Читать книгу Madame Bovary - Gustave Flaubert, Gustave Flaubert - Страница 12
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ОглавлениеDas Schloß, ein neuerer Bau im italienischen Stil, mit zwei nach vorn angebauten Flügeln und drei Freitreppen, erhob sich jenseits einer weiten Rasenfläche, auf der zwischen vereinzelten Gruppen hoher Bäume ein paar Kühe weideten. Verschiedenerlei Gebüsch – Rhododendron-, Flieder- und Schneeballsträucher – säumte üppig den gewundenen Kiesweg. Unter einer Brücke floß ein Bach. Ein paar verstreute, strohgedeckte Gebäude waren gerade noch im Abenddunst des von zwei sanft abfallenden, bewaldeten Hügeln begrenzten Wiesenlandes zu erkennen, und weiter hinten, im Gehölz, lagen in zwei gleichlaufenden Reihen die Wagenschuppen und Stallungen, noch erhaltene Reste des alten, zerstörten Schlosses.
Charles’ Wägelchen hielt vor der mittleren Freitreppe. Die Diener erschienen, und der Marquis trat heraus. Er bot der Gattin des Arztes den Arm und führte sie ins Vestibül.
Es war mit Marmorfliesen belegt und sehr hoch. Schritte und Stimmen hallten darin wider wie in einer Kirche. Dem Eingang gegenüber stieg eine gerade Treppe an, und linker Hand führte eine Galerie, die nach dem Garten ging, zum Billardsaal, aus dem das Klappern der Elfenbeinkugeln zu hören war. Als Emma auf dem Wege zum Salon durch den Billardsaal schritt, sah sie eine Anzahl Herren mit ernsten, würdevollen Gesichtern oder still lächelnd, das Kinn in hohe Krawatten vergraben, alle mit Ordensbändchen im Knopfloch, beim Spiel.
An dem dunklen Holzgetäfel der Wände hingen in vergoldeten Rahmen große Porträts, an deren unterem Rand in schwarzen Lettern Inschriften standen. Sie las: „Jean-Antoine d’Andervilliers d’Yverbonville, Graf de la Vaubyessard und Baron de la Fresnaye, gefallen in der Schlacht von Coutras am 20. Oktober 1587.“ Und auf einem anderen: „Jean-Antoine-Henry-Guy d’Andervilliers de la Vaubyessard, Admiral von Frankreich und Ritter des Sankt-Michael-Ordens, verwundet im Treffen von La Hougue-Saint-Vaast am 29. Mai 1692, gestorben zu Vaubyessard am 23. Januar 1693.“ Die dann noch folgenden waren kaum zu erkennen, weil das Licht der Lampen nur auf das grüne Tuch des Billardtisches fiel und den übrigen Raum im Halbdunkel ließ. Nur die feinen Brüche und Sprünge im Firnis der Leinwand glänzten in dem schwachen Widerschein, und hier und da trat eine hellere Stelle aus den großen, schwarzen, goldumrahmten Vierecken hervor: eine blasse Stirn, zwei Augen, die einen anblickten, eine Allongeperücke, die in Locken über eine puderbestäubte, rote Rockschulter fiel, oder die Schnalle eines Kniebands über einer prallen Wade.
Der Marquis öffnete die Tür zum Salon. Eine der Damen – die Schloßherrin selbst – erhob sich, kam Emma entgegen, bat sie, neben ihr auf einer Causeuse Platz zu nehmen, und begann so freundschaftlich mit ihr zu plaudern, als wären sie alte Bekannte. Sie war eine Frau von etwa vierzig Jahren, mit schönen Schultern und einer Adlernase. Ihre Art zu sprechen war etwas schleppend. Sie trug über dem kastanienbraunen Haar ein einfaches Spitzentuch, das dreieckig in den Nacken fiel. Neben ihr auf einem hochlehnigen Stuhl saß eine junge Blondine. Ein paar Herren mit kleinen Blumen im Knopfloch plauderten mit den Damen, die um den Kamin saßen.
