief bei mir wieder ohne größere Probleme. Zu Hause und in der Schule. Wie's immer gelaufen war. Wie eine Straßenbahnfahrt. Von Station zu Station. Meistens dieselben Leute. Dieselben Gesichter. Die gleichen Gespräche. Der gleiche Geruch. Dieselben Farben. Die gleiche Geschwindigkeit. Bis zur Endhaltestelle. Nach einer kurzen Pause den Weg wieder zurück. Hin und her. Und jeder sagte mir, ich würde gut vorankommen. Dachte mir, die Leute müssen's ja wissen. Sie leben schon lange so. Bewegen sich auf eingefahrenen Gleisen.

Aber da war wieder dieses Gefühl in mir, diese Angst und diese Hoffnung. Diese Kraft, die in mir arbeitete und Unruhe schaffte. Dieses Etwas, für das ich kein passendes Wort fand, war wieder da. Am besten fand ich's in dem Gedicht ausgedrückt, das ich vor den Theaterleuten aufgesagt hatte. Oft war ich morgens lange vorm Weckerklingeln munter. Lag mit geschlossenen Augen und wartete. Und dann kamen mir diese Zeilen in den Sinn:

Ich bin aus den Nachtsorgen gekrochen

wie ein Vogel aus dem Ei.

Ich habe die Schale durchbrochen

und spaziere jetzt frei.

Das war wie Musik. Keine lauten Töne. Eine Melodie, die bleibt. Man kann sie nicht erklären. Aber man ist erfüllt von einer Ahnung. Als gäbe's eine Menge mehr als das, was man sieht, hört und schmeckt. Man fühlt's ganz deutlich und kann's doch nicht fassen und halten.

Die Beschäftigung mit der Schauspielkunst hatte mich abgelenkt. Nun war in mir wieder ein unendlicher Raum frei. Nur dieses Etwas bewegte sich darin. Und obwohl der Raum so groß war, stieß es mich immer wieder schmerzhaft an. Ich konnte mich nicht wehren. Hatte ja allen Leuten Besserung versprochen. Im Sommer, in den großen Ferien, wurde ich krank davon. Alle waren stolz auf mich. Ich hatte im Zeugnis nur Einsen gebracht. War zur Oberschule delegiert worden. Aber ich fühlte mich wie im Fieber. Lag beim schönsten Wetter nur in meinem Zimmer. Wartete. Dass die Schale durchbricht. Ich hatte furchtbar viel Zeit. Es gehört mit zum Scheußlichsten, wenn man furchtbar viel Zeit hat. Wenn man mit der Zeit nichts anfangen kann, beginnt sie einen zu quälen. Ich hatte schlimme Gedanken damals. Sie spannen mich ein. Stellte mir böse Dinge vor. Einen Weltuntergang nach dem anderen. Mal laut, mal leise. Aber sooft ich die Welt auch untergehen ließ, so oft tauchte sie wieder auf. Die Welt ging nicht unter. Das war gut so. Trotz allem.

Die Stadt war laut und voller Menschen. Ich hatte Sehnsucht nach ihnen. Oder nach einem. Wusste nicht, wohin, zu wem. Änni hatte ihren "Roten Hirsch" geschlossen und war in die Ferien auf die Krim gefahren. Vater war auf einem Qualifizierungslehrgang. Mutter kam spät von der Arbeit. Ihr Chef hatte Schwierigkeiten mit dem Plan und der Kooperation. Manchmal hörte ich Mutter in der Küche weinen. Ich wollte zu ihr. Wusste, sie wartete drauf. Aber ich lag und rührte mich nicht. Wartete selbst. Vielleicht auch auf sie. Unsere Große war mit ihren Kleinen beschäftigt. Irgendwelche Wettkämpfe standen bevor. Da war mit ihr nicht zu reden. Der Doktor weilte bei seinen Eltern in Thüringen. Die verwöhnten ihn mit Klößen und Topfbraten. Warfen unserer Großen vor, dass sie sich zu wenig um den Jungen kümmere. Er war ihnen zu mager und zu blass. Sie gewöhnten ihm wieder das Rauchen ab. Der Doktor war ein geduldiger Mensch. Wenn er einen mehr getrunken hatte, bezeichnete er sich als "Diener der Menschheit". Seine Leidenschaft war das Bohren in fremden Zähnen. Dabei war er nicht gerade behutsam. Ich war einmal bei ihm zur Behandlung. Dabei soll's auch bleiben.