Um sieben Uhr ging man zu Tisch. Die Herren, die in der Überzahl waren, nahmen im Vestibül am ersten Tisch Platz und die Damen mit dem Marquis und der Marquise am zweiten im Speisesaal.
Gleich beim Eintreten fühlte sich Emma von lauer Luft umfangen, in der sich der Duft von Blumen und feiner Tischwäsche mit Braten- und Trüffelgeruch mischte. Die Flammen der Kerzen in den Kandelabern züngelten aus den glockenförmigen Haltern hervor, und die geschliffenen, von der Wärme beschlagenen Kristalle warfen sich matte Strahlen zu. Die ganze Tafel entlang reihten sich Blumensträuße aneinander, und auf den breitrandigen Tellern standen, in der Form von Bischofsmützen gefaltet, die Mundtücher, jedes mit einem ovalen Brötchen zwischen den beiden Zipfeln. Die roten Scheren der Hummern ragten über den Rand der Schüsseln hinaus. Üppige Früchte türmten sich auf Moos in durchbrochenen Körben. Die gebratenen Wachteln waren mit ihren Federn verziert. Leckere Düfte stiegen auf, und inmitten all der Herrlichkeit bewegte sich mit der ernsten Würde eines Richters der Haushofmeister, in Seidehstrümpfen, Kniehosen, weißer Krawatte und Jabot, reichte zwischen den Schultern der Gäste hindurch die kunstgerecht zerlegten Braten und praktizierte mit geschicktem Schwung seines Löffels jedem das Stück auf den Teller, das er sich ausgesucht hatte. Von dem mächtigen, mit Kupferstäben vergitterten Porzellanofen blickte die Statue einer bis zum Kinn verhüllten weiblichen Gestalt regungslos auf die Tafelnden herab.
Am oberen Ende der Tafel, ganz allein unter all den Frauen, saß, über seinen gefüllten Teller gebeugt, ein Greis, dem man wie einem kleinen Kind eine Serviette um den Hals geknotet hatte und dem die Sauce vom Munde tröpfelte. Seine Augen waren rot unterlaufen, und ein mit schwarzem Band umwickelter kleiner Zopf hing ihm am Hinterkopf. Das war der Schwiegervater des Marquis, der alte Herzog de Laverdière, ehemals Busenfreund des Grafen d’Artois in der Zeit der großen Jagden auf Vaudreuil beim Marquis de Conflans und, wie gemunkelt wurde, Geliebter der Königin Marie-Antoinette als Nachfolger des Herrn de Coigny und Vorgänger des Herzogs von Lauzun. Er hatte ein wüstes Leben hinter sich, voller Skandale, Duelle, Wetten und Entführungen. Er hatte sein Vermögen verschleudert und war der Schrecken seiner ganzen Familie gewesen. Ein hinter seinem Stuhl stehender Diener rief ihm laut die Namen der Gerichte ins Ohr, auf die er lallend mit dem Finger wies; und Emmas Blicke kehrten unwillkürlich immer wieder zu dem alten Mann mit den hängenden Lippen zurück wie zu etwas ganz Außerordentlichem und Ehrfurchtgebietendem. Er hatte am Hof gelebt und im Bett einer Königin geschlafen!
Es wurde eisgekühlter Champagner eingeschenkt. Emma lief ein prickelnder Schauer über die Haut, als sie das kalte Getränk im Munde spürte. Sie hatte noch nie im Leben Granatäpfel gesehen und noch nie Ananas gegessen. Sogar der Puderzucker erschien ihr weißer und feiner als anderswo.
Nach der Tafel begaben sich die Damen auf ihre Zimmer, um sich zum Ball umzukleiden.