Zu den Großeltern zog mich nichts. Wenn sie uns besuchten, schimpften sie, dass ich so wenig zu ihnen käme. Es war die Zeit des schießenden Unkrauts. Ihr Garten war groß. Mutter entschuldigte mich immer mit der großen Belastung in der Schule. Großvater sagte, er habe auch lesen, schreiben und rechnen gelernt. Aber er habe Zeit gefunden, seinem Großvater, der eine kleine Schlosserei hatte, zur Hand zu gehen. Großmutter sagte, die Jugend sei längst nicht mehr das, was sie mal war. Sie sei ohne moralischen Halt. Die Familie zähle für sie nichts mehr. Sie prophezeite schlimme Zeiten. Sie konnte einem Angst und Bange machen.

Die Jungen und Mädchen aus meiner Klasse waren irgendwo an der Ostsee oder im Gebirge. Ein paar von ihnen waren im Lager für Arbeit und Erholung zum Erdbeerenpflücken. Ich hätte mich gemeldet. Aber Susanne fuhr auch ins Lager. Sie hätte mich mit ihrem Albert Kreisler umgebracht. Fuhr aus reiner Notwehr nicht mit.

Eines Morgens klingelte es Sturm an der Wohnungstür. Es war noch ganz früh. Mutter war schon aus dem Haus. Ich lag im Bett. Ließ mich von der Zeit, die ich zu viel hatte, quälen. Versuchte in den Zustand des Selbstmitleids zu kommen. Das kann ganz angenehm sein. Das ist so eine Traurigkeit, die das Selbst bestätigt. Wissenschaftlich ausgedrückt. Alle Welt ist schlecht. Nur man selbst ist so gut, dass man sich einfach selbst umarmen muss. Seitdem ich weiß, wie's funktioniert, macht's mir nicht mehr die richtige Freude.

Ich lag, und es hörte nicht auf zu klingeln. Das hörte ich wie Signale aus diesem unendlichen Raum, in dem ich mich bewegte. Es war eigenartig. Ich wollte aufstehen und nachsehen, wer klingelte. Aber ich rührte mich nicht. Ich lag und wartete. Hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Meine Mutter schließt für gewöhnlich immer die Tür ab, sogar wenn sie nur mal auf die Toilette muss, die auf halber Treppe ist. Danach klinkt sie ein paar Mal, ob die Tür auch zu ist. Als hätte sie einen Schatz zu verbergen. Ein Psychologe hätte genügend Stoff, um daraus eine Neurose zu machen.

Es waren fremde Schritte, die ich in unserer Wohnung hörte. Ich war unheimlich gespannt. Es war wie in einem guten Krimi, wenn der Mörder sich nähert. Ich war's Opfer und konnte mich nicht rühren. Ich wollte mich auch gar nicht rühren. Wollt's passieren lassen. Endlich was passieren lassen. Die Schritte hörte ich aus jedem Zimmer. Sie klangen suchend. Unsicher. Dann hörte ich sie eine Ewigkeit nicht. Dachte schon, der in die Wohnung eingedrungen war, sei wieder weg. Erschrak darüber. Endlich hörte ich die Schritte wieder. Vor meiner Zimmertür. Ich sah auf die Klinke. Dachte: Nun mach schon auf, Mensch!

Als Erstes sah ich eine Hand. Und das war das Verwunderliche: Ich wusste sofort, wer's war, der jetzt vorsichtig ins Zimmer trat. Erkannte ihn an der Hand, obwohl ich sie nur gefühlt und nie bewusst gesehen hatte. Hans Wegener stand vor meinem Bett und sagte: "Du musst ruhig bleiben! Bleib ganz ruhig."

Ich war enttäuscht. Und doch habe ich mich gefreut. "Setz dich", sagte ich.

Hans blieb stehen. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Er sagte: "Bist du krank? Ich habe geklingelt wie ein Verrückter. Du liegst im Bett und rührst dich nicht."

"Weißt du, wie spät es ist?", fragte ich. "Da liegen normale Bürger noch im Bett.“

"Darf ich rauchen?", fragte er. Er ging zum Fenster, das immer offen stand. Steckte sich eine Zigarette an. Rauchte. War sehr nervös, der Junge. Die Zigarette war bald nass. Hans schimpfte. Zündete sich eine neue an. Sagte: "Wie spät ist es denn? Ich habe keine Uhr mehr. Sie ist kaputt. Das Zifferblatt. Ich will gar nicht wissen, wie spät es ist. Als ob's einem was nützt, wenn man weiß, wie spät es ist."

Wir schwiegen. Er schien vollauf mit seinem Rauchen beschäftigt. Ich dachte, der wird's nie lernen, und wenn er hundert Jahre alt wird. Ich bot ihm ein Bonbon an. Er lehnte's ab, als wär's Gift. Ich spürte, dass er's gar zu gern genommen hätte. Er hatte einfach nicht den Mut dazu.

"Warum bist du damals weggelaufen?", fragte Hans. Sah zum Fenster raus.

"Weiß nicht."

"Deine Adresse habe ich von der Theaterhochschule. Die wollten sie mir zuerst nicht geben. Sie fragten, ob ich mit dir verwandt sei."

"Was hast du geantwortet?"

Hans sah mich an. Der Junge sah aus, als würde er wieder stottern. Aber er stotterte nicht. Sagte: "Ich habe gesagt, es ist dringend. Unheimlich dringend. Ein Notfall."

Der Junge sah wirklich nicht gut aus. "Ein Notfall?", sagte ich.

"Ein Notfall." Hans rauchte, lachte und hustete. Ich wusste nicht, woran ich war. Ich sagte: "Und der wäre? Dein Notfall?"

Hans sagte: "Willst du eine Zigarette? Ich kann dir wirklich nichts Gutes anbieten."

"Danke", sagte ich. "Hab mir das Rauchen wieder abgewöhnt."

"Ach so", sagte Hans. "Entschuldige. Das konnte ich nicht wissen. Das tut mir Leid. Entschuldige."

Ich kann's nicht ausstehen, wenn sich jemand fortwährend entschuldigt. Je mehr er sich entschuldigt, umso schuldiger kommt man sich selbst vor. Ich sagte: "Ich mache mir nichts aus dem Rauchen. Wirklich nicht."

"Ich konnte es ja nicht wissen", sagte der Junge. "Also entschuldige."

"Der Notfall", sagte ich.

„Ja, der Notfall", sagte Hans. "Das habe ich nur so gesagt. Du verstehst."

Er sah keineswegs so aus, als ob er das nur so gesagt hätte. "Setz dich doch", sagte ich. "Ja. Danke", sagte er. Blieb aber am Fenster stehen. Wir schwiegen wieder. Über meinem Fenster auf der Dachrinne trippelten die Tauben. Der erste Sonnenstrahl fand in mein Zimmer. Es roch nach Bohnenkaffee und Schwefeldioxid. Die Stadt sang ihr Lied immer lauter.

"Das ist schön", sagte Hans. "Wenn so ein Tag anfangt. Die Stimmen sind noch zu unterscheiden. Man kann hören, wie sie sich rufen."

Ich war überrascht. Das alles hätte auch ich sagen können. Aber ich hatte es vergessen. Hans hat's mir wieder bewusst gemacht. Dafür war ich ihm dankbar. Hans sprach weiter: "Es ist, als ständen die Siebenmeilenstiefel neben dem Bett. Man brauchte nur hineinzusteigen. Mit einem Schritt wäre man aus allem raus."

„Ja", sagte ich. "Aus allem raus. Aber in was kommt man hinein, Hans? In was?"

Er schwieg. Warf die Zigarette aus dem Fenster. Drehte mir wieder den Rücken zu.

"Du", sagte ich vorsichtig. "Hans. Bist du inzwischen Werner Branstner geworden?"

Hätte ich gewusst, was ich mit meiner Frage anrichtete, hätte ich mir lieber die Zunge abgebissen. Hans drehte sich zu mir herum. Er hustete fürchterlich, obwohl er nicht rauchte. Er wollte was sagen. Aber er stotterte so schlimm, dass kein Wort zu verstehen war. Es war schlimm, wie er sich quälte, ein Wort herauszubringen. Bestimmt wollte er eine Menge sagen. Nicht ein Wort brachte er raus. Ich habe oft Leute gesehen, die etwas sagen wollten und nichts sagen konnten. Mir geht's auch manchmal so. Es ist, als hätte man das Sprechen verlernt. Gerade dann, wenn's drauf ankommt.

Ich konnte es nicht mit ansehen, wie er sich mehr und mehr verkrampfte. Ich sprang aus dem Bett. Zog mich mit einer Schnelligkeit an wie nie zuvor in meinem Leben. Fasste ihn an der Hand. Wir liefen raus aus der Wohnung. Aus dem Haus. Sind durch die Straßen gerannt, bis wir nicht mehr konnten. Liefen, bis wir aus der Stadt raus waren. Liefen, bis es Abend wurde. Waren irgendwo im Tagebaugebiet. Wir sprachen den ganzen Tag über nicht mehr miteinander. Ob's einer glaubt oder nicht, wir haben nicht einmal unsere Hände losgelassen. Wir unterhielten uns. Durch unsere Hände sozusagen. Mit Hans habe ich durch unsere Hände sprechen können. Ich weiß nicht, ob's verrückt ist. Weiß nur, dass es ging. Er hat mir Dinge gesagt, für die's keine Worte gibt. Und meine Hand hat auch eine Menge von mir erzählt. Ich spürte es deutlich. Fühlte mich leicht und gut.