Emma machte mit peinlicher Sorgfalt Toilette wie eine Schauspielerin vor ihrem ersten Auftreten. Sie ordnete das Haar nach den Ratschlägen des Friseurs und schlüpfte dann in ihr Barègekleid, das auf dem Bett ausgebreitet lag.
Charles war die Hose um den Bauch zu eng.
„Und die Stege werden mich beim Tanzen stören“, sagte er.
„Beim Tanzen?“ wiederholte Emma.
„Ja!“
„Du bist wohl nicht gescheit! Man würde dich auslachen. Bleib bloß auf deinem Platz. Außerdem schickt sich das besser für einen Arzt“, fügte sie hinzu.
Charles schwieg. Er ging im Zimmer hin und her und wartete, bis Emma fertig angekleidet war.
Er sah, hinter ihr stehenbleibend, zwischen den zwei brennenden Kerzen ihr Bild im Spiegel. Ihre schwarzen Augen schienen noch schwärzer als sonst. Ihr glatt gescheiteltes, nach den Ohren zu leicht gewelltes Haar schimmerte bläulich, und in ihrem Chignon zitterte an lockerem Stengel eine Rose mit künstlichen Tauperlen in den Blättern. Das Kleid war matt safranfarben und durch drei Sträußchen von Moosrosen mit etwas Grün belebt.
Charles küßte sie von hinten auf die Schulter.
„Laß mich!“ wehrte sie ab. „Du zerknüllst mir ja alles.“
Die ersten Klänge der Geigen und Hörner drangen herauf. Emma stieg die Treppe hinab. Sie mußte an sich halten, daß sie nicht rannte.
Die Quadrille hatte bereits begonnen. Alles strömte herbei und drängte sich. Emma setzte sich unweit der Tür auf eine kleine Polsterbank.
Als der Kontertanz zu Ende war, leerte sich das Parkett bis auf die Gruppen der Herren, die im Stehen plauderten, und die Diener in Livree, die große Platten herbeitrugen. Die Reihe der sitzenden Damen entlang bewegten sich die bemalten Fächer auf und nieder. Blumensträuße hoben sich vor lächelnde Gesichter, und Riechfläschchen mit Goldstöpseln funkelten in halbgeöffneten Händen, deren weiße Handschuhe die Form der Fingernägel erkennen ließen und das Fleisch an den Handgelenken einschnürten. Die Spitzengarnituren wogten an den Miedern, die Diamantbroschen glitzerten an den Busen, die medaillongeschmückten Armbänder klirrten an den nackten Armen. Im Haar, das die Damen alle glatt anliegend und im Nacken geknotet trugen, prangten Kränze, Sträußchen oder kleine Zweige von Vergißmeinnicht, Jasmin, Granatblüten, Ähren und Kornblumen. Die mit gelangweilten Mienen friedlich an den Wänden sitzenden Mütter trugen rote Turbane.
Das Herz klopfte Emma ein wenig, als sie, von ihrem Tänzer an den Fingerspitzen geführt, sich in die Reihe stellte und auf den ersten Bogenstrich wartete. Aber bald schwand die Aufregung, und sich nach dem Takt der Musik wiegend, glitt sie mit leichtem Neigen des Kopfes dahin. Manchmal, wenn die anderen Instrumente schwiegen und nur die Geige allein gewisse zarte Passagen spielte, flog ein Lächeln um ihre Lippen.
Es war in diesen Augenblicken so still, daß man von den Spieltischen nebenan das helle Klimpern der Goldstücke hören konnte; und dann setzten mit einemmal alle Instrumente wieder ein. Das Horn schmetterte, die Füße nahmen den Takt wieder auf, und die Röcke bauschten sich und rauschten. Die Hände faßten einander und ließen sich wieder los. Dieselben Augen, die eben noch scheu niedergeblickt hatten, versenkten sich jetzt in ein anderes Augenpaar.