Diesen Tag lang war's Morgen geblieben. Wir waren in die Siebenmeilenstiefel gestiegen und taten einen Schritt. Aber mit einem Schritt kommt man nicht weit genug weg. Und man kommt auch nicht aus allem raus. Heute weiß ich, dass es gut ist, dass man nicht aus allem rauskommt. Dann wäre man ständig auf der Flucht vor sich selbst. Es könnte nichts wachsen und bleiben. Damals war ich natürlich noch nicht so weise wie heute. Der Mensch wird eben nicht nur älter.

Es war dunkel geworden. Wir saßen am Rand eines riesigen Kessels. Hinter uns war auch so ein Kessel. Links und rechts auch. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen. Kein Tier, kein Baum, kein Strauch. Es gab keinen Wind. Keine Bewegung. Es gab nur diese Kessel. Und uns zwei.

Es war spät. Mir war's gleichgültig, dass sie zu Hause auf mich warteten. Das Zuhause, die Vergangenheit, das war alles weit weg. Gar nicht mehr wirklich. Wirklich waren diese Kessel um uns. Diese abgestorbene Landschaft. Dieses schwere blaue Licht. Diese Hitze. Der hängende Himmel. Ich spürte, wie ich mich wieder in diesem unendlichen Raum verlor. Es trieb mich weg. Weiter und weiter. Die Hand von Hans sagte mir, dass es ihm genauso ging. Ich schloss nur ganz fest die Augen.

"Du", sage Hans. "Schläfst du?"

"Nein", sagte ich. "Ich schlafe nicht."

Es begann zu regnen. Der Regen löschte das blaue Licht aus. Aber es blieb schwer um uns. Man sah den Regen nicht. Spürte ihn nur. Er war warm und derb.

"Irgendwie ist's unheimlich", sagte ich. "So fremd. Und doch so bekannt. Als hätte ich's vor Urzeiten genau so erlebt. Als hätte ich mit dir an diesem Kessel gesessen. Und nichts bewegte sich."

"Genau so", sagte Hans, "Mensch. Genau so. Erinnerst du dich, wie lange wir damals so gesessen haben? Was danach passiert ist?"

"Nein. Mir fällt nichts mehr ein. Es ist dunkel."

"Stell dir vor, es wäre irgendwas mit unserer Erde passiert", sagte Hans. "Irgendein Unglück. Wir sind die einzigen überlebenden Menschen."

"Es gibt nur noch uns und diese Kessel", sagte ich. Plötzlich graute es mir davor, aus allem raus zu sein. Ich brauchte jetzt dringend einen Menschen. Hans. Der Junge tat mir Leid. Ich selbst tat mir Leid. Fühlte mich scheußlich einsam. Wollte raus aus dieser Einsamkeit. Unbedingt. War ganz erpicht auf einen Karton. Wollte sehen, was darin ist. Ich erwartete irgendwas ganz Großartiges.

Ich drückte mich an den Jungen, der so steif saß. Legte meinen Kopf an seine Brust. Drückte seine Hand auf meine linke Brust.

"Mein Herz", sagte ich. "Kannst du's fühlen? Was fühlst du?"

Seine Hand war leicht und warm. Er sagte: "Ich fühle es schlagen. Wie eine Uhr."

Dann führte ich seine Hand unter meinen Pulli. Sie lag ohne Bewegung auf meiner Brust. Aber's musste sich was bewegen. Ich war gar nicht mehr gehemmt. Wollte nur raus aus dieser Einsamkeit. War froh, als Hans mich küsste. Überallhin küsste er mich. Auf die Stirn, die Wangen, das Kinn, die Nase, den Hals. Ganz flüchtig, als würde er sich dabei verbrennen. Nur auf den Mund küsste er mich nicht. Er hörte nicht wieder auf, mich zu küssen. Er tat mir weh. Aber's geschah wenigstens etwas. Nie habe ich mich mit Hans auf den Mund geküsst. Auch später, als er den Mut dazu gefunden hatte, habe ich's ihm nicht erlaubt. So richtig geküsst, so wie ich's mir vorstelle, habe ich noch keinen Mann.

Es regnete jetzt feiner. Es war schwarz um uns. Und so schwer. Die Kessel waren nicht mehr zu sehen. Aber Töne stiegen aus ihnen. Aus jedem Kessel ein anderer. Wie aus unendlichen Tiefen. Erdtöne. Wie unterdrückte Schreie. Ich fror.