Einige Herren zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahren – etwa fünfzehn an der Zahl –, die unter die Tanzenden verstreut waren oder plaudernd in den Türnischen standen, stachen, obwohl sie sich in Kleidung, Gestalt und Alter voneinander unterschieden, durch eine gewisse familiäre Zwanglosigkeit von der übrigen Menge ab.
Ihre Fracks schienen besser gearbeitet und aus weicherem Tuch zu sein als die der anderen und ihre an den Schläfen gewellten Haare von feineren Pomaden zu glänzen. Sie hatten den Teint des Reichtums, jene weiße Hautfarbe, die blasses Porzellan, schimmernde Seide und feinpolierte Möbel besonders zur Wirkung kommen läßt und die durch den geregelten Genuß erlesener Speisen rein erhalten wird. Ihr Hals bewegte sich frei über niedrigen Krawatten. Ihre langen Favoris fielen auf Umlegekragen herab. Sie wischten sich den Mund mit Taschentüchern, in die große Monogramme gestickt waren und die einen angenehmen Duft ausströmten. Diejenigen unter ihnen, die schon zu altern anfingen, sahen noch jugendlich aus, während den Gesichtern der Jüngeren schon eine gewisse Reife eigen war. In ihren gleichmütigen Blicken drückte sich die Ruhe von Menschen aus, die in der Lage sind, tagtäglich ihren Neigungen und Wünschen nachzukommen, und hinter ihren verbindlichen Manieren war jene gewisse Brutalität zu spüren, welche die Beherrschung ziemlich leichter Künste mit sich bringt, in denen die Kraft sich ausgeben und die Eitelkeit sich genügen kann: die Führung von Rassepferden und der Umgang mit käuflichen Frauen.
Drei Schritte von Emma entfernt plauderte ein Kavalier in blauem Frack mit einer blassen jungen Dame, die einen Perlenschmuck trug, über Italien. Sie sprachen rühmend von den mächtigen Säulen der Peterskirche, von Tivoli, vom Vesuv, von Castellamare, von den Cascinen, von den Rosen in Genua und vom Kolosseum bei Mondschein. Mit dem anderen Ohr lauschte Emma einer Unterhaltung, in der lauter Ausdrücke vorkamen, die sie nicht verstand. Man umringte einen noch ganz jungen Mann, der vorige Woche in England „Miß Arabella“ und „Romulus“ geschlagen und durch einen famosen Grabensprung zweitausend Louisdors gewonnen hatte. Ein anderer klagte darüber, daß seine Gäule Fett ansetzten, und ein dritter über einen Druckfehler, durch den der Name seines Pferdes völlig entstellt worden sei.
Die Luft im Ballsaal war drückend, die Beleuchtung wurde fahler. Man verzog sich ins Billardzimmer. Ein Diener stieg auf einen Stuhl und zerbrach zwei Fensterscheiben. Als Frau Bovary beim Klirren der Scherben den Kopf wandte, sah sie, daß sich von draußen, vom Garten her, Bauerngesichter an die Scheiben preßten und hereinglotzten. Dabei stieg plötzlich die Erinnerung an Bertaux in ihr auf. Sie sah wieder den Hof mit der schlammigen Mistgrube, ihren Vater im Arbeitskittel unter den Apfelbäumen und auch sich selbst, ganz wie einst, wie sie in der Milchkammer mit den Fingern die Milch in den Schüsseln abrahmte. Aber im Strahlenglanz der gegenwärtigen Stunde verblich die eben noch so klare Erinnerung an ihr früheres Leben schnell wieder, und fast zweifelte sie, es je gelebt zu haben. Hier, hier war sie, und über alles, was außerhalb dieses Ballsaales lag, war Schatten gebreitet. Sie schlürfte ein Maraschino-Eis, das sie in einer vergoldeten Silbermuschel in der linken Hand hielt, und schloß die Augen halb, den Löffel zwischen den Zähnen.
Neben ihr ließ eine Dame ihren Fächer fallen. Ein Tänzer ging vorüber.
„Würden Sie bitte so freundlich sein, mein Herr“, sagte die Dame, „mir meinen Fächer aufzuheben, der mir hinter das Sofa gefallen ist!“
Der Herr bückte sich, und während er seinen Arm ausstreckte, sah Emma, wie die Hand der jungen Dame etwas Weißes, dreieckig Zusammengefaltetes in seinen Hut fallen ließ. Der Herr hob den Fächer auf und reichte ihn ehrerbietig der Dame. Sie dankte ihm mit einem leichten Neigen des Kopfes und barg schnell das Gesicht in ihrem Blumenstrauß.
Nach der Abendtafel, bei der es viele Sorten Wein aus Spanien und vom Rhein, Krebs- und Mandelmilchsuppen, Trafalgarpudding und kaltes Fleisch verschiedenster Art in zitterndem Gelee gab, begannen die Wagen einer nach dem andern abzufahren. Wenn man den Musselinvorhang am Fenster ein wenig beiseite schob, konnte man die Laternenlichter im Dunkel dahingleiten sehen. Die Polsterbänke leerten sich. Einige Spieler hielten noch an den Tischen aus. Die Musikanten kühlten sich die Fingerspitzen an der Zunge; Charles stand mit dem Rücken gegen eine Tür gelehnt und schlief schon halb.
Um drei Uhr morgens begann der Kotillon. Emma konnte nicht Walzer tanzen. Aber alle Welt tanzte Walzer, selbst Fräulein Andervilliers und die Marquise. Es waren jetzt nur noch die Gäste da, die im Schloß übernachten sollten, etwa ein Dutzend Personen.
Einer der Walzertänzer, der allgemein nur „Vicomte“ genannt wurde – die weit ausgeschnittene Weste saß ihm wie angegossen –, kam nun schon zum zweitenmal, um Frau Bovary aufzufordern, und versicherte ihr, er werde sie schon richtig führen und alles würde gut gehen.
Sie begannen langsam, tanzten dann schneller. Erst drehten sie sich, dann drehte sich alles um sie her: die Lichter, die Möbel, die Wände, das Parkett – eine einzige kreisende Scheibe. Als sie an der Tür vorbeischwebten, bauschte sich Emmas Ballkleid und legte sich um die Hose ihres Tänzers. Ihre Beine schoben sich ineinander. Er blickte auf sie herab, sie schlug die Augen zu ihm auf. Ein Schwindel ergriff sie; sie blieb stehen. Dann ging es weiter, und der Vicomte zog sie nun noch rascher mit sich fort und verschwand mit ihr bis ans Ende der Galerie, wo sie, ganz außer Atem, dem Umsinken nahe, einen Augenblick den Kopf an seine Brust legte. Dann führte er sie, immer noch tanzend, aber jetzt langsamer, an ihren Platz zurück. Sie lehnte sich gegen die Wand und hielt die Hand vor die Augen.
Als sie die Augen wieder aufschlug, saß in der Mitte des Saales eine Dame auf einem Taburett, und drei der Tänzer knieten vor ihr. Sie wählte den Vicomte, und von neuem setzte die Geige ein.
Alle schauten auf das tanzende Paar, das immer wieder vorbeiglitt – sie, regungslos in ihrer Haltung, das Kinn ein wenig gesenkt, er, immer in der nämlichen Pose, mit hohlem Kreuz, den Ellbogen vorgebogen, den Mund vorgeschoben. Die konnte Walzer tanzen! Sie tanzten so lange, daß es den andern langweilig wurde.
Man plauderte noch ein paar Minuten, sagte sich dann „Gute Nacht“ oder vielmehr „Guten Morgen“ und ging schlafen.