"Dreh dich um", sagte ich zu dem Jungen. Ich zog alle Sachen aus. Legte mich auf die noch immer spröde Erde. "Hans", sagte ich. Als er mich so nackt daliegen sah, erschrak er. Sah aus, als wollte er weglaufen. Und dann sah er mich an wie ein Wunder. Das tat mir gut. Konnte gar nicht genug davon kriegen. Wie der Junge mich so ansah, wurde ich mir meines Körpers bewusst. Bisher war's für mich selbstverständlich gewesen, dass ich ein Mädchen bin. Aber begreifen tat ich's erst jetzt. Fühlte es bis in mein tiefstes Inneres. Es tat weh. Aber 's war ein Schmerz, der mir Lust bereitete.

"Streichle mich", sagte ich zu dem Jungen. Ich schloss die Augen. Endlich spürte ich seine Finger. Sie waren kalt und zitterten. Berührten meine Hände und Unterarme. Aber meine Haut reizte sie. Spürte's ganz deutlich. Es kam eine ganz andere Unruhe in sie. Sie wurden warm und beweglich. Entdeckten meinen Hals, die Beine, den Bauch, die Hüften, die Brüste. Ich hätte immer so liegen und diese von meiner Haut erregten Finger spüren können. Ich war wie ein Nest, in dem sich junge Vögel bewegen. Ich war ganz locker; aber die Beine drückte ich fest zusammen.

"Nein", sagte ich. "Nein." Ich ließ meine Augen geschlossen. Hörte Hans hastig atmen. Wie er seine Sachen auszog. Dann spürte ich derb seinen Körper auf mir. Mir war plötzlich alles gleichgültig. Ich empfand nichts. Nicht mal Schmerz. Dieser Junge tat mir wieder leid. Ich selbst tat mir leid.

Weiß nicht, wie lange ich unter ihm gelegen und stillgehalten habe. Sagte dann irgendwann "Hör auf! Hör jetzt auf." Wir zogen uns an und gingen in die Stadt zurück. Es war derselbe Weg und doch ein ganz anderer. Unsere Hände haben sich nicht gefunden. Wir sprachen nicht. Hans brachte mich vor unsere Haustür. In unserer Wohnstube brannte Licht.

"Du ..., ich ... ", druckste Hans herum. Der Junge war mächtig aufgeregt.

"Geh nach Hause", sagte ich. Hätte's nicht ertragen können, wenn er sich wieder zu entschuldigen begonnen hätte.

"Wa-ann sehen wir uns wie-wieder?", sagte Hans.

"Mal sehen", sagte ich. "Geh jetzt. Ich muss hoch."

Ich ließ ihn stehen. Lief ins Haus und Stufe für Stufe die Treppe hoch.

Mutter sah ganz verheult aus. Sie tat mir leid. "Ich habe es gewusst", sagte sie, als sie mich sah. "Mein Gott, ich habe es gewusst." Sie zog mich aufs Sofa, weinte und sagte: "Mädchen, was machst du nur für Sachen. Was machst du nur für Sachen." Sie wollte wissen, wer der Junge ist, wie lange wir uns schon kennen, was er für Eltern hat. Ich habe nichts sagen können. Mutter weinte noch mehr und sagte, wie ich sie getäuscht hätte. Alles wäre doch so gut gelaufen in letzter Zeit. Und nun das. Dabei drückte sie mich an sich und küsste mich. Sagte, dass wir Vater und vor allem unserer Großen nichts davon erzählen sollten. Plötzlich sah sie mich an und sagte: "Mädchen, Conny, und was ist, wenn du ein Kind bekommst?" Sie sagte, wie sie sich dann vor den Leuten schämen müsste und wie ich mir meinen Weg verbaut hätte. Auch wenn ich's mir wegmachen ließe. Mit vierzehn Jahren. Nein, sie wüsste nicht, wie sie das überleben solle.

Ich begriff sie nicht. Mir tat sie nur leid. Ich wünschte, ich hätte ihr das ersparen können. Irgendwie war ich leer. Sah noch immer die Kessel um mich herum. Wie der Regen das blaue Licht löschte. Vater musste wohl seinen Qualifizierungslehrgang in einer Kneipe verarbeiten. Manchmal wachte ich auf. Lauschte, ob ich die Töne aus den Kesseln hörte. Nur der Beton sprach. Mutter schlief fast im Sitzen. Sie hielt mich am Handgelenk fest. Ich glaube, sie war froh, dass ich wieder zu Hause war.


Wie ein Vogel aus dem Ei

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