Charles schleppte sich mühsam am Treppengeländer hinauf. Er hatte sich „die Beine in den Bauch gestanden“. Fünf geschlagene Stunden hatte er damit verbracht, an den Spieltischen beim Whist zuzuschauen, ohne das geringste davon zu verstehen. Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung zog er sich jetzt seine Stiefel aus.
Emma nahm ein Tuch um die Schultern, öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus.
Die Nacht war schwarz. Ein paar Regentropfen fielen. Sie atmete den feuchten Wind ein, der ihr die Augenlider kühlte. Die Ballmusik summte ihr noch in den Ohren, und sie suchte sich mit aller Gewalt wach zu halten, um noch jede Minute dieses traumhaft glanzvollen Erlebens auszukosten, das nun gleich wieder enden sollte.
Der Morgen graute. Sie schaute lange nach den Fenstern gegenüber und versuchte zu erraten, wo wohl die einzelnen schliefen, die ihr am Abend zuvor aufgefallen waren. Sie hätte gern von dem Leben dieser Leute erfahren, in dieses Leben eindringen und darin aufgehen mögen.
Schließlich zitterte sie vor Kälte. Sie zog sich aus und kroch unter die Decken, dicht an Charles heran, der schon schlief.
Zum Frühstück fanden sich viele Leute ein. Es dauerte jedoch nur zehn Minuten, und zu Charles’ Verwunderung wurde kein Likör gereicht. Dann sammelte das junge Fräulein d’Andervilliers die Reste der Kuchenbrötchen in einem Korb, um sie den Schwänen auf dem Schloßteich zu bringen, und die Gesellschaft begab sich in das Gewächshaus, wo sich seltsame, struppig behaarte Pflanzen pyramidenförmig unter hängenden Schalen türmten, aus denen wie aus übervollen Schlangennestern lange grüne Ranken ineinander verknäult herabhingen. Ganz am Ende gelangte man zur Orangerie, die, mit einem Glasdach gedeckt, zu den Wirtschaftsgebäuden führte.
Um der jungen Frau ein Vergnügen zu machen, führte sie der Marquis noch durch die Ställe. Über den korbförmigen Raufen waren Porzellanschilder angebracht, auf denen in schwarzer Schrift die Namen der einzelnen Pferde standen. Jedes der Tiere stampfte, wenn man an seinem Stand vorbeikam und mit der Zunge schnalzte. Die Dielen in der Geschirrkammer glänzten wie das Parkett eines Salons. In der Mitte hingen die Wagengeschirre an drehbaren Pfosten. Kandaren, Trensen, Kinnketten, Steigbügel und Peitschen reihten sich wohlgeordnet an den Wänden.
Charles war inzwischen nach vorn gegangen und hatte einen Stallburschen gebeten, sein Wägelchen anzuspannen. Es fuhr an der Freitreppe vor, und nachdem alle Gepäckstücke verstaut waren, verabschiedete sich das Ehepaar Bovary mit vielem Dank vom Marquis und von der Marquise, und dann ging es wieder heim nach Tostes.
Emma sah schweigend zu, wie sich die Räder drehten. Charles saß am äußersten Ende des Bänkchens und kutschierte mit abgespreizten Ellbogen. Das kleine Pferd lief im Zuckeltrab dahin in seiner Deichselgabel, die ihm viel zu weit war. Die schlaffen Zügel tanzten auf seiner Kruppe und wurden naß von Schaum. Der hinten aufgeschnallte Koffer schlug in regelmäßigen Stößen gegen den Wagenkasten.
Auf den Höhen von Thibourville überquerten plötzlich ein paar Reiter lachend und die Zigarren im Mund vor ihnen die Straße. Emma glaubte in einem von ihnen den Vicomte zu erkennen und schaute, sich umwendend, ihnen nach, sah aber nur noch die im Trab oder Galopp sich ungleich auf und nieder bewegenden Umrisse der Reiter am Horizont.
Eine Viertelmeile weiter mußten sie haltmachen, um die zerrissene Kinnkette mit einer Schnur festzubinden.
Als Charles jedoch das ganze Geschirr noch einmal nachsah, bemerkte er zwischen den Beinen seines Pferdes einen Gegenstand am Boden. Er hob ihn auf: es war eine Zigarrentasche, ganz mit grüner Seide bestickt und mit einem Wappen in der Mitte.
„Es sind sogar noch zwei Zigarren drin“, sagte er, „die sind gut für heute abend nach dem Essen.“
„Rauchst du denn überhaupt?“ fragte sie.
„Hie und da, wenn es sich so macht.“
Er steckte seinen Fund in die Tasche und gab seinem Klepper die Peitsche.
Als sie zu Hause ankamen, war das Essen noch nicht fertig. Frau Bovary regte sich darüber auf, und Nastasie gab eine patzige Antwort.
„Raus!“ rief Emma. „Was erlauben Sie sich? Sie sind entlassen!“
Es gab Zwiebelsuppe und ein Stück Kalbfleisch in Sauerampfer. Charles saß seiner Frau gegenüber und rieb sich vergnügt die Hände.
„Schön, wieder daheim zu sein!“
Man hörte Nastasie in der Küche weinen. Er hatte das arme Ding gern. Sie hatte ihm so manchen Abend während seiner Witwerschaft Gesellschaft geleistet; sie war seine erste Patientin gewesen, seine älteste Bekannte hier in der Gegend.
„Hast du ihr wirklich im Ernst gekündigt?“ fragte er schließlich.
„Natürlich. Wer will mich daran hindern?“ versetzte sie.
Nach Tisch wärmten sie sich in der Küche, während das Schlafzimmer zurechtgemacht wurde. Charles zündete sich eine der Zigarren an. Er rauchte mit vorgeschobenen Lippen, spuckte alle Augenblicke aus und bog sich bei jedem Zug zurück.
„Dir wird noch übel werden“, meinte Emma verächtlich.
Er legte seine Zigarre weg und lief schnell an die Pumpe, wo er gierig ein Glas Wasser trank. Emma nahm die Zigarrentasche und warf sie rasch in einen Winkel des Schrankes.
Der nächste Tag wurde ihr unerträglich lang. Sie ging in ihrem Gärtchen spazieren, immer wieder dieselben Wege auf und ab, blieb bald vor den Blumenbeeten stehen, bald vor dem Obstspalier, bald vor dem Gipspfarrer, und alle diese ihr so wohlbekannten alten Dinge schauten sie so sonderbar fremd an. Wie fern schien der Ball schon zurückzuliegen! Was war es denn, was den vorgestrigen Morgen und den heutigen Abend so weit voneinander trennte? Diese Reise nach Vaubyessard hatte einen Riß in ihrem Leben aufgetan, wie im Gebirge manchmal ein Gewittersturm in einer einzigen Nacht tiefe Spalten aufreißt. Aber sie fügte sich in ihr Schicksal. Liebevoll andächtig barg sie ihren ganzen schönen Ballstaat im Schrank, mitsamt den Atlasschuhen, deren Sohlen vom Parkettwachs eine bräunliche Politur bekommen hatten. Ihrem Herzen war es ähnlich ergangen: von der Berührung mit dem Reichtum war etwas haftengeblieben, das nie wieder wegzubringen war.
Die Erinnerung an diesen Ball wurde nun für Emma zu einer Art Weihedienst. Jeden Mittwoch beim Aufwachen sagte sie zu sich: Heut vor acht Tagen – vor vierzehn Tagen – vor drei Wochen – war ich dort! Nach und nach verwischten sich in ihrem Gedächtnis die einzelnen Gesichter, sie vergaß die Melodien der Kontertänze, sie sah die Livreen der Lakaien und die verschiedenen Räume nicht mehr so deutlich vor sich. Die Einzelheiten schwanden, aber die Sehnsucht blieb.